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Sonntag, 21. September 2014

Arbeit im Gelände – Zu Jochen Schimmangs „Grenzen Ränder Niemandsländer“


Dieses schöne kleine Buch ist kein Roman, keine Autobiographie, keine Essaysammlung, auch wenn es von allem etwas hat. Gleich zu Anfang beschreibt uns Jochen Schimmang, wie er als Schüler einmal vergeblich versucht hat, zusammen mit einem Freund am schulfreien Reformationstag bei Nieuweschans über die niederländische Grenze nach Holland einzureisen: „Am Schlagbaum, am Häuschen pflanzte sich ein ziemlich langer Holländer in einem fast ebenso langen schwarzen Uniformmantel und mit einer schwarzen Schirmmütze vor uns auf und fragte: ‚Warum seid ihr von zu Hause weggelaufen?’“ (S. 9)

Dem schwarzen Mann war nicht klarzumachen, dass die beiden korrekt mit Personalausweis und etwas Geld ausgerüsteten Jungs an diesem Tag keine Schule hatten. Schimmang führte das später darauf zurück, dass „die evangelischen Holländer nicht von der lutherischen Fraktion sind, sondern von der Soll-und Haben-Fraktion, den Calvinisten“.

Und doch: Ein wenig vom Weglaufen hatte die Situation schon, und der Autor beschreibt auch eine Szene, wie er als kleiner Junge mit dem Dreirad das elterliche Haus verlassen hatte und auf große Tour gehen wollte, bis sein Großvater ihn zurückholte: “Ich streifte umher, ich erkundete das Gelände, ich erweiterte meinen Radius, das war alles” (S. 64).



Jochen Schimmang
Der Untertitel dieses neuen Buches von Jochen Schimmang lautet „51 Geländegänge“. Das sollte man schon ernst nehmen, das darf man nicht vergessen während des Lesens, wie es einem Rezensenten geschehen ist, der „am liebsten verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen“ und „Welch Tohuwabohu!“ rufen wollte.



Nix Tohuwabohu: Dieses Buch handelt in 51 ausgefeilten und aufeinander bezogenen Prosastücken von der „Arbeit im Gelände“ – so die letzten drei Worte auf der letzten Seite -  und da wir wissen, dass Schimmangs Arbeit im Schreiben besteht, halten wir ihn auch nicht für einen Landarbeiter, sondern eher schon für einen Landvermesser, mit Grüßen von Kafkas K. (vgl. S. 146).

Das Gelände, in dem er sich aufhält und in dem er sich bewegt, liegt vorzugsweise in der Peripherie, am Rande, in den Zwischenräumen (siehe das Motto von Roland Barthes: „Schriftsteller = der Mensch des Zwischenraums“). Das gilt sowohl konkret, im geographischen, als auch abstrakt, im übertragenen Sinn.

Senkrecht zu dieser Raumachse peripherer Territorialität steht eine biographische Zeitachse: Der Leser erfährt viel aus Schimmangs Kindheit und Jugend und aus seinem Leben als Schriftsteller, aber auch Einiges aus seiner Sicht zu wichtigen historischen Ereignissen und Entwicklungen der 60er-90er Jahre. Das Gestaltungsprinzip des Buches ist also die Koppelung und Verschränkung der Perspektiven des Raumes und der biographischen und politischen Zeit, und das Ganze stellt eine Art „summa“ von Schimmangs Erfahrungen dar.

Ist es ein solipsistisches Buch? Nein! Was manchen vielleicht wie ein Gebilde aus Hölzchen und Stöckchen vorkommt, erweist sich als eine Art Prosaskulptur, die auf der einen Seite wie Jochen Schimmang aussieht, aber auf der anderen wie das Porträt einer ganzen Generation.

Einige Themen erhalten deutlich mehr Raum als andere, zum Beispiel das England der Thatcher-Jahre (S. 68-83), das Thema „Heimat“  (S. 127-136) und der wahlverwandte französische Schriftsteller Julien Gracq, von dem Schimmang sich die Formel „Arbeit im Gelände“ geborgt hat (S. 52-58).

Die Königsfigur unter den vielen angeführten Schriftstellern – die Liste „Zum Nach- und Weiterlesen“ im Anhang führt unter anderen Jürgen Becker, Emmanuel Bove, Danilo Kiš und Patrick Modiano auf – ist jedoch Peter Handke: Allein von ihm stehen fünf Titel in der zwanzig Werke umfassenden Liste. Handke zieht sich durch das ganze Gelände-Werk, und drei Mal – wie in einem Märchen – besucht Jochen Schimmang den bewunderten Schriftsteller persönlich in seiner „Niemandsbucht“ in Chaville (S. 27-30, 108-113 und 136-139). Beim dritten Mal stieg Handke während einer nächtlichen Taxifahrt nach einem Streit mit dem Chauffeur mitten auf der Strecke aus dem Auto, „hüpfte über die Leitplanke und verschwand die Böschung hinunter, sofort vom Dunkel verschluckt“ (S. 139). Der Königsweg des Verschwindens also: Das passt auch sehr gut zu Jochen Schimmang! Hat der Landvermesser S. da seinen Meister gefunden?

