Robert Musil, Hasenkatastrophe (1923)
Robert Musil |
Die Dame war
gewiß erst am gestrigen Tag aus der Glasscheibe eines großen Geschäfts
herausgetreten; niedlich war ihr Puppengesichtchen; man hätte mit einem
Löffelchen darin umrühren mögen, um es in Bewegung zu sehn. Aber man trug
selbst Schuhe mit honigglatten, wachswabendicken Sohlen zur Schau, und
Beinkleider, wie mit Lineal und weißer Kreide entworfen. Man entzückte sich
höchstens am Wind. Er preßte das Kleid an die Dame und machte ein jämmerliches
kleines Gerippe aus ihr, ein dummes Gesichtchen mit einem ganz kleinen Mund.
Dem Zuschauer machte er natürlich ein kühnes Gesicht.
Kleine Hasen
leben ahnungslos neben den weißen Bügelfalten und den teetassendünnen Röcken.
Schwarzgrün wie Lorbeer dehnt sich der Heroismus der Insel um sie. Möwenscharen
nisten in den Mulden der Heide wie Beete voll weißer Schneeblüten, die der Wind
bewegt. Der kleine, weiße, langhaarige Terrier der kleinen, mit einem
Pelzkragen geschmückten weißen Dame stöbert durch das Kraut, die Nase
fingerbreit über der Erde; weit und breit ist auf dieser Insel kein anderer
Hund zu wittern, nichts ist da als die ungeheure Romantik vieler kleiner,
unbekannter, die Insel durchkreuzender Fährten. Riesengroß wird der Hund in
dieser Einsamkeit, ein Held. Aufgeregt, messerscharf gibt er Laut, die Zähne
blecken wie die eines Seeungeheuers. Vergebens spitzt die Dame das Mündchen, um
zu pfeifen; der Wind reißt ihr das kleine Schällchen, das sie hervorbringen
möchte, von den Lippen.
Mit solch einem
stichligen Fox habe ich schon Gletscherwege gemacht; wir
Menschen glatt auf den Skiern, er blutend, bis zum Bauch einbrechend, vom Eis
zerschnitten, und dennoch voll wilder, nie ermattender Seligkeit. Jetzt hat
dieser hier etwas aufgespürt; die Beine galoppieren wie Hölzchen, der Laut wird
ein Schluchzen. Merkwürdig ist an diesem Augenblick, wie sehr solche flach auf
dem Meer schwebende Insel an die großen Kare und Tafeln im Hochgebirge
erinnert. Die schädelgelben, vom Wind geglätteten Dünen sind wie Felsenkränze
aufgesetzt. Zwischen ihnen und dem Himmel ist die Leere der unvollendeten
Schöpfung. Licht leuchtet nicht über dies und das, sondern schwemmt wie aus
einem versehentlich umgestoßenen Eimer über alles. Man ist jedesmal erstaunt,
daß Tiere diese Einsamkeit bewohnen. Sie gewinnen etwas Geheimnisvolles; ihre
kleinen weichwolligen und -fedrigen Brüste bergen den Funken des Lebens. Es ist
ein kleiner Hase, den der Fox vor sich hertreibt. Ich denke: eine kleine,
wetterharte Bergart, nie wird er ihn erreichen. Eine Erinnerung aus der
Geographiestunde wird lebendig: Insel – eigentlich stehen wir da auf der Kuppe
eines hohen Meerbergs? Wir, zehn bis fünfzehn lungernd zusehende Badegäste in
farbigen Tollhausjacken, wie sie die Mode vorschreibt. Ich ändere meinen
Gedanken noch einmal ab und sage mir, das Gemeinsame wäre nur die unmenschliche
Verlassenheit: Verstört wie ein Pferd, das den Reiter abgeworfen hat, ist die
Erde überall dort, wo der Mensch in der Minderheit bleibt; ja, gar nicht
gesund, sondern wahrhaft geisteskrank erweist sich die Natur im Hochgebirge und
auf kleinen Inseln. Aber zu unserem Erstaunen hat sich die Entfernung zwischen
dem Hund und dem Hasen verringert; der Fox holt auf, man hat so etwas
noch nie gesehen, ein Hund, der den Hasen einholt! Das wird der erste große
Triumph der Hundewelt! Begeisterung beflügelt den Verfolger, sein Atem jauchzt
in Stößen, es ist keine Frage mehr, daß er binnen wenigen Sekunden seine Beute
eingeholt haben wird. Da schlägt der Hase den Haken. Und da erkenne ich an
etwas Weichem, weil der harte Riß diesem Haken fehlt, es ist kein Hase, es ist
nur ein Häschen, ein Hasenkind.
Ich fühle mein
Herz; der Hund hat beigedreht; er hat nicht mehr als fünfzehn Schritte
verloren; in wenigen Augenblicken ist die Hasenkatastrophe da. Das Kind hört
den Verfolger hinter dem Schweifchen, es ist müde. Ich will dazwischenspringen,
aber es dauert so lange, bis der Wille hinter den Bügelfalten in die glatten
Sohlen fährt; oder vielleicht war der Widerstand schon im Kopf. Zwanzig
Schritte vor mir – ich müßte phantasiert haben, wenn das Häschen nicht verzagt
stehen blieb und seinen Nacken dem Verfolger hinhielt. Der schlug seine Zähne
hinein, schleuderte es ein paarmal hin und her, dann warf er es auf die Seite
und grub sein Maul zwei-, dreimal in Brust und Bauch.
Ich sah auf.
Lachende, erhitzte Gesichter standen umher. Es war plötzlich wie vier Uhr
morgens geworden nach durchtanzter Nacht. Der erste von uns, der aus dem
Blutrausch erwachte, war der kleine Fox. Er ließ ab, schielte mißtrauisch zur
Seite, zog sich zurück; nach wenigen Schritten fiel er in kurzen, eingezogenen
Galopp, als erwarte er, daß ihm ein Stein nachfliegen werde. Wir andern aber
waren bewegungslos und verlegen. Eine schale Atmosphäre menschenfresserischer
Worte umgab uns, wie »Kampf ums Dasein« oder »Grausamkeit der Natur«. Solche
Gedanken sind wie die Untiefen eines Meeresbodens, aus
ungeheuerer Tiefe emporgestiegen und seicht. Am liebsten wäre ich
zurückgegangen und hätte die sinnlose kleine Dame geschlagen. Das war eine
aufrichtige Empfindung, aber keine gute, und so schwieg ich und fiel damit in
das allgemeine, unsichere, sich nun bildende Schweigen ein. Endlich nahm ein
hochgewachsener, behaglicher Herr aber den Hasen in beide Hände, zeigte seine
Wunden den Hinzugetretenen und trug die dem Hund abgejagte Leiche wie einen
kleinen Sarg in die Küche des nahen Hotels. Dieser Mann stieg als erster aus
dem Unergründlichen und hatte den festen Boden Europas unter den Füßen.
Aus: Robert Musil, Nachlass zu Lebzeiten (1936)
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