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Samstag, 24. Mai 2014

Kaiserdämmerung (10) - Hugo von Hofmannsthal, Geist der Karpathen (1915)

Ich habe Hugo von Hofmansthal, den ich von seinen Gedichten und Erzählungen her kenne, bisher für einen eher unpolitischen Schriftsteller der Wiener Moderne gehalten. Der folgende Text aus dem Ersten Weltkrieg gibt ein ganz anderes Bild, anders als zum Beispiel im Fall Ernst Jüngers, der zwar ein heroischer Krieger, aber auch ein kalter Beobachter des Krieges und ohne nationalistische Absichten war: Hofmannsthal liefert seinen Österreichern eine propagandistische Überhöhung des Kriegsgeschehens in den Karpaten an der russischen Front, von der ich hier die erste Hälfte abdrucke:

Hugo von Hofmannsthal, Geist der Karpathen (1915)

Hugo von Hofmannsthal
Allmählich, wie die Monate hingehen, ist es, als ob sich doch schon für uns Lebende das Gesicht dieses Krieges enthüllen könnte, nicht die vorgehaltene Larve eines schlangenschüttelnden Medusenhauptes, deren Anblick das Blut in den Adern erstarren lässt, sondern sein wahres ewiges Gesicht, das die kommenden Jahrhunderte sehen werden. Allmählich wird alles, was von Monat zu Monat geschehen ist, aus dem Späteren verständlich, dass es geschehen musste und nach der Notwendigkeit geschehen ist und wir fangen an zu ahnen, wie völlig das Frühere unter dem Zwange des Späteren stand, das hereindrängen wollte. Dass wir uns dem Heranfluten des größten Heeres, das die Welt gesehen hat, entgegenwarfen, um das Herz Europas gegen den tödlichen Stoß zu decken, dass wir dann zurück über die Flüsse gegen Westen mussten, wieder vor an den San, wieder zurück ins Gebirge, und dass sich das Größte, Entscheidende endlich an und auf dem bogenförmig gegen Osten gekrümmten Bergwall der Karpathen vollziehen musste, so wie einst an den Wällen Wiens die asiatische Welle brandete und zurückging, dies alles erscheint uns heute notwendig. Es ist, als hätte dies alles nicht anders geschehen können und an keiner anderen Stelle der Welt, und als hätte der Geist, der sich hier offenbaren musste, genau alle die Umstände zu seiner Offenbarung nötig gehabt, die sich nur hier zusammenfanden, um die Kette der schwersten Prüfungen zu bilden, welche je über ein Kriegsheer verhängt wurde. Dieses Terrain, welches das Äußerste auferlegte, die schwere Not, der verzweifelte Ernst, den hier die Natur über Menschen, kämpfende, bei Tag und Nacht miteinander ringende Menschen brachte, die Jahreszeit, der nasse stürmevolle Herbst, der harte Winter, der wilde Nachwinter, die Froststarre, das Wasser, die lehmige Erde, die sich in Klumpen an die Füße hängt, der mannshohe Schnee, das vereiste, glatte Gelände, der Sturm, die Einsamkeit, die endlosen Winternächte, der von Geschossen zerfetzte splitternde Wald, die verschütteten Tunnels, die in den Fels geklemmten neuen Feldbahnen, die Notbrücken, die Pioniere bis an die Brust im eisigen Wasser stehend, die weggesprengten Bergkuppen mit feindlichen Batterien und Stellungen auf ihnen, die improvisierten Panzerzüge, die Geschütze, von Menschen an Seilen auf die Berge hinaufgezogen, es ist, als könnte man heute nichts von allen diesen Dingen mehr wegdenken.
Aber auch jenes andere lässt sich nicht wegdenken, das in so vielen Briefen und Tagebüchern immer wiederkehrt, die Erhabenheit der Natur mitten in und über all diesem Geschehen; die gestirnten Winternächte, die schweigenden verschneiten Buchenwälder, die stillen Bergkuppen im Frühlicht und jenes Aufgehen des Morgensternes in der eisigen klaren Luft, groß und zauberisch hier so wie nie und nirgends sonst, wie ein Signal, ein Feuerzeichen, immer wieder jene schwere Stunde zwischen Nacht und Tag heranführend, die mehr Blut hat fließen sehen als irgendeine andere von den vierundzwanzig. Nichts, was in diesen Monaten aus Hunderten von knappen Berichten sich unserer Seele eingegraben hat, lässt sich von diesem ungeheuersten aller Kriegserlebnisse ablösen. Nie wird von den Namen all der Karpathenflüsse der Schicksalsklang abfallen; wenn wir Dunaje hören werden oder Biala, Ondawa und Orawa und Laborcza, Ung oder Stryj, so wird in uns im Tiefsten etwas erbeben, das vor diesem Krieg nicht da war. Wir sprechen diese Namen aus und wir fühlen, dass sie in uns, nicht wir in sie, das Erhabene legen, das wir nur in vergangenen Zeiten zu suchen und zu ahnen gewohnt waren. Dies gegen Osten gekrümmte Waldgebirge, dieser östliche Bergwall der Monarchie ist durch ein ungeheures Geschick zu einer heroischen Landschaft ohnegleichen geworden. Tal um Tal, Schlucht um Schlucht, sie waren der Schauplatz, auf dem der Krieg sich seine Helden erzog. Hier wurde aus einer bloßen Masse von Soldaten ein Heer, das kriegsgewohnteste, unüberwindlichste, das seit den Tagen des Prinzen Eugen unter dem Doppeladler gefochten hat. Hier gab es jene Improvisationen, die aus Haufen von Landstürmern, von huzulischen Bauern, von Gendarmen und Zollwächtern ruhmreiche Kampfgruppen machte, deren Taten in schweren Wochen die Herzen höher schlagen ließen. Hier geschah diese Auslese, wie kein General sie vollziehen kann, sondern nur das eiserne Geschick, hier diese Verschmelzung vieler zur harten, kühnen Einheit. […]

Aus: Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Kritische Ausgabe Band XXXIV, Frankfurt am Main 2011, S. 162-166

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