Bei 51 Kapiteln gibt es eines, das in der Mitte steht: das sechsundzwanzigste; es handelt vom Gefängnis, vom Eingesperrtsein. Und es wird eingerahmt von zwei Kapiteln, die von Flucht und Aussperrung handeln. Das ist wohl kein Zufall, denn die Aversion gegen die Mitte zieht sich durch das ganze Buch. Schimmangs  letzte literarische Veröffentlichung war die Dystopie „Neue Mitte“ (2011), die 2029 in einem nach einer Junta-Herrschaft zerstörten Berlin spielt.

Müssen wir uns Jochen Schimmang als einen unglücklichen Menschen vorstellen? Nein, denn er hat, mindestens einmal in seinem Leben, einen großen „Moment der Unsterblichkeit“ gehabt: Bei einem Treffen mit Schülerzeitungsredakteuren 1965 in Hannover landete er mit einer Gruppe hoffnungsvoller Jungjournalisten in einer Kneipe mit einer Musicbox voller Beatles-Lieder. „Die Musik schien von Stunde zu Stunde lauter zu werden, und der Abend leuchtete umso stärker, je länger er dauerte und je mehr die Konturen milde verschwammen. We can work it out, sangen die Beatles, life is very short, sang John Lennon im Mittelteil, and there’s no time for fussing and fighting, my friend. […] Aber das würde alles noch kommen, wie überhaupt das Leben noch kommen würde, wir hatten sehr viel Zeit, und an diesem Abend jedenfalls waren wir unsterblich. Danke, lieber Gott und danke, Hannover, wenigstens einmal was richtig gemacht“ (S. 45f.).


Für mich, den Rezensenten, der damals mit Jochen in derselben Schülerzeitungsredaktion saß, hat sich ein ähnlicher Moment erst drei Jahre später ergeben, als wir eigentlich schon in alle Richtungen auseinander gegangen waren: Bei einem Wiedersehen Ende 1968 in der Nische (sic!  Siehe auch: Jochen Schimmang, Der schöne Vogel Phönix, 1979, S. 42-57) im Gastraum des merkwürdigen Hotels „Haus Hindenburg“ in Leer/Ostfriesland zelebrierte unsere Gruppe mit einem Pickup-Plattenspieler das gerade herausgekommene „Weiße Album“ der Beatles. Es lässt sich kaum beschreiben, was diese Musik damals für Hochgefühle in unserer Generation erzeugt hat.

Erinnerungsbücher der 68er-Generation gibt es bereits reichlich, aber nur wenige, die in Form und Inhalt ein Experiment darstellen, wie dieses.

Helmut Lethen wäre zu nennen, dessen „Suche nach dem Handorakel“ sich durchaus als Parallelwerk zu Schimmangs „Grenzen“ betrachten lässt. Während Lethen jedoch ausschließlich von „Büchern“ spricht und auf einen eingeweihten Kreis von Linksintellektuellen zielt (siehe http://cafe-deutschland.blogspot.nl/2013/08/helmuth-lethen-auf-der-suche-nach-dem.html ) , erscheint Schimmangs ästhetischer Ansatz demgegenüber origineller, zugänglicher, spannender.

Oder Botho Strauß‘  Buch „Vom Aufenthalt“, das viel fragmentarischer und „literarischer“ konstruiert ist und das mir in seiner Art „näher“ ist als Schimmangs „Grenzen“,  weil es mehr mit Kategorien von „Zeit“ arbeitet als mit denen des Raumes und weil es formal mehr dem ähnelt, was ich unter einem „Blog“ verstehe (siehe http://cafe-deutschland.blogspot.nl/2012/02/poetologie-des-blogs-2-hilfe-von-botho.html ).


Das grundlegende Menetekel an der Wand dieser Generation ist das von Auschwitz. Schimmang beschreibt die Folgen von Auschwitz für sich als „jene Depression, die bis heute mein Leben grundiert und mich auch nicht verlassen wird, weil sie behandlungsresistent sein dürfte“ (S. 25). Diese Depression überschattet auch seine Haltung zum Nationalen, beziehungsweise er reagiert hier wie auch sonst in seinem Leben: mit Flucht. Mit dem Rückzug in die Nische (die Gnade der Geburt nicht in Deutschland, sondern in der britischen Besatzungszone, siehe http://cafe-deutschland.blogspot.nl/2014/09/born-in-bzo-british-zone-of-occupation.html ) ist es nach Meinung des Rezensenten da allerdings nicht getan, und auch Arno Schmidts dahingerotzter Spruch „The Germany can me furchtbar lecken“, den der Autor als Motto verwendet, hilft hier nicht weiter. Auschwitz fordert Verantwortung als Deutscher, nicht Rückzug aus der Nationalität.

Und so ist mir denn auch das Urteil des Autors über W.G. Sebald unverständlich, mit dem er ihm die „Selbststilisierung zum Verfolgten und Emigranten post festum“ (S. 26) vorwirft. Sebald hat sich, insbesondere in „Austerlitz“, seiner Verantwortung gestellt.

Jochen Schimmang, Grenzen Ränder Niemandsländer. 51 Geländegänge, 156 S., Edition Nautilus, Hamburg 2014, 16,95 Euro

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