Heute erscheint die niederländische Ausgabe des Romans „Bo“ (2013) von Rainer Merkel. „Bo“ ist einer der Romane, die als „Jugendbuch“ annonciert werden, aber mit diesem Label die verdiente Aufmerksamkeit bei „Erwachsenen“ verlieren könnten. Es ist ein tolles, spannendes, sehr dickes (fast 700 Seiten!) und poetologisch hochinteressantes Buch.
Ich bin nicht einer jener Didaktiker, die fröhlich
behaupten, zwischen Jugendromanen und Erwachsenenbelletristik gebe es
prinzipiell keinen Unterschied. Doch, den gibt es, wenn man die Bücher mal nach
sprachlicher Komplexität, Kunstcharakter oder penetrantem moralistischen und
pädagogischen Impetus sortiert. Den deutschen Jugendbuchpreis gewinnen fast
immer die moralinsauren Bücher, denen beim Aufschlagen sofort der Geruch von
Didaktik entströmt.
In all den Jahren, die ich mich mit Literaturdidaktik
beschäftigt habe, sind mir nur selten deutsche Romane begegnet, die bei hohem
ästhetischem Anspruch dennoch gleichermaßen für Jugendliche und Erwachsene
zugänglich sind. Natürlich ist „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf solch ein
Beispiel. Und „Bo“ ist es auch.
Prompt wird „Bo“ auf Schritt und Tritt von den Rezensenten
mit „Tschick“ verglichen, ja als Mitreiter auf der Tschick-Welle präsentiert.
Dabei handelt es sich um ein völlig eigenständiges Romanprojekt, das „Tschick“
in einigen Beziehungen sogar überlegen ist.
Der Plot von „Bo“ in Kurzform: Der dreizehnjährige Benjamin
fliegt ohne Begleitung ins afrikanische Liberia, um seinen Vater zu besuchen,
der dort in der Entwicklungshilfe arbeitet. Der Vater holt ihn aber nicht wie
verabredet nachts am Flughafen in Monrovia ab. Er scheint spurlos verschwunden
zu sein, und Benjamin erlebt in den folgenden Tagen allerlei Abenteuer, lernt
viele freundliche und einige böswillige Menschen kennen und kommt
roadmovieartig in Monrovia und Umgebung herum. Bo, ein blinder liberianischer
Junge, und Brilliant, ein amerikanisch-liberianisches Mädchen, werden seine
Freunde bei der Suche nach – nein, nicht seinem Vater – sondern einer
geheimnisvollen, aus einem psychiatrischen Krankenhaus weggelaufenen jungen
Frau.
Das Leben in Liberia, die Gesellschaft und die Geschichte
dieses zu den ärmsten Ländern der Welt gehörenden Staates lernt der Leser aus
den unterschiedlichsten Perspektiven kennen, unter anderen eben aus der
Perspektive der „Blindheit“ von Bo: ein gelungener erzähltechnisch-ästhetischer
Trick des Autors. Die Einblicke, die der Leser auf diese Weise erhält, sind an
keiner Stelle belehrend oder moralisierend; es ist ein Reigen von Szenen und
Bildern, die langsam, siebenhundert unterhaltsame Seiten lang, ein Bild des
Ganzen ergeben. Rainer Merkel hat in einem Krankenhaus in Monrovia gearbeitet
und weiß, wovon er schreibt.
„Bo“ war für den deutschen Jugendromanpreis 2014 nominiert;
erhalten hat ihn letzte Woche ein anderer Roman: „Wie ein unsichtbares Band“
von der argentinischen Autorin Inès Garland. Wenn ich die Rezensionen so lese,
will mir scheinen, „Bo“ wäre die bessere Wahl gewesen.
Rainer Merkel, „Bo“, Fischer Verlag, 2013, 688 Seiten, 22,99
Euro
Niederländische Übersetzung: „Bo“, Wereldbibliotheek 2014, 560
pagina´s, übersetzt von Martin Michael Driessen, 22,95 Euro
Nachbemerkung: Das hat man auch nicht oft: die
niederländische Ausgabe ist 4 Cent billiger als die deutsche. Sie zählt
allerdings (jedenfalls in der Verlagsankündigung) auch 128 Seiten weniger. Da hoffen wir mal, dass das nicht auf
stillschweigenden Kürzungen beruht!
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