Ich habe meine Wette verloren: Auf der Fahrt in die vornehme
Dunkelheit Dahlems fragte ich G., wie viele Besucher ihrer Meinung nach zu dem
von der Zeitschrift „Merkur“ organisierten Podiumsgespräch „Zur Lage des
Essays“ kommen würden. Sie sagte „Entweder zwei oder vierzig“, ich: „Zwölf“.
Michael Rutschky |
Kathrin Passig |
Im Publikum saßen außerdem zwei eingeladene
Redakteure der Literaturzeitschrift „Edit“, in deren neuem Heft ein Essaypreis
verliehen wird. Sie hatten 500 Einsendungen, fifty/fifty von Frauen und
Männern.
Über die Zukunft des Essays habe ich an dem Abend nichts
erfahren. Wenn es ein echtes Gespräch auf dem Podium gegeben hätte, wäre das
vielleicht möglich gewesen. Es blieb aber weitgehend bei starr ins Publikum
gesprochenen Statements.
Dennoch war es kein verlorener Abend, denn natürlich wurde einiges
Erhellendes zum Phänomen des Essays gestern und heute gesagt und so lässt sich
hoffen, dass diese Lichtblitze in den Köpfen des Publikums neue Verbindungen
eingehen.
Ein Beispiel: Kathrin Passig, die ihre öffentliche Position
vor allem in digitalen Medien erworben hat, aber auch zum Beispiel im Merkur
schreibt, berichtete von ihrem Unbehagen bei dem Auftrag, einen Essay von
20.000 Zeichen zu schreiben (etwa 8 Seiten), da der ihr geläufige Umfang bei
5000 Zeichen ( 2 Seiten) liege.
Ein bis zwei Seiten, oder weniger, das ist die Länge von Blog-Posts. Die Schlussfolgerung, die ich beim Zuhören daraus zog, wurde jedoch
auf dem Podium nicht formuliert: Beim heutigen und mehr noch beim zukünftigen
Lesepublikum werden Kurzessays gefragt sein, die auf mehr oder weniger
spezialisierten Webforen angeboten werden.
Ein weiterer Faktor: die zunehmende Präsenz des schreibenden „Ich“ und seiner Alltagserfahrung im Essaytext. Das kam gestern sehr wohl zur
Sprache, aber zunächst ex negativo:
Georg Stanitzek wies darauf hin, dass ein junger Geisteswissenschaftler, der
subjektive Essays in seine Publikationsliste aufnimmt, keine Chance im
deutschen Wissenschaftsbetrieb habe. Und im traditionellen deutschen Essay
(Friedrich Sieburg) waren das „Ich“ und seine Alltagserfahrungen tabu. Amanda
DeMarco berichtete dagegen von einer deutlichen Zunahme von Sachtexten mit
Ich-Perspektive im US-Kulturbetrieb.
Diese Trends gibt es auch in deutschen Medien. Beim
Essay-Wettbewerb der Süddeutschen Zeitung (jetzt.de) erhielt 2009 ein Text den ersten Preis, der die genannten Merkmale vereint: Ich-Erzählung,
Alltagserfahrung und Kürze. Die Begründung der Jury zeigte aber, wie
ungewöhnlich das hierzulande noch empfunden wird.
Soviel zu meiner allmählichen Verfertigung einer Utopie des
Essays beim Zuhören im Topoi-Building, in dem sonst Forschungen zur Antike
betrieben werden. Welch ein Ort! Was mögen die anderen 40 Zuhörer sich gedacht
haben? Mindestens die Hälfte von ihnen waren Studenten und Studentinnen des
Essayseminars von Tobias Haberkorn. Es war ein schöner Abend.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen