Stefan Großmann, Der Papagei (1916)
Stefan Großmann |
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Das Halbdunkel verdroß
ihn, gewiß, das grüne Gaslicht ärgerte ihn, aber am wütendsten machte ihn das
Geschrei der Gäste. Wenn sie da um den langen Tisch saßen, großmächtige Gläser
Bieres leerten, politisierten, brüllten, lachten und sich umarmten oder
beflegelten, dann schnarrte mitten in den Lärm seine schrille Papageienstimme.
Einmal war eine wilde Rauferei im Gange, Sessel wurden geschwungen, Bierkrüge
klirrten, da gelang es ihm, die Schreier zu übergellen, und einer der
aufgeregtesten Raufbolde mußte über das plötzliche, tolle Gekreisch des
Papageis so laut auflachen, daß er den schon erhobenen Sessel kraftlos sinken
ließ. Das sah Herr Schulze, der Wirt, und beschloß, dem Papagei in einigen
langen Lektionen am frühen Morgen, so lange der Keller leer war, das Wort
»Frieden« beizubringen. Jetzt hatte der Papagei seine Lebensaufgabe in Schulzes
Keller! Das »r« und das »i« gefielen dem Papagei. Er pfauchte ein brillantes
»F . . F . . . riiden« heraus.
* * *
Im
August 1914 war die Schenke jeden Tag voll. Es gab an jedem Abend Gesang und
Geschrei, Verbrüderungsküsse und politische Redensarten, auf die Schenkel wurde
geschlagen und Mädeln abgefühlt, daß es eine Freude war. In dieses hitzige
Durcheinander schrie der Papagei vergebens sein eingelerntes Vokabel. Die Welt
war im großen Rausch. Wer hörte da auf einen Papagei?
Dann
kamen stillere Zeiten. Eines Tages stand Herr Schulze, der Wirt selbst, in
grauer Uniform vor dem Käfig: »Adjes, Papagei, und gib auf mein Weib acht«,
sagte er dem Vogel in die Augen.
Der
sah ihn an und kreischte: »F . . . F . . .
Frieden!«
An
den Abenden war der Keller überfüllt. Kleine Handwerker, Kassenboten,
Geschäftsdiener, alles ältere Jahrgänge, saßen um den langen Tisch und
diskutierten über Rußland und Asien, über Tauchboote und Eierpreise, über
England und die Türken, über Ekrasitbomben und Schweinefleisch. Das große Wort
führte der Vorsitzende des Rauchklubs »Mit Volldampf los«. Er war ein Mann der
Tat, besaß eine Bärenstimme und duldete keinen Widerspruch. Einmal hatte er
eine grandiose Idee: »Schreiben wir 'ne Karte an Hindenburg!«
Der
Rauchklub schrie auf, trampelte vor Freude und bestellte frisches Bier.
Der
Papagei kreischte.
Der
Vorsitzende leckte schon die Bleistiftspitze für Hindenburgs Karte und rief:
»Er soll überhaupt keine Gefangenen machen, wir brauchen unser Brot!«
Dabei
wurde der dicke Mann blutrot vor Entschlossenheit, die letzten Worte schrie er
so laut, daß der Papagei sich verpflichtet fühlte, den Stimmkampf aufzunehmen,
und er überschrie alle: »F . . . F . . .
Frieden!«
Der
Vorsitzende drehte sich verblüfft um. Wer wagte . . .? Da
gewahrte er den Vogel. Er warf ihm ein »Kusch!« hin und wendete sich wieder den
strategischen Fragen zu. Aber er konnte nicht umhin, der Frau Schulze vor dem
Fortgehen zu sagen, daß er und seine Leute in einem Lokal nicht verkehren
können, in dem so merkwürdige Demonstrationen stattfinden. Der ganze Rauchklub
»Mit Volldampf los« werde seinen Sitz verlegen müssen!
»Stellen
Sie das Vieh in den Keller oder . . .«
Frau
Schulze erschrak sehr, denn sie hatte, seit Schulze eingerückt war, niemanden
als ihren Koko.
»Ach
was, er ist ein Miesmacher«, erklärte der Vorsitzende.
Ja
ja, sie sah es ein. Sie war eine umsichtige Wirtsfrau und stellte sich einen
Nachmittag lang vor Kokos Käfig und versuchte ihm ein neues Wort beizubringen.
Sie gab ihm Zucker und sagte ihm vor: »Krieg! . . .
Krieg . . . . Krieg . . . .«
Aber
Koko war nicht mehr jung, verdrossen und menschenfeindlich, er wollte nicht
umlernen! Er glotzte die Frau verständnislos an und schrie weiter seinen
Frieden in die Welt. Nachdem Frau Schulze sich lange mit ihm abgemüht hatte,
packte sie entschlossen den Käfig und stellte ihn in die finstere Speisekammer.
