Viele Klassiker
der Weltliteratur erhalten im Deutschen alle paar Jahrzehnte eine neue
Übersetzung. Man denke etwa an Svetlana Geiers Neuübertragungen der Romane
Dostojewskijs oder an Elisabeth Edls Neufassung von Flauberts „Madame Bovary“.
Neben der Ausmerzung von Fehlern und Schlampigkeiten älterer Übersetzungen geht
es dabei um die Präsentation des Werkes in sprachlicher Frische auf der Höhe der
Gegenwart. Dafür wurden Svetlana Geier und Elisabeth Edl zurecht gepriesen.
Übersetzungen und Neuübersetzungen sind nicht nur sprachlich-kulturelle
Translationskunstwerke, sondern auch Zeitmaschinen: sie holen das Werk immer
wieder aus der Vergangenheit in unsere Zeit hinein.
Dass dies auch so
funktioniert, wenn ein klassisches deutsches Werk heute in eine Fremdsprache
übersetzt wird, habe ich mir bis zu der Begegnung mit Ard Posthumas Übertragung
von Goethes „West-östlichem Divan“ ins Niederländische nicht klar gemacht.
Bei der Vorstellung
seiner Übersetzung in der Groninger Buchhandlung Godert Walter hat Ard Posthuma
im Gespräch mit Coen Peppelenbos anhand einer Reihe von Beispielen gezeigt und
erläutert, wie seine Arbeit im Niederländischen zu wunderschönen, frischen,
verständlichen Gedichten führt, sprachlich einfacher als im Goethe-Deutsch,
aber – wie ich es sehe - ohne Verlust an „Tiefe“ (um eventuellen deutschen
Gegenargumenten gleich einmal Paroli zu bieten).
„Gingko
biloba“ ist das berühmteste Gedicht des „Divans“ (1819/1827). Sein Thema, das
Gingkoblatt, repräsentiert neben dem philosophischen Prinzip der Zwei-Einheit auch
die Liebe zwischen Goethe und seiner späten Freundin Marianne von Willemer. In
den Weimarer Museums-Shops wird das Blatt in zahllosen Ausfertigungen als
Schmuck für reife Bildungsbürgerinnen verkauft.
Schauen wir
uns die erste Strophe bei Goethe an:
Dieses Baums
Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen
Sinn zu kosten,
Wie’s den
Wissenden erbaut.
Für den
heutigen deutschen Leser hat das etwas Holpriges, Umständliches, ja geradezu
Unverständliches: Der seinem Bezugswort vorangestellte Genitiv (dieses Baums
Blatt) und das von seinem Bezugswort verwirrend entfernte Relativpronomen
(Baums Blatt, der) bringen den Leser erst einmal ins Verständnis-Stolpern. Und
was soll denn das bedeuten: der von Osten dem Garten anvertraute Baum? Nun gut,
dem Germanisten ist’s nicht fremd; aber doch!
Wie wunderbar
einfach, verständlich und ohne Sinnverlust erscheint dies jedoch in Ard
Postumas Übersetzung:
In dit blad, door mij vanmorgen
Van de gingkoboom geplukt,
Ligt een zoet geheim verborgen
Dat de vinder diep verrukt.
Puristen mögen
bedauern, dass der für den „West-östlichen Divan“ so bedeutungswichtige “Osten”
als Herkunftsmerkmal des Baumes, aber auch als Träger von philosophischem
Geheimwissen aus dem Gedicht verschwunden zu sein scheint, aber so ganz stimmt
das ja nicht: Ard Postuma holt das Östliche ganz einfach über die Nennung des
exotischen Namens „gingkoboom“ wieder ins Gedicht hinein. Der „Garten“
allerdings ist wirklich weg, aber die mit dem Garten verbundene paradiesische
Intimität erzeugt Posthuma durch den Akt des Pflückens des Blattes am Morgen, das so bei
Goethe ja gar nicht vorkommt. Das ist ein wenig frei übersetzt, aber alle
Goetheschen Konnotationen sind im niederländischen Text enthalten, und es liest
sich wunderbar.
Hier ist der
komplette Text zum Vergleich:
Dieses Baums
Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut,
Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Dass man sie als Eines kennt?
Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Dass ich Eins und doppelt bin?
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut,
Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Dass man sie als Eines kennt?
Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Dass ich Eins und doppelt bin?
In dit blad, door mij vanmorgen
Van de gingkoboom geplukt,
Ligt een zoet geheim verborgen
Dat de vinder diep verrukt.
Is het soms één levend wezen
Dat zichzelf in tweeën deelt?
Of zijn het er twee, verweven
En verenigd in één beeld?
Waar dit raadsel op mag doelen,
Beter dat ik het beken:
Kun je aan mijn vers niet voelen
Dat ik één en dubbel ben?
Der Übersetzer
wies im Gespräch auch nachdrücklich auf die Selbstverständlichkeit hin, mit der
Deutschlands größter Autor die Kultur des Islam und die religiösen
Vorstellungen des Korans für seine Gedichte adaptiert: der Islam gehört zu
Goethe. Das darf man sich in heutigen Zeiten ruhig hinter die Ohren schreiben!
Und als wollte
ein geheimes Geschick den Übersetzer-Helden auf seine paradiesische Belohnung
vorbereiten, zog während des Gesprächs zwischen 20 und 21 Uhr ein nicht enden
wollender Strom junger Mädchen an der Glasfront der Buchhandlung vorbei. Sie
stiegen unbekümmert lachend und schwatzend himmelan die Treppe ins Nachbarhaus
hinauf zu einer der Groninger Studentinnenpartys.
Vergleiche dazu
die folgende Strophe aus dem "Divan" (Buch des Paradieses), wo im Gedicht „Berechtigte
Männer“ den Helden das große Glück im Jenseits verheißen wird:
Und nun
bringt ein süßer Wind von Osten
Hergeführt die
Himmels-Mädchenschar;
Mit den Augen
fängst du an zu kosten,
Schon der
Anblick sättigt ganz und gar.
Neugierig
lugten die Groninger Himmels-Mädchen durch die Scheiben und starrten auf den
ihnen unbekannten Helden. Neugierig und teils irritiert lugte das Publikum
hinaus. Tja, Ard, du hast die Ironie der Stunde gewiß erfasst:
Forschend
stehn sie, was du unternahmest?
Große Plane? Fährlich
blutgen Strauß?
Daß du Held
seist sehn sie, weil du kamest;
Welch ein Held
du seist? Sie forschens aus.
Nun, hier
handelt es sich um eine ganz andere Heldentat. Lasset uns hoffen, dass die
Groninger Mädchen mit Hilfe des großen Mittlers Ard Posthuma einmal
Bekanntschaft mit Goethe machen können:
Johann Wolfgang Goethe, West-oostelijke divan, vertaald door Ard Posthuma, Uitgeverij Flanor, Nijmegen 2016, €19,50
Johann Wolfgang Goethe, West-oostelijke divan, vertaald door Ard Posthuma, Uitgeverij Flanor, Nijmegen 2016, €19,50
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