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Samstag, 11. Januar 2014

Zur Lage des Essays – Über die allmähliche Verfertigung einer Utopie beim Zuhören im Topoi-Building der FU

Ich habe meine Wette verloren: Auf der Fahrt in die vornehme Dunkelheit Dahlems fragte ich G., wie viele Besucher ihrer Meinung nach zu dem von der Zeitschrift „Merkur“ organisierten Podiumsgespräch „Zur Lage des Essays“ kommen würden. Sie sagte „Entweder zwei oder vierzig“, ich: „Zwölf“.

Michael Rutschky
Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass ein so abgehobenes Thema viele Zuhörer anlocken würde, und ich selbst bin eigentlich nur hingefahren, um Michael Rutschky, dessen Essays im „Merkur“ ich seit Jahrzehnten lese, einmal leibhaftig zu sehen; und auch Kathrin Passig, von deren Begegnung mit Rutschky ich mir Lichtblicke auf Gegenwart und Zukunft des Essays versprach.

Kathrin Passig
Weitere Teilnehmer im „Topoi-Building“ der FU waren der Essay-Spezialist Georg Stanitzek (Uni Siegen), die amerikanische Verlegerin Amanda DeMarco (Readux), der Merkur-Redakteur Ekkehard Knörer (Moderator) und der FU-Dozent Tobias Haberkorn (Moderator).

Im Publikum saßen außerdem zwei eingeladene Redakteure der Literaturzeitschrift „Edit“, in deren neuem Heft ein Essaypreis verliehen wird. Sie hatten 500 Einsendungen, fifty/fifty von Frauen und Männern.

Über die Zukunft des Essays habe ich an dem Abend nichts erfahren. Wenn es ein echtes Gespräch auf dem Podium gegeben hätte, wäre das vielleicht möglich gewesen. Es blieb aber weitgehend bei starr ins Publikum gesprochenen Statements.

Dennoch war es kein verlorener Abend, denn natürlich wurde einiges Erhellendes zum Phänomen des Essays gestern und heute gesagt und so lässt sich hoffen, dass diese Lichtblitze in den Köpfen des Publikums neue Verbindungen eingehen.

Ein Beispiel: Kathrin Passig, die ihre öffentliche Position vor allem in digitalen Medien erworben hat, aber auch zum Beispiel im Merkur schreibt, berichtete von ihrem Unbehagen bei dem Auftrag, einen Essay von 20.000 Zeichen zu schreiben (etwa 8 Seiten), da der ihr geläufige Umfang bei 5000 Zeichen ( 2 Seiten) liege.

Ein bis zwei Seiten, oder weniger, das ist die Länge von Blog-Posts. Die Schlussfolgerung, die ich beim Zuhören daraus zog, wurde jedoch auf dem Podium nicht formuliert: Beim heutigen und mehr noch beim zukünftigen Lesepublikum werden Kurzessays gefragt sein, die auf mehr oder weniger spezialisierten Webforen angeboten werden.

Ein weiterer Faktor: die zunehmende Präsenz des schreibenden „Ich“ und seiner Alltagserfahrung im Essaytext. Das kam gestern sehr wohl zur Sprache, aber zunächst ex negativo: Georg Stanitzek wies darauf hin, dass ein junger Geisteswissenschaftler, der subjektive Essays in seine Publikationsliste aufnimmt, keine Chance im deutschen Wissenschaftsbetrieb habe. Und im traditionellen deutschen Essay (Friedrich Sieburg) waren das „Ich“ und seine Alltagserfahrungen tabu. Amanda DeMarco berichtete dagegen von einer deutlichen Zunahme von Sachtexten mit Ich-Perspektive im US-Kulturbetrieb.

Diese Trends gibt es auch in deutschen Medien. Beim Essay-Wettbewerb der Süddeutschen Zeitung (jetzt.de) erhielt 2009 ein Text den ersten Preis, der die genannten Merkmale vereint: Ich-Erzählung, Alltagserfahrung und Kürze. Die Begründung der Jury zeigte aber, wie ungewöhnlich das hierzulande noch empfunden wird.


Soviel zu meiner allmählichen Verfertigung einer Utopie des Essays beim Zuhören im Topoi-Building, in dem sonst Forschungen zur Antike betrieben werden. Welch ein Ort! Was mögen die anderen 40 Zuhörer sich gedacht haben? Mindestens die Hälfte von ihnen waren Studenten und Studentinnen des Essayseminars von Tobias Haberkorn. Es war ein schöner Abend.

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