Die Felddiakonie war eine noch ganz neue Institution zur Pflege von Verwundeten auf dem Schlachtfeld und in Lazaretten, gegründet von Johann Heinrich Wichern. Sie war unter dem Eindruck des massenhaften, tagelangen und grauenvollen Sterbens von Verwundeten in und nach der Schlacht von Solferino im Sardinischen Krieg 1859 entstanden. Die Ursache dafür waren die schrecklichen Verwundungen, die Soldaten seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts durch Verbesserungen der Waffentechnik erlitten. Die Opferzahlen in militärischen Konflikten stiegen rasant an (Krimkrieg 1853-1856, Sardinischer Krieg 1859, deutsch-dänischer Krieg 1864, deutscher Krieg 1866, deutsch-französischer Krieg 1870/71).
Die Aufgaben der Felddiakonie waren eine Mischung aus Pflege und Trostspendung. Zu Anfang des Krieges wurden die Anwärter für dieses Amt in zweiwöchigen Kursen auf ihre Aufgabe vorbereitet und mit einer Tasche mit Verbandsmaterial in die Schlacht geschickt. Da Nietzsche diesen Kurs noch in Erlangen absolvieren musste, kam er erst drei Wochen nach der großen Schlacht von Woerth vom 6. August zum Einsatz. Zusammen mit seinem Freund Mosengel hatte er u.a. die Aufgabe, Geld für bereits im Einsatz befindliche Felddiakone im elsässischen Kriegsgebiet zu verteilen. Dieser Einsatz dauerte vom 27. August bis zum 2. September. Er begann in Weißenburg, führte über das Woerther Schlachtfeld, dann nach Hagenau, Luneville, Nanzig, Metz bis Ars sur Moselle. Zwischen den Orten verkehrten Züge, aber viele Routen mussten in erschöpfenden Fußmärschen zurückgelegt werden, wobei die genauen Standorte der zu erreichenden Felddiakone oft nicht bekannt waren. Das Wetter war Ende August von andauerndem Regen bestimmt.
Insbesondere das Schlachtfeld von Woerth muss für Nietzsche eine furchtbare Erfahrung gewesen sein. Die Schlacht lag schon drei Wochen zurück, aber in Woerth und den umliegenden Dörfern und Feldern waren etwa zwanzigtausend Soldaten und Zivilisten gefallen und viele tausend Pferde umgekommen. Die Verwundeten waren im Laufe der Augusttage in Lazarette geschafft worden, aber Tausende zerrissener Leichen und Pferdekadaver lagen noch verwesend herum, und die Dörfer waren durch Artilleriebeschuss verwüstet.
Die Franzosen verfügten in diesem Krieg über das durchschlagkräftige und weittragende Chassepotgewehr, das große Wunden riss, die Preußen dagegen hatten die bessere Artillerie und teilweise modernere Gefechtstaktiken. Der Angriff der französischen Kürassierbrigade bei Woerth zum Beispiel, einer Elitetruppe, wurde von der preußischen Infanterie abgewehrt, ohne dass ein einziger säbelschwingender Kürassier die feindlichen Linien erreicht hätte. 800 von 1200 Reitern und fast alle Pferde kamen bei dieser Attacke um.
Der Kürassierangriff bei Wörth am 6. August 1870 |
In der kollektiven Erinnerung lebt diese Schlacht noch heute intensiv, und es sollte letztes Jahr im Elsass zahlreiche Gedenkveranstaltungen zum 150. Jahrestag geben, die aber größtenteils wegen Corona ausfallen mussten. Insgesamt lagen die Opferzahlen in diesem Krieg bei 190.000 Gefallenen und 230.000 Verwundeten.
Nietzsche und Mosengel zogen durch diese Horrorlandschaften der Zerstörung und Verwesung hindurch, von Lazarett zu Lazarett, erschöpft, durchnässt, deprimiert. Direkten Kämpfen sind sie wohl nicht begegnet. In Ars sur Moselle bei Metz erhielten sie den Auftrag, schwerverwundete Soldaten im Güterzug nach Karlsruhe zu bringen.
Zurück in Deutschland berichtete er Richard Wagner von seinen Erlebnissen:
Erlangen, Sonntag
[11. September 1870]
Lieber und verehrter Meister. (…) Meine Hilfstätigkeit hat einen einstweiligen Abschluss gefunden, leider durch Krankheit. Meine mannigfachen Aufträge und Verpflichtungen führten mich bis in die Nähe von Metz; es wurde mir und meinem – sehr bewährten – Freunde Mosengel möglich, den größten Teil unserer Aufgaben mit Glück zu erledigen. In Ars sur Moselle übernahmen wir die Pflege von Verwundeten und kehrten dann mit diesen nach Deutschland zurück. Dieses dreitägige und dreinächtige Zusammensein mit Schwerverwundeten war der Höhepunkt unserer Anstrengungen. Ich hatte einen elenden Viehwagen, in dem 6 Schwerleidende lagen, allein während jener Zeit zu besorgen, zu verbinden, zu verpflegen usw. Alle mit zerschossenen Knochen, mehrere mit 4 Wunden; dazu konstatierte ich bei zweien noch Wunddiphteritis. Dass ich es in diesen Pestdünsten aushielt, selbst zu schlafen und zu essen vermochte, erscheint mir jetzt wie ein Zauberwerk. Kaum aber hatte ich meinen Transport an ein Karlsruher Lazarett abgeliefert, stellten sich auch bei mir ernstliche Zeichen von Unwohlsein ein. Mit Mühe kam ich nach Erlangen, um meinem Vereine über verschiedenes Bericht zu erstatten. Dann legte ich mich zu Bett und liege bis jetzt. Ein tüchtiger Arzt erkannte als mein Leiden einmal eine sehr starke Ruhr und sodann Rachendiphteritis (…) sie haben so schwächend und entkräftigend auf mich in kurzer Zeit gewirkt, dass ich zunächst meine Hilfstätigkeit aufgeben muss (…). So bin ich nach einem kurzen Anlauf von 4 Wochen, ins allgemeinere zu wirken, bereits auf mich selbst wieder zurückgeworfen – recht elend!
Über die deutschen Siege möchte ich kein Wort sagen: das sind Feuerzeichen an der Wand, allen Völkern verständlich. (…)
Friedrich Nietzsche, Briefe, Berliner Ausgabe 2013, S.96f.
Nietzsche war gerade einmal zehn Tage im Einsatz gewesen. An eine Rückkehr an den Kriegsschauplatz war nicht zu denken. Er fuhr schließlich in seine Heimatstadt Naumburg und später zurück nach Basel. Der Krieg war für ihn aus, und das spätere Ergebnis, die allseits bejubelte Gründung des Deutschen Reichs, hat ihm in keiner Weise gefallen. Am 18. Januar 1871 wurde in Versailles der deutsche Kaiser proklamiert. Elsass und Lothringen wurden annektiert.
Bald darauf beschreiben ihn Freunde wieder als gesunden, kräftigen Mann. Bei aller Entsetzlichkeit des Gesehenen, konnte von einer nachwirkenden traumatischen Erfahrung keine Rede sein. Erst in den achtziger Jahren bekommt er neue ernsthafte gesundheitliche Probleme.
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