Der Roman „Kruso“ von Lutz Seiler erreicht seinen ersten
Höhepunkt in einem der Kapitel, in denen der Restaurantbetrieb „Zum Klausner“ auf
der Insel Hiddensee (DDR, im Sommer 1989) beschrieben wird. Der Leser erfährt
dies aus der Perspektive der Küche, des Abwaschbeckens, des Tresens und der
vollbesetzten Terrasse, wo die Köche, Kellner und Geschirrspüler in der
feuchten Hitze dem Andrang kaum standhalten können.
Seiler beschreibt in wachsender Intensität die Steigerung
des Betriebs zwischen 12 und 14 Uhr. Im Trubel der absoluten Stoßzeit beginnt
die noch sehr geheimnisvolle Figur Kruso ein Gedicht zu rezitieren. Ed, der neue
Geschirrspüler und Erzähler, versteht zunächst „nur einzelne Worte, die sich
wiederholen, es waren die Worte ´Mann´ und ´Meer´.“
Kruso fährt fort: „Am Hochried vorbei, am Niedermoor vorbei,
zieht das Boot nach dem Meer.“ In der Küche wird es still, dann fallen die beiden
(übrigens in Literatur und Soziologie promovierten) Kellner ein: „Am Hochried
vorbei, am Niedermoor vorbei, zieht das Boot nach dem Meer. Zieht mit dem
ziehenden Mond das Boot nach dem Meer…“, und die Frau hinter der Theke „mit
ihrer dunklen, wunderbar singenden Stimme: ´So sind sie Gefährten zum Meer, das
Boot, der Mond und der Mann…“. Der Koch und sein Gehilfe schließen den Reigen: „Warum
ziehen der Mond und der Mann zu zweit so bereit nach dem Meer, so bereit nach
dem Meer!“
Chris, der dritte Kellner, „brüllte ´So bereit nach dem Meer!´
und umarmte Kruso, der dabei nahezu unbewegt blieb, was nicht eigentlich
abweisend oder unnatürlich wirkte. Es entsprach nur der Würde des Gedichts, das
sie gemeinsam vorgetragen, offensichtlich eine Art Hymne des Klausners, ´unser
Heiliges´, wie Kruso später noch öfter erklärte“ (S. 96f.).
Diese surreal wirkende Szene lässt im Kontext des aus
merkwürdigen festlandfernen Figuren zusammengesetzten Personals, das sich als
Mannschaft eines Schiffes versteht, das am Rande der DDR und am Rande der Zeit
(1989!) ankert, durchaus ihren Sinn erahnen. Aber so weit bin ich noch nicht in
dem Buch.
Paul van Ostaijen |
Vorläufig bleibt die Überraschung der Kapitelüberschrift auf
Seite 91: „Warum ziehen der Mond und der Mann“ – was soll das hier, dachte ich –
und die Freude, dass die deutsche Übersetzung von Paul van Ostaijens „Melopee“
nun bei hunderttausend deutschen Lesern (das ist das Minimum beim Buchpreis!) bekannt
wird.
Nachbemerkung: Der Rezensent des ORF findet, dass die Szene
etwas Musicalhaftes hat. Vielleicht hat er wie ich an den magischen Song „Everything
is Food“ aus Robert Altmans Film „Popeye“ (1980) gedacht, den ich aus diesem
Anlass hier endlich einmal zeigen kann:
Das ist ja ein wunderbares Gedicht! Ist es in (vollständiger) deutscher Übersetzung in irgendeiner Sammlung erhältlich?
AntwortenLöschenJa, in Paul van Ostaijen, Poesie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1966.
AntwortenLöschenIm übrigen siehe den Beitrag zum deutschen Text , den ich heute in mein Blog gesetzt habe.
da kommt richtig Freude auf, wenn man beim lesen die Frage zu beantworten versucht, was das denn für ein Gedicht ist. Es kam mir irgendwo schon bekannt vor. Zu danken habe ich auf jedenfall für den link zum Popeye. So eine Bereicherung. Vielen Dank!
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