Ich habe Hugo von Hofmansthal, den ich von seinen Gedichten und
Erzählungen her kenne, bisher für einen eher unpolitischen Schriftsteller der
Wiener Moderne gehalten. Der folgende Text aus dem Ersten Weltkrieg gibt ein
ganz anderes Bild, anders als zum Beispiel
im Fall Ernst Jüngers, der zwar ein heroischer Krieger, aber auch ein kalter Beobachter des Krieges und ohne
nationalistische Absichten war: Hofmannsthal liefert seinen Österreichern eine
propagandistische Überhöhung des Kriegsgeschehens in den Karpaten an der
russischen Front, von der ich hier die erste Hälfte abdrucke:
Hugo von Hofmannsthal, Geist der Karpathen (1915)
Allmählich, wie die Monate hingehen, ist es, als ob sich
doch schon für uns Lebende das Gesicht dieses Krieges enthüllen könnte, nicht
die vorgehaltene Larve eines schlangenschüttelnden Medusenhauptes, deren
Anblick das Blut in den Adern erstarren lässt, sondern sein wahres ewiges
Gesicht, das die kommenden Jahrhunderte sehen werden. Allmählich wird alles,
was von Monat zu Monat geschehen ist, aus dem Späteren verständlich, dass es
geschehen musste und nach der Notwendigkeit geschehen ist und wir fangen an zu
ahnen, wie völlig das Frühere unter dem Zwange des Späteren stand, das
hereindrängen wollte. Dass wir uns dem Heranfluten des größten Heeres, das die
Welt gesehen hat, entgegenwarfen, um das Herz Europas gegen den tödlichen Stoß
zu decken, dass wir dann zurück über die Flüsse gegen Westen mussten, wieder
vor an den San, wieder zurück ins Gebirge, und dass sich das Größte, Entscheidende
endlich an und auf dem bogenförmig gegen Osten gekrümmten Bergwall der
Karpathen vollziehen musste, so wie einst an den Wällen Wiens die asiatische
Welle brandete und zurückging, dies alles erscheint uns heute notwendig. Es
ist, als hätte dies alles nicht anders geschehen können und an keiner anderen
Stelle der Welt, und als hätte der Geist, der sich hier offenbaren musste,
genau alle die Umstände zu seiner Offenbarung nötig gehabt, die sich nur hier
zusammenfanden, um die Kette der schwersten Prüfungen zu bilden, welche je über
ein Kriegsheer verhängt wurde. Dieses Terrain, welches das Äußerste auferlegte,
die schwere Not, der verzweifelte Ernst, den hier die Natur über Menschen,
kämpfende, bei Tag und Nacht miteinander ringende Menschen brachte, die
Jahreszeit, der nasse stürmevolle Herbst, der harte Winter, der wilde
Nachwinter, die Froststarre, das Wasser, die lehmige Erde, die sich in Klumpen
an die Füße hängt, der mannshohe Schnee, das vereiste, glatte Gelände, der
Sturm, die Einsamkeit, die endlosen Winternächte, der von Geschossen zerfetzte
splitternde Wald, die verschütteten Tunnels, die in den Fels geklemmten neuen
Feldbahnen, die Notbrücken, die Pioniere bis an die Brust im eisigen Wasser
stehend, die weggesprengten Bergkuppen mit feindlichen Batterien und Stellungen
auf ihnen, die improvisierten Panzerzüge, die Geschütze, von Menschen an Seilen
auf die Berge hinaufgezogen, es ist, als könnte man heute nichts von allen
diesen Dingen mehr wegdenken.
Aber auch jenes andere lässt sich nicht wegdenken, das in so
vielen Briefen und Tagebüchern immer wiederkehrt, die Erhabenheit der Natur
mitten in und über all diesem Geschehen; die gestirnten Winternächte, die
schweigenden verschneiten Buchenwälder, die stillen Bergkuppen im Frühlicht und
jenes Aufgehen des Morgensternes in der eisigen klaren Luft, groß und
zauberisch hier so wie nie und nirgends sonst, wie ein Signal, ein
Feuerzeichen, immer wieder jene schwere Stunde zwischen Nacht und Tag
heranführend, die mehr Blut hat fließen sehen als irgendeine andere von den
vierundzwanzig. Nichts, was in diesen Monaten aus Hunderten von knappen
Berichten sich unserer Seele eingegraben hat, lässt sich von diesem
ungeheuersten aller Kriegserlebnisse ablösen. Nie wird von den Namen all der Karpathenflüsse
der Schicksalsklang abfallen; wenn wir Dunaje hören werden oder Biala, Ondawa
und Orawa und Laborcza, Ung oder Stryj, so wird in uns im Tiefsten etwas
erbeben, das vor diesem Krieg nicht da war. Wir sprechen diese Namen aus und
wir fühlen, dass sie in uns, nicht wir in sie, das Erhabene legen, das wir nur
in vergangenen Zeiten zu suchen und zu ahnen gewohnt waren. Dies gegen Osten
gekrümmte Waldgebirge, dieser östliche Bergwall der Monarchie ist durch ein
ungeheures Geschick zu einer heroischen Landschaft ohnegleichen geworden. Tal
um Tal, Schlucht um Schlucht, sie waren der Schauplatz, auf dem der Krieg sich
seine Helden erzog. Hier wurde aus einer bloßen Masse von Soldaten ein Heer,
das kriegsgewohnteste, unüberwindlichste, das seit den Tagen des Prinzen Eugen
unter dem Doppeladler gefochten hat. Hier gab es jene Improvisationen, die aus
Haufen von Landstürmern, von huzulischen Bauern, von Gendarmen und Zollwächtern
ruhmreiche Kampfgruppen machte, deren Taten in schweren Wochen die Herzen höher
schlagen ließen. Hier geschah diese Auslese, wie kein General sie vollziehen
kann, sondern nur das eiserne Geschick, hier diese Verschmelzung vieler zur
harten, kühnen Einheit. […]
Aus: Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Kritische
Ausgabe Band XXXIV, Frankfurt am Main 2011, S. 162-166