Frederika Engelina Jeltsema aus dem Dorf Uithuizen gewann 1902 mit 23 Jahren den „Prix de Rome“, den höchsten niederländischen Preis für Bildhauerei, mit dem ein vierjähriges Stipendium für jeweils einjährige Auslandsaufenthalte unter Aufsicht erfahrener Künstler verbunden war. Welch ein Höhepunkt für die durch ihre Intersexualität verunsicherte Tochter eines Großbauern aus der tiefsten niederländischen Provinz!
Während dieser faszinierenden Lebensphase, die sie unter anderem nach Paris und Florenz führte, wurde von Jahr zu Jahr mehr evident, dass sie als Mann in vielen Situationen des Alltags, aber auch als Künstler mehr Freiheit und mehr Möglichkeiten haben könnte.
Der Preis verschaffte ihr zahlreiche gut bezahlte Aufträge. Sie lernte auf diese Weise die Witwe Geesje Mesdag-van Calcar kennen, die in einer großen Villa in Scheveningen lebte und sich nach dem Tod ihres sehr reichen Mannes und ihres Sohnes einem Leben für die Kunst widmen wollte.
Geesje verstand sich sehr gut mit Frederika und ließ sie in ihrem Haus wohnen. Als Frederika ihr 1906 mitteilte, weiterhin als Mann durchs Leben gehen zu wollen, hat das die Freundschaft eher noch bestärkt. Die dreißig Jahre ältere Geesje sah in Frederik einen Ersatzsohn und bot ihm alle Möglichkeiten. Sie ließ ihm sofort eine umfangreiche Männergarderobe schneidern, ein Atelier im Garten bauen und machte mit ihm in den folgenden Jahren und Jahrzehnten ausgedehnte Kunstreisen durch Europa in der Tradition der „Grand Tour“. Bei ihrem Tod 1936 hinterließ sie ihm die Villa und den Großteil ihres Vermögens. Dabei hatte er auch schon von seinem Vater geerbt und konnte bis zum Ende ein finanziell sorgenloses Leben führen.
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Frederik Engel Jeltsema, Marmorbüste von Geesje Mesdag-van Calcar, Groninger Museum |
Zu den Stationen und näheren Umständen dieser Reisen von Mutter und Pflegesohn gibt es leider keine Dokumente. Aber wenn man eine Handvoll italienischer Städte nennen soll, die auf jeden Fall zu solch einer Grand Tour gehörten (und für viele immer noch gehören), dann sind es Venedig, Florenz, Rom, Neapel und Pompeji.
Frederik hat also auf jeden Fall in Neapel den lebensgroßen „Ruhenden Hermes“ aus der Villa dei Papiri gesehen und wahrscheinlich auch eine der vielen zum Verkauf angebotenen kleinen Kopien der Skulptur gekauft und mit nach Hause genommen. Für ihn und sein Verständnis von Bildhauerei muss sie ein absoluter Höhepunkt griechisch-römischer Kunst, von Kunst überhaupt, gewesen sein.
Zehn Jahre nach seiner juristischen Mannwerdung sollte er eine eigene lebensgroße Version dieser Bronzeskulptur erschaffen, den „Zittende jongeling“ (1916), keine Auftragsarbeit, sondern nur für sich selbst und für Geesje, keine Kopie, sondern ein dem sitzenden Hermes nachempfundenes Selbstbildnis des Groninger Künstlers als junger Mann, geschaffen mit den außerordentlichen handwerklich-künstlerischen Fähigkeiten, die ihm/ihr zu frühem Ruhm verholfen haben. Und mit den finanziellen Mitteln, die Geesje ihm bot.
Den leisen Anklang an James Joyce mit seinem „Portrait of the Artist as a Young Man“, gleichfalls 1916, möge man mir verzeihen. Es gibt da ein paar Parallelen, die mich verblüfft haben.
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