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Montag, 28. Juni 2021

Nietzsche (23): Nietzsche nicht wahr?

Bis zu Nietzsche und für viele bis heute galt und gilt die Philosophie als eine Denkdisziplin mit Wahrheitsanspruch. Ohne diesen müsste sie ja auch sinnlos sein, oder?


Bild: Paul Flora


Im Rahmen unseres Kollegendisputs über Nietzsche habe ich eine Mail von W.S. erhalten, in der er auf meinen Beitrag Nietzsche (20) vom 1. Juni eingeht. Ich zitiere aus dieser Mail:

 

“In je bijdrage van 1 juni behandel je N. als onbetrouwbare verteller die dus uit de verhalende literatuur in de filosofie is verzeild. Je demonstreert dit aan de hand van een analyse van Der Fall Wagner, waarvan je een fragment citeert. (…) De kwestie lijkt me niet zo zeer of deze visie op N. als onbetrouwbare verteller juist of plausibel is, maar — dit even aangenomen — of zij als argument pro of contra N.s filosofie opgevat kan worden. Mijn indruk is dat jij deze 'postmoderne narratieve' interpretatie van N.s geschrift(en) als een kwaliteit ziet en waardeert, er in ieder geval een nieuwe visie op het hele oeuvre mee geeft. Ik vraag me echter af of N. daarmee dan niet een zg. categoriefout gemaakt heeft door juist deze literaire techniek voor een filosofisch betoog te gebruiken. Want niets tegen de literaire kwaliteit van een filosofisch geschrift, maar wel als onbetrouwbaarheid ervan het kenmerk en de bedoeling is, niet waar? Wat in de literatuur een narratieve kunstgreep is, kan in een filosofische uiteenzetting wel heel dysfunctioneel zijn. Het lijkt me dus zaaks om de meerwaarde van deze 'techniek' duidelijk te maken.”

 

Der “Kategoriefehler”, den W.S. hier Nietzsche anlastet, besteht in der Vermengung von Literatur als Kunst und Philosophie als Wahrheitssuche. Implizit steht hier also, dass diese Vermengung unzulässig ist. „Unzuverlässigkeit“ als literarische Technik hätte demnach in der Philosophie nichts zu suchen, ja sie wäre „dysfunktional“.


Des Weiteren gruppiert W.S. mich in diesem Beitrag als Anhänger der „postmodernen narrativen Interpretation“ von Nietzsches Werken ein, also einer vornehmlich französischen Philosophenschule der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber so verstehe ich den Standort nicht, den ich mir im Verlauf meiner Blogbeiträge erarbeitet habe. Ich habe im Gegenteil mehrfach darauf verwiesen, dass ich Nietzsche als Denker und Autor des 19. Jahrhunderts verstehen möchte und dass darin seine bewusste Nachfolge der deutschen Frühromantik eine große Rolle spielt, nicht eine beliebige Postmoderne, sondern die originäre Moderne in Nietzsches Überbietung von Friedrich Schlegel, Fichte und Novalis (vgl. meinen Beitrag Nietzsche 18 vom 26. November 2020).


Zu diesem Schluss kommt auch Karl-Heinz Bohrer in seinem Werk „Die Kritik der Romantik“ (1989). Er beendet sein Nietzsche-Kapitel in diesem Buch mit den Sätzen:

 

„Eine moderne Ästhetik in nuce lässt sich in Nietzsches fortschreitendem Romantikverständnis erkennen. Als zentrale Kategorie gegen den positivistischen Wirklichkeits-Begriff tauchen auf: Augenblick, Plötzlichkeit, Rätsel. Dabei ist die Strategie einer neuen Kulturkritik erkennbar: Das philosophische Paradigma wird ersetzt durch das ästhetische, das sich argumentativ unüberholbar gibt. Damit hat der Prozess des Ästhetischwerdens des Diskurses, der die romantische Revision des Wirklichkeits-Begriffs bedeutet, eine Beschleunigung erfahren.“ (Karl-Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik, Frankfurt am Main 1989, 94)

 

Es geht mir nicht um eine heutige Interpretation von Nietzsche im Rahmen von Postmodernismus und gefährlichem Populismus, sondern um sein Verständnis im Rahmen seiner Zeit. Und dort geschieht in den 70er/80er Jahren des 19. Jahrhunderts etwas radikal Neues. Nietzsche reduziert die Welt auf das, was sie für uns nur sein kann: kein Gott, kein An Sich, keine positivistische Wirklichkeit, sondern nur unsere denkende und kreativ schaffende Anschauung, unsere Kunst und unser Leben. Philosophie mit Hand und Fuß, mit Kopf und allen Sinnen.

 

“Das – der Wahrheit Freier?

Nein! Nur Narr! Nur Dichter!

Nur Buntes redend.

Aus Narren-Larven bunt herausschreiend,

herumsteigend auf lügnerischen Wort-Brücken,

Auf buntem Regenbogen

Zwischen falschen Himmeln

Und falschen Erden,

Herumschweifend, herumschwebend, -

Nur Narr! Nur Dichter!“

 

(Dionysos-Dithyramben 6, 377f.)

 

Und insofern kann er keinen Kategoriefehler mehr machen zwischen Kunst und Philosophie, denn die Philosophie ist nur als Kunst übriggeblieben. Die Kunst ersetzt die Metaphysik, die Kategorien der Kunst sind die einzigen, mit der die menschliche Existenz zu ergreifen, begreifen und zu vermitteln ist:

 

„Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.“ (Nachgelassene Fragmente 13, 521)

 

Und darum kann auch die „Unzuverlässigkeit“ als literarisch-philosophische Technik ein Mehrwert in der Erkenntnis unserer Welt sein, denn Nietzsche ist „wahrer“ als alle Philosophie vor ihm. Er ist allerdings auch, wie Bohrer sagt, „argumentativ unüberholbar“.

 

 

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