Ann Cottens
Versepos „Verbannt!“ ist im März erschienen und im deutschen Feuilleton bereits
mehrfach als „Meisterwerk“ beschrieben worden, ohne dass so recht deutlich
wurde, warum. Aus den Ankündigungen und Rezensionen lässt sich entnehmen, dass
es um eine Art weibliche Robinsonade auf einer Insel namens „Hegelland“ geht.
Ich habe das Buch gelesen und möchte in den folgenden Tagen (Wochen?) versuchen,
meinen Eindruck von diesem spielerisch-sperrigen Verswerk zu beschreiben.
Es handelt
sich um ein Epos in 403 in der Regel neunzeiligen Strophen (sogenannte Spenserstrophen
mit festem Reimschema). Das hat es in der deutschen Literatur seit Unzeiten
nicht mehr gegeben, und natürlich fragt man sich, was das soll.
Ann Cotten
gibt in ihrer „Einleitung“ in 24 Strophen zahlreiche Hinweise und indirekte
Erläuterungen zu dem, was den Leser erwartet, sowohl was die Form als auch was
den Inhalt betrifft. Daraus lässt sich mehr entnehmen, als die bisherigen Rezensionen
haben verlauten lassen, die die Autorin und ihr Werk allesamt als „schwierig“
einstufen.
Ich widme mich
heute nur einem Teil dieser Einleitung (Strophe 1, 4, 5 und 23). Der Text ist
übrigens in einer Leseprobe zugänglich, die der Suhrkamp Verlag auf seiner
Website zur Verfügung gestellt hat. Die ersten Seiten des ersten Kapitels, die
auch noch zur Leseprobe gehören, kann man sich in der Büchersendung des SWR
auch vorlesen lassen.
Referenzpunkte
Goethe (Faust) und Inger Christensen (Det):
Gleich die
ersten vier Verse erinnern an den Beginn der berühmtesten deutschen
Versdichtung, Goethes Faust. Bei Goethe heißt es in der „Zueignung“:
Ihr naht euch
wieder, schwankende Gestalten
Die früh sich
einst dem trüben Blick gezeigt,
Versuch ich
wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein
Herz noch jenem Wahn geneigt?
Ann Cotten
schreibt:
Sie sind nun
blasser, weniger verständlich,
die Schemen, da man sie in Armen
hat.
Ich wendete
das Leben hin und her verschwenderisch,
jetzt macht es mich mit seinen
Karmen matt. (S.7)
Das sind zwei
intentional vergleichbare Anfänge, ohne dass das jeweilige Projekt schon
deutlich würde. Etwas Faustisches also erwartet uns, vielleicht ein weiblicher
Faust? Damit ist die Latte hoch gelegt – höher geht’s nicht –, an der Ann
Cotten sich messen will, oder ist es nur der Anfang zu einem wilden
Verse-Zirkus? In der vierten Strophe bekennt sie sich zu einem „Revue-Stil“, zu
einer Leichtigkeit, die Goethe so gewiss nicht hatte. Aber:
Dass auch die
flachen Böden süße Möhren bergen,
ist allen Möhrenfreunden
wohlbekannt.
Dennoch kanns
sein, dass meine Strophen stören werden
Den wohlgeeichten literarischen
Verstand. (S. 8)
Die Autorin
baut der erwarteten Kritik vor, um dann in der fünften Strophe mit der
Zitierung von Inger Christensen in die Modernität des 20. Jahrhunderts
vorzudringen. „Handlung“ wird es in ihrem Werk nur als „Untergrund für dieses
Reimewesen“ geben. Auf so etwas wie einen „Plot“ werden wir lange warten können
(vgl. Strophe 5). Ein Hauptwerk der dänischen Lyrikerin Inger Christensen ist „det“(1969, deutsch „Das“), ein Weltgedicht in Anlehnung an Dantes Divina Commedia
mit Lust an Subversivität und Sympathie für R.D. Laing.
In den letzten
Versen ihrer Einleitung sieht sich Ann Cotten als „modernen Marquis de Sade in
Fraungestalt“. Das alles erhöht natürlich die Erwartungshaltung. (Im nächsten Beitrag werde ich mich der Strophe 6 widmen müssen. Lest sie schon mal!)
P.S.: Meinolf
Reul hat in signaturen-magazin.de die mir bisher sympathischste Rezension zu „Verbannt!“
geschrieben. Er macht darauf aufmerksam, dass die Anzahl der Strophen – 403 –
mit dem http-Code 403 korrespondiert: Forbidden – Access is denied, dem jeder Computernutzer schon einmal begegnet ist. Da das
Internet in dem Epos eine große Rolle spielt, ist das gar nicht so abwegig. Wie
sagte ich: ein spielerisch-sperriges Verswerk!
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