Ann Cotten (Foto: Stephan Rumpf) |
Deshalb kann mein Versuch, Cottens Einleitung in „Alltagssprache“ zusammenzufassen, die Leser
auch in die Irre führen: solch eine Rationalisierung wird dem lyrischen Ich,
das sich hier sprachlich entblättert, nicht gerecht. Sie soll nur die
neugierige Grundhaltung befördern: Ach, hier geht es um etwas Konkretes aus
unserem Alltagsleben! Ja, das tut es! Aber ganz anders!
Der Text erhält
durch seine lyrischen Anspielungen, Zitate, Reime, Wörterwelten immer neue
Dimensionen. In meinem ersten Beitrag habe ich meine Assoziation zu den Anfangsversen
von Goethes Zueignung zum „Faust“ erwähnt. Und so gibt es vieles, immer wieder
Neues, auch in der Einleitung schon, das in einer „Zusammenfassung“ gar nicht
vorkommt.
Ein Beispiel:
Strophe 3 der Einleitung habe ich wie folgt zusammengefasst: „Ann erinnert sich
an das Frauwerden und die damit verbundenen gesellschaftlichen Zwänge“. Was
steht dort wirklich:
Verwirrt von
alten Schirrungen also, die Brust der Mädchen
Für Schwellung
vorbereitend – für zwei kleine Schädchen,
von oben
anzusehn wie Kuppelgräber,
in denen
Hoffnungen liegen wie zwei heilige Rüstungen-,
zusammen mit
den einwohnenden Geistern von mir selber
will ich
rostfrei polieren mit Information die Utopien,
(…)
Diese paar
Verse sind so übervoll mit Inhalt, mit lyrischen und mit Denkbildern, dass
jeder Leser, jede Leserin sie selber füllen und fühlen muss. Keine
Zusammenfassung oder Explikation kann das erfassen. Zum Beispiel: Cotten
benutzt das alte Wort „Schirrung“, das aus dem Zusammenhang von Zug- und Reittierhaltung
kommt, in Zusammenhang mit dem ersten Büstenhalter, und wo logischerweise das
Wort „Schälchen“ hätte stehen müssen, kommt sie mit dem Reim „Schädchen“ (auf
Mädchen).
In die
Abgründe dieser Verse muss man sich einfach fallen lassen.
Aber sie
machen mich nicht sprachlos. Mein Lesetagebuch geht weiter. Pausen kann es
geben, man braucht sie auch. Das Buch bietet eine Entdeckungsreise, für die die
Wahrnehmungsorgane immer wieder neu justiert werden müssen.
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