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Mittwoch, 27. März 2013

Macht Platz fur Reinhard Jirgl – Alles von euch auf Erden

"Nichts von euch auf Erden": Welch ein großartiger, Grauen-voller Roman! Szenen mit Entsetzlichkeiten, die nur mühsam zu ertragen sind, wechseln mit Schilderungen von außerordentlicher Schönheit, Kraft und Gewalt. Jirgl bedient sich vieler Motive aus der Antike, der Bibel, der modernen und postmodernen Kultur: Muttermord, das biblische Buch Esra, Spielbergs Indiana Jones und vieles andere mehr. Er überträgt sie in eine Zukunft des 26. Jahrhunderts, um unsere Gegenwart zu ertragen. Für Abwechslung ist gesorgt! Am Ende steht das Verschwinden der Menschen.

Zwei der schönsten Passagen: die Beschreibung des tropischen Gartens der Freundin des Protagonisten, in dem das Paar dann seine erste Vereinigung erlebt. Erst also der Garten in seiner pflanzlichen Pracht, dann das postgenitale Sexerlebnis im 26. Jahrhundert. Was das genau bedeutet, verrate ich nicht, aber es geht um ungeahnte Körpersensationen, für die Jirgl unglaubliche Sprachergüsse und –zuckungen bereithält, seitenlang (142-148). Die ganze Szene ist wahrscheinlich als überhöhte Darstellung des jüdischen Laubhüttenfestes gedacht (Buch Esra!).

Ein anderes Beispiel: die Beschreibung eines Ausflugs des Protagonisten auf der lebensfeindlichen Marsoberfläche. Das sind Landschaftsbeschreibungen von einer im wahrsten Sinne des Wortes überirdischen Schönheit und Rauheit. Auch diese Szene hat einen Kulminationspunkt in der Begegnung mit einer menschenähnlichen, aber metallisch-felsigen Struktur am Eingang einer Schlucht. Sie ähnelt in ihrer Form dem Denker von Rodin, aber ihre wahre Natur bleibt ein Geheimnis.
Marspanorama
Und so ließen sich noch Dutzende überwältigende oder erschreckende Besonderheiten auflisten.

Ich will aber hier und heute eigentlich nur feststellen, dass ich mein Lesetagebuch zu diesem Roman beende, da es nur immer wieder neue sprachliche und inhaltliche Sensationen festhalten kann, die aber in ihrer Summe nicht zur Essenz des Ganzen führen. Ich habe das Buch ausgelesen und bin davon beeindruckt wie von keinem anderen deutschen Roman der letzten Jahrzehnte. Wenn ich dazu etwas schreiben möchte, dann wird das ein langer Artikel, für den ich mich aber noch mit Jirgls früheren Werken beschäftigen muss, deren Motive hier alle zurückkehren. Das übersteigt zunächst einmal den Rahmen dieses Blogs.

Meine Vermutung, dass es sich um einen BRD/DDR-Roman handelt, muss ich zum Teil zurücknehmen. Jirgls Konzept geht um Dimensionen darüber hinaus. Und das ist offenbar auch schon in seinen vorhergehenden Romanen (u.a.:)  „ Die Stille“ (2009), „Die transatlantische Mauer“ (2000) und „Hundsnächte“ (1997) der Fall, die ich alle bisher nicht beachtet habe.

Ich empfehle allen Lesern: Vergesst (oder vergesst nicht!) Ransmayr, Sebald, Krausser, Kracht und all die anderen! Macht Platz (macht Leseplatz und Ehrfurchtsdistanz!) für Reinhard Jirgl, den bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart. Lest ihn, aber seid gewarnt: Einfach ist er nicht! Und er ist gefährlich: Seine Sprache und Gewalt bringt euch an den Rand der Existenz.
Hört ihm zu. Hier klingt noch alles ganz erträglich:

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