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Montag, 18. März 2013

Jirgl auf Erden (4): Die lebendig gebratene Gans

Beim Weiterlesen in Reinhard Jirgls neuem Roman “Nichts von euch auf Erden” ist mir klar geworden, warum die Rezensenten noch schweigen. In diesem Buch kehren einerseits alle formalen und inhaltlichen Elemente der früheren Romane des Autors wieder; die sind schon irritierend genug, und man muss ein guter Kenner seiner Werke sein, um damit umzugehen (ich bin das nicht!). Durch die Gattungsverfremdung der Science fiction erhalten diese Elemente dann noch einen besonders exotischen und oft grausigen Dreh.

Dies ist ein Buch voller schrecklicher und bewegender Dinge, geschrieben in einer außergewöhnlich kraftvollen und kreativen Sprache. Es hat mich gepackt, und ich brauche Zeit dafür.

Ein paar kleinere Beobachtungen werde ich weiterhin präsentieren, heute zum Beispiel das Rezept der lebendig gebratenen Gans, die sich der Protagonist in einem Restaurant auf dem Erdmond bestellt. Es steht in einem tabletartigen “Speisenbuch” mit “mikroskopisch dünnen elektrischen Leitbahnen, die 1zelne Buchstaben zu Worten und Sätzen verbanden. Und so gestaltete sich das Folgende nicht vor meinen Augen, sondern direkt=in-meinem-Gehirn:”

"Nimm eine lebende Gans, berupfe sie bis auf den Hals und Kopf, mache rings um sie ein Feuer, nicht allzu nahe, auf daß sie nicht ersticke, sondern allgemach brate. Setze zu ihr ein Gefäß von Wasser, darunter Honig und Salz vermischt, damit sie oft möge trinken. Darnach nimm Aepfel, schneide sie klein, koche sie in einer Bratpfanne, beträufle damit oft die Gans, daß sie desto eher gebraten werde, rücke das Feuer näher zu ihr, aber doch eile nicht zu geschwind. Und wenn sie anhebt zu kochen, läuft sie inwendig im Feuer umher und begehrt zu fliegen; da sie es wegen des Feuers nicht zuwege bringen kann, trinkt sie ohne Unterlass, sich zu laben und zu kühlen. Und wenn sie heiß geworden, bratet und kocht sie auch inwendig, du mußt ihr aber ohne Unterlaß das Haupt und Herz mit einem feuchten Schwamm erkühlen. Und wenn sie anhebt zu zappeln und zu fallen, so nimm sie hinweg vom Feuer, lege sie auf eine Schüssel und gib sie den Gästen zu essen, so ist sie gebraten und lebt doch noch und schreit, wenn man von ihr schneidet."
(Reinhard Jirgl, Nichts von euch auf Erden, 292)

Wahrlich ein verstörendes Rezept!
Jirgl hat von seinem ersten Roman an die Methode der Textmontage verwendet, bei der er längere Zitate aus unterschiedlichsten Werken in eine neue Umgebung stellt und damit erschreckende Wirkungen erzielt. Hier gibt er einem kuriosen Text des siebzehnten Jahrhunderts die grausige Realität einer Cyberillusionen erzeugenden SF-Küche in einer Kaverne auf dem Mond, wo dieses Gericht real auf den Tisch kommt und verspeist wird. (Das wird auch noch ausführlich beschrieben.)

Jirgl nennt seine Quelle nicht. Sie ist aber auf Google schnell gefunden. Der Text stammt aus dem "Kunst- und Wunderbüchlein zur wohlbestellten Haushaltung" (Frankfurt am Main 1625) des Württemberger Schriftstellers Balthasar Schnurr (1572-1644).

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