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Samstag, 11. Juni 2016

Ann Cotten, „Verbannt!“ - Ein Lesetagebuch (1)



Ann Cottens Versepos „Verbannt!“ ist im März erschienen und im deutschen Feuilleton bereits mehrfach als „Meisterwerk“ beschrieben worden, ohne dass so recht deutlich wurde, warum. Aus den Ankündigungen und Rezensionen lässt sich entnehmen, dass es um eine Art weibliche Robinsonade auf einer Insel namens „Hegelland“ geht. Ich habe das Buch gelesen und möchte in den folgenden Tagen (Wochen?) versuchen, meinen Eindruck von diesem spielerisch-sperrigen Verswerk zu beschreiben.



Es handelt sich um ein Epos in 403 in der Regel neunzeiligen Strophen (sogenannte Spenserstrophen mit festem Reimschema). Das hat es in der deutschen Literatur seit Unzeiten nicht mehr gegeben, und natürlich fragt man sich, was das soll.


Ann Cotten gibt in ihrer „Einleitung“ in 24 Strophen zahlreiche Hinweise und indirekte Erläuterungen zu dem, was den Leser erwartet, sowohl was die Form als auch was den Inhalt betrifft. Daraus lässt sich mehr entnehmen, als die bisherigen Rezensionen haben verlauten lassen, die die Autorin und ihr Werk allesamt als „schwierig“ einstufen.


Ich widme mich heute nur einem Teil dieser Einleitung (Strophe 1, 4, 5 und 23). Der Text ist übrigens in einer Leseprobe zugänglich, die der Suhrkamp Verlag auf seiner Website zur Verfügung gestellt hat. Die ersten Seiten des ersten Kapitels, die auch noch zur Leseprobe gehören, kann man sich in der Büchersendung des SWR auch vorlesen lassen.



Referenzpunkte Goethe (Faust) und Inger Christensen (Det):



Gleich die ersten vier Verse erinnern an den Beginn der berühmtesten deutschen Versdichtung, Goethes Faust. Bei Goethe heißt es in der „Zueignung“:



Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt,
Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?



Ann Cotten schreibt:



Sie sind nun blasser, weniger verständlich,
                die Schemen, da man sie in Armen hat.
Ich wendete das Leben hin und her verschwenderisch,
                jetzt macht es mich mit seinen Karmen matt. (S.7)



Das sind zwei intentional vergleichbare Anfänge, ohne dass das jeweilige Projekt schon deutlich würde. Etwas Faustisches also erwartet uns, vielleicht ein weiblicher Faust? Damit ist die Latte hoch gelegt – höher geht’s nicht –, an der Ann Cotten sich messen will, oder ist es nur der Anfang zu einem wilden Verse-Zirkus? In der vierten Strophe bekennt sie sich zu einem „Revue-Stil“, zu einer Leichtigkeit, die Goethe so gewiss nicht hatte. Aber:



Dass auch die flachen Böden süße Möhren bergen,
                ist allen Möhrenfreunden wohlbekannt.
Dennoch kanns sein, dass meine Strophen stören werden
                Den wohlgeeichten literarischen Verstand. (S. 8)


Die Autorin baut der erwarteten Kritik vor, um dann in der fünften Strophe mit der Zitierung von Inger Christensen in die Modernität des 20. Jahrhunderts vorzudringen. „Handlung“ wird es in ihrem Werk nur als „Untergrund für dieses Reimewesen“ geben. Auf so etwas wie einen „Plot“ werden wir lange warten können (vgl. Strophe 5). Ein Hauptwerk der dänischen Lyrikerin Inger Christensen ist „det“(1969, deutsch „Das“), ein Weltgedicht in Anlehnung an Dantes Divina Commedia mit Lust an Subversivität und Sympathie für R.D. Laing.

In den letzten Versen ihrer Einleitung sieht sich Ann Cotten als „modernen Marquis de Sade in Fraungestalt“. Das alles erhöht natürlich die Erwartungshaltung. (Im nächsten Beitrag werde ich mich der Strophe 6 widmen müssen. Lest sie schon mal!)



P.S.: Meinolf Reul hat in signaturen-magazin.de die mir bisher sympathischste Rezension zu „Verbannt!“ geschrieben. Er macht darauf aufmerksam, dass die Anzahl der Strophen – 403 – mit dem http-Code 403 korrespondiert: Forbidden – Access is denied, dem jeder Computernutzer schon einmal begegnet ist. Da das Internet in dem Epos eine große Rolle spielt, ist das gar nicht so abwegig. Wie sagte ich: ein spielerisch-sperriges Verswerk!


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