Sie arbeitete in der Schenke und hörte ihn noch eine Zeitlang pfauchen, an den
Stangen zerren, kratzen, wütend werden.
Als
es in der Speisekammer still wurde, bekam sie es plötzlich mit der Angst. Sie
ging zu ihm, aber als sie die Tür öffnete, da schnarrte ihr das verdammte Wort
sogleich entgegen: »F . . . F . . . Frieden!« Sie
erinnerte sich an den Vorsitzenden des Rauchklubs, bezwang ihr Mitgefühl und ließ
den Freund im Arrest.
In
der Dämmerung trat der Vorsitzende in den Keller.
Frau
Schulze zeigte ihm Kokos neuen Wohnort.
Da
saß der Papagei gelassen in seinem Ring mit hängendem Gefieder und schlief,
verschlief Krieg und Frieden.
»Schon
gut«, sagte der Vorsitzende beinahe ohne Lächeln.
»Schutzhaft! . . . Nützlich.«
Aber
noch in der Nacht trieb es Frau Schulze aus dem Bett, sie schlich in die dumpfe
Speisekammer und trug den Käfig hinaus in die Küche.
Als
Koko am Morgen die Augen aufschlug, sah er gerade auf die alte Buche im Hof.
Oft
saß hier Frau Schulze und las mit vergrämtem Gesicht Briefe ihres Mannes, tief
in Rußland geschrieben. Kaum was von Heimkehr stand da! »Wer weiß, Frauchen,
wir stehen hier noch fünf Jahre!« schrieb er einmal, »uns bringt keiner weg!«
Da sah Frau Schulze mit nassen Augen zu Koko hin, sie streichelte seine grünen
Federn sanft, das tat ihm wohl, und er kreischte: »F . . .
F . . . Frieden!«
* * *
Vor
Weihnachten kam Schulze mit fünf Kameraden auf Urlaub. Er war erstaunt, den
Papagei nicht in der Schenke zu finden.
»Was?«
schrie er, »die Gäste? der Vorsitzende? Laß dich nicht einschüchtern, Röschen,
und du auch nicht, Koko!«
Er
nahm den Käfig und stellte ihn wieder an seinen alten Platz. »Nun werd' ich
euch was zeigen«, sagte er zu den glotzenden Kameraden. »Ihr sollt mal sehen,
was das für ein vernunftbegabtes Tier ist.« Und er hielt ein Stück Zucker durch
die Stäbe, und Koko, der seines Herrn Stimme gehört und erkannt hatte,
schmetterte mit der Fröhlichkeit des Befreiten in die Welt:
»F . . . F . . . Frieden!«
Die
Soldaten brummten vor Vergnügen.
Gerade
in dieser Stunde trat der Vorsitzende des Rauchklubs »Mit Volldampf los« durch
die kleine Glastür.
»Schulze
. . . Mahlzeit«, rief der Vorsitzende erfreut.
»Hm
. . . hm«, murrte der Soldat.
»Na,
wie steht's in Rußland? Was treibt der Tschar?« Der Vorsitzende klopfte
Schulzen freundlich auf die Schulter.
»Gut,
gut.« Aber Schulze trat ein paar Schritte weg.
»Was
ist denn los?« fragte der Vorsitzende.
Die
Soldaten guckten über die Biergläser mit horchenden Gesichtern herüber.
»Hör
mal,« sagte Schulze mit einem Blick zu den Kameraden, »Du hast über meinen Koko
Dunkelarrest verfügt?«
»Koko?
Dunkelarrest? Ich?«
Schulzes
Stimme schwoll an:
»Du
hast nicht dulden wollen, daß mein Vogel singt!« Es lag schon etwas Drohendes,
Breitbeiniges in Schulzes Stimme, und seine Kameraden gröhlten schon ziemlich
solidarisch.
»Es
hat dich etwas gestört?« frug Schulze noch etwas gewitterhafter.
»Nee,
nee,« sagte der Vorsitzende, »nichts von Bedeutung. Ach, das war mal so 'ne
Sache.«
»Jetzt
geniert es dich wohl nicht mehr?« fragte Schulze etwas besänftigt.
»Aber
durchaus nicht, im Gegenteil, das arme Vieh.«
Die
Soldaten brüllten taktlos.
Schulze
schritt gemächlich zu dem Käfig, winkte dem Vorsitzenden näherzukommen, gab dem
Papagei ein großes Stück Zucker, und Koko schrie: »F . . .
F . . . Frieden!«
Die
Soldaten glotzten dem Vorsitzenden ins Gesicht.
Aber
der spitzte sein pfiffiges sächsisches Gesicht und sagte kurz:
»Eigentlich . . . klingt es ganz niedlich!«
(Geschrieben
im Oktober 1916.)
Aus: Stefan Großmann, Der Vorleser der Kaiserin, 1918 (1916)
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