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Mittwoch, 1. Juni 2016

Ard Posthumas niederländische Übersetzung von Goethes „West-östlichem Divan“



Viele Klassiker der Weltliteratur erhalten im Deutschen alle paar Jahrzehnte eine neue Übersetzung. Man denke etwa an Svetlana Geiers Neuübertragungen der Romane Dostojewskijs oder an Elisabeth Edls Neufassung von Flauberts „Madame Bovary“. Neben der Ausmerzung von Fehlern und Schlampigkeiten älterer Übersetzungen geht es dabei um die Präsentation des Werkes in  sprachlicher Frische auf der Höhe der Gegenwart. Dafür wurden Svetlana Geier und Elisabeth Edl zurecht gepriesen. Übersetzungen und Neuübersetzungen sind nicht nur sprachlich-kulturelle Translationskunstwerke, sondern auch Zeitmaschinen: sie holen das Werk immer wieder aus der Vergangenheit in unsere Zeit hinein.


Dass dies auch so funktioniert, wenn ein klassisches deutsches Werk heute in eine Fremdsprache übersetzt wird, habe ich mir bis zu der Begegnung mit Ard Posthumas Übertragung von Goethes „West-östlichem Divan“ ins Niederländische nicht klar gemacht.

Bei der Vorstellung seiner Übersetzung in der Groninger Buchhandlung Godert Walter hat Ard Posthuma im Gespräch mit Coen Peppelenbos anhand einer Reihe von Beispielen gezeigt und erläutert, wie seine Arbeit im Niederländischen zu wunderschönen, frischen, verständlichen Gedichten führt, sprachlich einfacher als im Goethe-Deutsch, aber – wie ich es sehe - ohne Verlust an „Tiefe“ (um eventuellen deutschen Gegenargumenten gleich einmal Paroli zu bieten).


„Gingko biloba“ ist das berühmteste Gedicht des „Divans“ (1819/1827). Sein Thema, das Gingkoblatt, repräsentiert neben dem philosophischen Prinzip der Zwei-Einheit auch die Liebe zwischen Goethe und seiner späten Freundin Marianne von Willemer. In den Weimarer Museums-Shops wird das Blatt in zahllosen Ausfertigungen als Schmuck für reife Bildungsbürgerinnen verkauft.




Schauen wir uns die erste Strophe bei Goethe an:



Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.


Für den heutigen deutschen Leser hat das etwas Holpriges, Umständliches, ja geradezu Unverständliches: Der seinem Bezugswort vorangestellte Genitiv (dieses Baums Blatt) und das von seinem Bezugswort verwirrend entfernte Relativpronomen (Baums Blatt, der) bringen den Leser erst einmal ins Verständnis-Stolpern. Und was soll denn das bedeuten: der von Osten dem Garten anvertraute Baum? Nun gut, dem Germanisten ist’s nicht fremd; aber doch!


Wie wunderbar einfach, verständlich und ohne Sinnverlust erscheint dies jedoch in Ard Postumas Übersetzung:



In dit blad, door mij vanmorgen
Van de gingkoboom geplukt,
Ligt een zoet geheim verborgen
Dat de vinder diep verrukt.



Puristen mögen bedauern, dass der für den „West-östlichen Divan“ so bedeutungswichtige “Osten” als Herkunftsmerkmal des Baumes, aber auch als Träger von philosophischem Geheimwissen aus dem Gedicht verschwunden zu sein scheint, aber so ganz stimmt das ja nicht: Ard Postuma holt das Östliche ganz einfach über die Nennung des exotischen Namens „gingkoboom“ wieder ins Gedicht hinein. Der „Garten“ allerdings ist wirklich weg, aber die mit dem Garten verbundene paradiesische Intimität erzeugt Posthuma durch den Akt des  Pflückens des Blattes am Morgen, das so bei Goethe ja gar nicht vorkommt. Das ist ein wenig frei übersetzt, aber alle Goetheschen Konnotationen sind im niederländischen Text enthalten, und es liest sich wunderbar.


Hier ist der komplette Text zum Vergleich:



Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut,

Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Dass man sie als Eines kennt?

Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Dass ich Eins und doppelt bin?



In dit blad, door mij vanmorgen
Van de gingkoboom geplukt,
Ligt een zoet geheim verborgen
Dat de vinder diep verrukt.

Is het soms één levend wezen
Dat zichzelf in tweeën deelt?
Of zijn het er twee, verweven
En verenigd in één beeld?

Waar dit raadsel op mag doelen,
Beter dat ik het beken:
Kun je aan mijn vers niet voelen
Dat ik één en dubbel ben?
 
Der Übersetzer wies im Gespräch auch nachdrücklich auf die Selbstverständlichkeit hin, mit der Deutschlands größter Autor die Kultur des Islam und die religiösen Vorstellungen des Korans für seine Gedichte adaptiert: der Islam gehört zu Goethe. Das darf man sich in heutigen Zeiten ruhig hinter die Ohren schreiben!


Und als wollte ein geheimes Geschick den Übersetzer-Helden auf seine paradiesische Belohnung vorbereiten, zog während des Gesprächs zwischen 20 und 21 Uhr ein nicht enden wollender Strom junger Mädchen an der Glasfront der Buchhandlung vorbei. Sie stiegen unbekümmert lachend und schwatzend himmelan die Treppe ins Nachbarhaus hinauf zu einer der Groninger Studentinnenpartys.


Vergleiche dazu die folgende Strophe aus dem "Divan" (Buch des Paradieses), wo im Gedicht „Berechtigte Männer“ den Helden das große Glück im Jenseits verheißen wird:


Und nun bringt ein süßer Wind von Osten
Hergeführt die Himmels-Mädchenschar;
Mit den Augen fängst du an zu kosten,
Schon der Anblick sättigt ganz und gar.


Neugierig lugten die Groninger Himmels-Mädchen durch die Scheiben und starrten auf den ihnen unbekannten Helden. Neugierig und teils irritiert lugte das Publikum hinaus. Tja, Ard, du hast die Ironie der Stunde gewiß erfasst:



Forschend stehn sie, was du unternahmest?
Große Plane? Fährlich blutgen Strauß?
Daß du Held seist sehn sie, weil du kamest;
Welch ein Held du seist? Sie forschens aus.


Nun, hier handelt es sich um eine ganz andere Heldentat. Lasset uns hoffen, dass die Groninger Mädchen mit Hilfe des großen Mittlers Ard Posthuma einmal Bekanntschaft mit Goethe machen können:

Johann Wolfgang Goethe, West-oostelijke divan, vertaald door Ard Posthuma, Uitgeverij Flanor, Nijmegen 2016, €19,50

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