Bei Novellen denkt der Germanist sofort an das Dingsymbol
(einen leitmotivischen Gegenstand), das in der Literaturwissenschaft damit
verbunden wird. Und ja, wir werden bei Kracht fündig: Seine Hauptfigur, der
Schweizer Regisseur Nägeli, ergeht sich immer wieder in Erinnerungen an die
Kindheit und an den Vater, dessen Tod er erlebt hat. Der Vater benutzte einen
„zartvioletten Bleistift“ (zum ersten Mal auf Seite 40 erwähnt).
Dieser Bleistift kehrt noch zwei Mal wieder. Der Autor
Kracht lässt ihn scheinbar unmotiviert und quasi aus dem Nichts in der Handlung
materialisieren: Nägeli wartet, auf einem Stuhl sitzend, auf seine Audienz beim
Medientycoon Alfred Hugenberg. Ungeduldig „rollt er mit dem Schuh einen am
Boden liegenden, zartvioletten Bleistift (der sich von irgendwoher durch den
Äther dorthin manifestiert hat) hin und her“ (128). Kein Wort mehr, an dieser
Stelle, was den Bleistift betrifft.
Und später noch einmal, Nägeli ist inzwischen in Japan, um
im Auftrag von Hugenberg einen Film zu drehen:
„Er fühlt etwas unter seinem
Schuh, sieht nach unten zum Taxiboden hin und greift tastend danach. Es ist ein
Bleistift, ein hellvioletter, den jemand dort vergessen hat. Er rollt die
klickenden Seiten des achteckigen Tubus in der Hand und schiebt ihn sich in die
Jacketttasche, als könne er den mnemonischen Zusammenhang ahnen und wolle den
Stift nur so lange aufbewahren, bis er darauf komme, was gemeint gewesen ist“
(152).
Das ist schon deutlicher: der Erzähler erinnert den Leser an den
mnemotechnischen (und poetologischen) Zusammenhang des Stiftes. Und dann,
wenige Seiten später, wie hingetupft, die poetische Essenz dieses Buches in
einem vollkommenen Satz zur Zeit der Kirschblüte in Japan (Schönheit und Vergänglichkeit):
Nägeli „hält dann schließlich vor einem fast kahlen Kirschbaum inne, zu dessen zartvioletter (Hervorhebung von mir, P.G.) Blütenkrone er nun
hinauf sieht, die Hände in die Hüften gestemmt.
Ein mechanischer
Vogel aus kunstvoll bemaltem Blech sitzt dort im Baume auf dem Ast, putzt sich
das Federkleid und tiriliert: Fi-di-bus.
Eine Kirschblüte fällt im Sterben, stirbt im Fallen, so ist es vollkommen”
(158f.).
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
AntwortenLöschenEin zartvioletter Bleistift kommt auf auf Seite 144 vor. Es ist das Instrument, mit dem der kanadische Lagerarzt Putzi Hanfstängels wundbrandigen, erfrorenen Zeh kitzelt.
AntwortenLöschenErwähnt werden sollte auch der Symbolgehalt der Farbe im christlich-religiösen Zusammenhang: Buße, innere Umkehr, aber auch, im Falle des Purpur, Würde.
Der Stift steht also nicht nur im Zusammenhang mit dem Tod und der Vergänglichkeit (einer Figur, einer Blüte, einer verdorbenen, überkommenen Zeit), sondern auch für eine innere Zerissenheit (einer Figur, einer Zeit) und verlorene und/oder gesuchte Würde - Hanfstängel, der in sinnentleerter Eitelkeit und Wehmut seine Seidensocken und Notenblätter glattstreicht und aufgrund seines Zehs immerhin "bis zum Frühling von der Waldarbeit freigestellt wird"; Nägelis Vater, der sich für "exzentrisch" hält, wenn er mit diesem Stift seine Reservierung im Nobelrestaurant schreibt; Nägeli selbst, der sich vor dem Empokömmling und Brutalisten Hugenberg "prostituiert" etc.
Der Stift ist überall, genau wie der Todesbaum Nägelis ihm überall in seinem Leben begegnet. Er ist der Ausdruck eines Zeitgeists, der in sich selbst widersprüchlich und dem Tod geweiht ist.
Dabei stellt sich bei mir gerade das Gefühl ein, dass Kracht diesen Stift so auffällig im Stil der Filme der von ihm hier beschriebenen Zeit in Szene setzt, so klischeehaft in seiner "Campyness" und doch irgendwie rührend, dass er am Ende alles bedeuten kann, aber nichts bedeuten muss. Vielleicht ist er nur ein krachtscher Witz, ein "mal sehen, was ihr alles in diesen Stift lesen könnt... macht nur, i dare you."
Ich habe ganz vergessen, mich bei Ihnen für den schönen Kommentar zu bedanken. Der bartviolette Bleistift auf Seite 144 ist mir tatsächlich entgangen. Herzlichen Dank!
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