Vor
ein paar Jahren ging uns ein kleines gerahmtes Bild zu Bruch. Ich weiß nicht
mehr, was es war, irgendwas aus dem Trödel. Als ich den zerbrochenen Rahmen und
das Glas entfernte und das Bild von dem Karton löste, auf dem es befestigt war,
entdeckte ich auf der Rückseite des Kartons ein anderes Bild, das mich sofort
faszinierte: nichts Besonderes, kein kostbarer Stich oder so, sondern ein
kleines deutsches Reklameposter aus den fünfziger oder frühen sechziger Jahren,
auf das ich mir absolut keinen Reim machen konnte: eine Werbung für
Osram-Glühbirnen mit dem schrägen Schwarz-Weiß-Foto einer rauchenden jungen Frau,
deren Gesicht leicht angeschmutzt war, wie das eines Bergwerkkumpels. Dazu der
Text: „Osram-Nitraphot für Heimaufnahmen".
Im
Internet findet man dann heraus, dass Osram-Nitraphot offenbar eine legendäre
starke Glühbirne für Schmalfilmaufnahmen und professionelle Fotografie war,
aber die junge Frau blieb mir ein Rätsel. Sie strahlte Aufsässigkeit und
Widerstand aus. Das gefiel mir. Wegen des merkwürdigen Kontrasts ließ ich das
Bild neu rahmen und suchte einen passenden Ort: Es hängt seitdem in unserer
Küche in Groningen.
Ein
paar Wochen nach meinem Fund ging ein neues Thema durch die deutsche Presse: Eine
Interessengemeinschaft ehemaliger Heimkinder hatte sich zu Wort gemeldet, eine
neue Gruppe im immer anwachsenden Opferdiskurs zum Zweiten Weltkrieg. Und auch
sie meldet, man ahnt es, einen Anspruch auf Entschädigung an. Nach dem Krieg
gab es hundertausende von Waisen und in ihrem Sozialverhalten geschädigten
Kindern, die rigoros in Heime verschiedener Organisationen eingewiesen wurden. Sie
wurden dort von schwarzen Pädagogen der besonderen Art empfangen, behandelt und
verwaltet; es muss ziemlich schrecklich gewesen sein. Dass diese Gruppe jetzt
verstärkt an die Öffentlichkeit tritt, hat seine generationsspezifische Logik:
vor fünfzehn Jahren waren es die von den Russen vergewaltigten Frauen, die
fünfzig Jahre danach zum Sprechen über das Geschehene gefunden haben, jetzt ist
es die Gruppe der im Laufe der fünfziger Jahre zwangseingewiesenen und
misshandelten Heimkinder, die ein Bedürfnis zur öffentlichen Artikulation
entwickelt hat.
Für
mich war das die Aufklärung eines Rätsels. Dass das Poster irgendwie ironisch
gemeint war, ist mir schon klar gewesen, dass es aber angesichts dieses
Hintergrunds doch einen ziemlich widerlichen Zynismus beinhaltet, musste ich
erst verdauen. Die Aufklärung des Hintergrunds vermindert nicht die kuriose
Intensität des Bildes, im Gegenteil: Es darf hängen bleiben.
Diesen
Bericht habe ich soweit vor etwa sechs Jahren in meinem alten Blog geschrieben. Inzwischen hat sich die Thematik in den Medien mehr in den Bereich sexueller Misshandlung von Heimkindern in der Nachkriegszeit verschoben.
Da ich
das Bild jetzt mit nach Berlin genommen habe und ich das vermeintliche
Heimmädchen jeden Tag in unserer kleinen Küche sehe, will ich noch eine kleine
Fortsetzung schreiben:
Meine
Interpretation von „Heimaufnahme“ im Zusammenhang mit diesem Reklameposter stieß
in meiner Umgebung auf heftigen Widerspruch (ohne dass man eine andere Lösung
angeboten hätte). Hier sei deutlich ein Fall von „Hineininterpretieren“
gegeben.
Ich
ließ das nicht auf mir sitzen und schrieb an die Werbeabteilung von Osram in München,
in der Hoffnung, dass es dort ein anständiges Archiv mit sachverständigen Leute
gäbe. Leider konnte man mir aber keine Auskunft zu meinem Bild geben.
Jetzt liegt meine Hoffnung noch bei einem Berliner Freund, der als Kunsthistoriker
in der Plakatsammlung des Berliner Kunstgewerbemuseums gearbeitet hat. Aber ich bin natürlich auch auf Kommentare aus der Leserschaft von Café Deutschland gespannt. Fortsetzung folgt?