Niemeyers neuestes Buch über Nietzsche widmet sich den qualvollen Folgen der Syphilis, die sich Nietzsche schon 1865 im Bordell zugezogen haben soll, und dem kulturhistorischen Kontext dazu: „Nietzsches Syphilis und die der Anderen. Eine Spurensuche“ (2020, E-book UB Groningen 2021). Ihm geht es dabei um die jahrhundertelangen gravierenden kulturellen Folgen einer nicht behandelbaren Krankheit und eben um die konkreten Folgen für Nietzsches Leben, Werk und seine Beurteilung durch die Nachwelt. Es ist allerdings, soweit ich sehe, unter medizinischen Fachleuten unserer Zeit nicht nur nicht deutlich, sondern sogar eher zweifelhaft, ob Nietzsche wirklich Syphilis gehabt hat. Die Gründe für die Unzugänglichkeit vor allem einiger Spätwerke müssen wohl in den Texten und nicht in Krankheiten gesucht werden. Oder ist da noch etwas anderes?
Niemeyer plädiert jedenfalls entschieden für die Einbeziehung der biographischen Besonderheiten in die Analyse der Werke Nietzsches. Dazu müssten dann meines Erachtens auch die kurzen, aber dramatischen Erfahrungen Nietzsches als Krankenpfleger während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 gehören. In den mir bekannten Biographien gibt es darüber nur wenig Aufschlussreiches. Ich will versuchen, dem weiter nachzugehen (siehe den folgenden Beitrag).
Eine psychologische, historische und literarische Traumaforschung hat sich erst seit Kurzem entwickelt. Sie scheint noch nicht viel weiter gekommen zu sein als zur Benennung ihrer Themen und Beispiele (Günter H. Seidler und Wolfgang U. Eckart (Hg.), „Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung“ (Gießen 2005). Wenn man sich das Inhaltsverzeichnis dieses Buches ansieht, dessen Beiträge von Ärzten, Therapeuten, Medizinhistorikern und Literaturwissenschaftlern stammen, ergeben sich interessante Verbindungen zwischen literarischen Texten und traumatischen Lebenserfahrungen von Autoren. Es geht um Kriegserfahrungen, Katastrophen, Krankheiten, Unfälle, Gewaltverbrechen, Vergewaltigungen. Der Fall Nietzsche kommt darin nicht vor. Dagegen wird hier von Harald Weilnboeck vor allem an Ernst Jünger exemplifiziert, was traumatische Dissoziation in literarischen Werken seiner Meinung nach bedeuten kann. Er hat seine Habilitation dazu geschrieben: „Borderline literarische Interaktion am Beispiel der frühen Kriegsschriften Ernst Jüngers“, 2005. Das ist für mich sehr spannend, zumal er auch Karl Heinz Bohrer mit seiner „Plötzlichkeit“ sozusagen als Geschädigten in zweiter Generation darstellt. Intensiveres Nachlesen bei Weilnboeck hat mich allerdings inzwischen zu der Überzeugung gebracht, dass seine Methode hyperkomplex, theorielastig und in ihren Ergebnissen abstrus ist.
Abschließend und resümierend für heute: Nietzsches Lebensführung ist von Unstetigkeit, ständigem Leiden, Ortswechseln und Bindungsunfähigkeit bestimmt. Sein geniales Werk bringt er zeitweise unter Qualen hervor. Für mich ist es noch nicht deutlich, ob und welche inhaltlichen und formalen Qualitäten seines Werks in Bezug zu diesem Leiden gesetzt werden können. Aber dass es hier Verbindungen gibt, lässt sich jedenfalls nicht ausschließen. Auch in diesem Falle bedeutet das keineswegs, dass seine Ideen und Einsichten vor dem Hintergrund seines Leidens in irgendeiner Weise entwertet werden müssten. Schreiben geschieht immer aus Leiden-Schaft.
Anwalt, Arzt oder Ankläger? Naja: es gibt ja so eine Art Prozess gegen Nietzsche in der internationalen Forschung. Niemeyer plädiert dafür, Nietzsche vor den ideologischen Vereinnahmungen des 20. Jahrhunderts in Schutz zu nehmen und ihn den neuen Lesergenerationen des 21. Jahrhundert ans Herz zu legen, mit dem Aufruf, ihn sorgfältig zu lesen und als Anwalt für ihn aufzutreten. In der Tat: neue, junge Leser und Leserinnen könnten seine Anwälte in unserer Zeit sein! Gefahr geht von ihm nicht aus. Die Gefahren dieses Jahrhunderts kommen ganz anders zustande.
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