Joseph Roth, Von Hunden
und Menschen (1919)
Der Neue Tag, 1. 8. 1919
Zu den vielen
Straßenbildern des Wiener Kriegselends hat sich seit einigen Tagen ein neues
gesellt: ein vom Kriege zum rechteckigen Winkel konstruierter Mensch – Invalide
mit Rückgratbruch – bewegt sich auf eine fast unerklärliche Weise durch die
Kärntnerstraße und kolportiert Zeitungen. Auf seinem, mit dem Trottoir eine
Horizontale bildenden gebrochenen Rücken sitzt – ein Hund. Ein wohldressierter,
kluger Hund, der auf seinem eigenen Herrn reitet und aufpaßt, daß diesem keine
Zeitung wegkommt. Ein modernes Fabelwesen: eine Kombination von Hund und
Mensch, vom Kriege ersonnen und vom Invalidenjammer in die Welt der Kärntnerstraße
gesetzt. Ein Zeichen der neuen Zeit, in der Hunde auf Menschen reiten, um diese
vor Menschen zu bewachen. Eine Reminiszenz an jene große Zeit, da Menschen wie
Hunde dressiert und in einer sympathischen Begriffskombination als
»Schweinehunde«, »Sch...hunde« usw. von jenen benannt wurden, die selbst
Bluthunde waren und so nicht genannt werden durften. Eine Folge des
Patriotismus, der die aufrechten Ebenbilder Gottes abhängig machte von
vierfüßigen Geschöpfen, die niemals den Seelenaufschwung besaßen, Heldentum und
Kanonenfutterage zu bilden und höchstens zur Sanität assentiert werden durften.
An der Brust des Invaliden baumelt ein Karl-Truppenkreuz. Am Halse des Hundes
hängt eine Marke. Jener mit dem Karl-Truppenkreuz ist ein Leidender. Dieser mit
der Marke ein Tätiger. Er bewacht das Leid des Invaliden. Er bewahrt ihn
vor Schaden. Das Vaterland und die Mitmenschen konnten ihm nur Schaden zufügen.
Diesen hat er es zu verdanken, daß jener ihn bewacht. Oh, Zeichen der Zeit!
Ehemals gab es Schäferhunde, die Schafherden, Kettenhunde, die Häuser
bewachten. Heute gibt es Menschenhunde, die Invalide bewachen müssen,
Menschenhunde als Folgeerscheinung der Hundemenschen. Wie eine Vision wirkte
auf mich dieses Bild: ein Hund sitzt auf einem Menschen. Ein Mensch ist froh,
von diesem Hunde abhängig sein zu können, da er sich erinnert, wie er
von anderen abhängig sein mußte. Gibt es Traurigeres als diesen Anblick,
der ein Symbol der Menschheit zu sein scheint? Ringsum lustwandelt der
Kriegsgewinn mit der Telepathie und in der Mitte ein berittener Hund!
Inferiorität der menschlichen Rasse, Superiorität der tierischen. Wir haben es
herrlich weit gebracht durch diesen Krieg, in dem die Kavallerie abgeschafft
wurde, damit Hunde auf Menschen reiten können! ...
Josephus
Aus: Joseph Roth, Der neue Tag. Reportagen,
1970 (1919)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen