Cookie

Freitag, 25. April 2014

Kaiserdämmerung (7) - Stefan Großmann, Der Papagei

Stefan Großmann, Der Papagei (1916)
Stefan Großmann
Es ist ein Wunder, daß der Papagei des Wirtes Schulze, Ecke der Mühlen- und Kasernenstraße, immer noch lebt. Gott weiß, wie er sich in den lichtlosen Keller verirrt hatte. Aber da saß er nun, ich glaube jahrelang, in dem grauschwarzen, verrauchten, säuerlichen Gewölbe, er, in seiner hellgrünen, feuerroten Lebendigkeit. Ja, er war mißgestimmt, sein Krächzen und Schnarren verriet eine menschenfeindliche Lebensauffassung, seine Federn sträubten sich gegen den Weltenlauf. Wenn die Kutscher, Geschäftsdiener, Straßenbahner und Unteroffiziere an Kokos Käfig herantraten, so riß er seinen scharfen Hakenschnabel mit einem zornigen Ruck herunter. Zwängte sich gar ein fleischiger Finger durch die Stäbe, so versuchte er anfangs, den spitzen Haken in die blöde Fleischmasse einzubohren; aber dabei schlug er den eigenen Kopf an die Stange, und das ergab Migräne, noch verbittert durch das stupide Gelächter des Fingerbesitzers. So wurde er allmählich geistig reif, saß unbewegt in seinem Schaukelring und haßte mit seinen hurtigen Äuglein die Zudringlichen, die ihn umdrängten. Kein Zuruf, kein Zuckerstückchen, keine freche Überraschung konnte ihn mehr von seinem Sitz weglocken!
Zum Weiterlesen bitte hier klicken:

Das Halbdunkel verdroß ihn, gewiß, das grüne Gaslicht ärgerte ihn, aber am wütendsten machte ihn das Geschrei der Gäste. Wenn sie da um den langen Tisch saßen, großmächtige Gläser Bieres leerten, politisierten, brüllten, lachten und sich umarmten oder beflegelten, dann schnarrte mitten in den Lärm seine schrille Papageienstimme. Einmal war eine wilde Rauferei im Gange, Sessel wurden geschwungen, Bierkrüge klirrten, da gelang es ihm, die Schreier zu übergellen, und einer der aufgeregtesten Raufbolde mußte über das plötzliche, tolle Gekreisch des Papageis so laut auflachen, daß er den schon erhobenen Sessel kraftlos sinken ließ. Das sah Herr Schulze, der Wirt, und beschloß, dem Papagei in einigen langen Lektionen am frühen Morgen, so lange der Keller leer war, das Wort »Frieden« beizubringen. Jetzt hatte der Papagei seine Lebensaufgabe in Schulzes Keller! Das »r« und das »i« gefielen dem Papagei. Er pfauchte ein brillantes »F . . F . . . riiden« heraus.
* * *
Im August 1914 war die Schenke jeden Tag voll. Es gab an jedem Abend Gesang und Geschrei, Verbrüderungsküsse und politische Redensarten, auf die Schenkel wurde geschlagen und Mädeln abgefühlt, daß es eine Freude war. In dieses hitzige Durcheinander schrie der Papagei vergebens sein eingelerntes Vokabel. Die Welt war im großen Rausch. Wer hörte da auf einen Papagei?
Dann kamen stillere Zeiten. Eines Tages stand Herr Schulze, der Wirt selbst, in grauer Uniform vor dem Käfig: »Adjes, Papagei, und gib auf mein Weib acht«, sagte er dem Vogel in die Augen.
Der sah ihn an und kreischte: »F . . . F . . . Frieden!«
An den Abenden war der Keller überfüllt. Kleine Handwerker, Kassenboten, Geschäftsdiener, alles ältere Jahrgänge, saßen um den langen Tisch und diskutierten über Rußland und Asien, über Tauchboote und Eierpreise, über England und die Türken, über Ekrasitbomben und Schweinefleisch. Das große Wort führte der Vorsitzende des Rauchklubs »Mit Volldampf los«. Er war ein Mann der Tat, besaß eine Bärenstimme und duldete keinen Widerspruch. Einmal hatte er eine grandiose Idee: »Schreiben wir 'ne Karte an Hindenburg!«
Der Rauchklub schrie auf, trampelte vor Freude und bestellte frisches Bier.
Der Papagei kreischte.
Der Vorsitzende leckte schon die Bleistiftspitze für Hindenburgs Karte und rief: »Er soll überhaupt keine Gefangenen machen, wir brauchen unser Brot!«
Dabei wurde der dicke Mann blutrot vor Entschlossenheit, die letzten Worte schrie er so laut, daß der Papagei sich verpflichtet fühlte, den Stimmkampf aufzunehmen, und er überschrie alle: »F . . . F . . . Frieden!«
Der Vorsitzende drehte sich verblüfft um. Wer wagte . . .? Da gewahrte er den Vogel. Er warf ihm ein »Kusch!« hin und wendete sich wieder den strategischen Fragen zu. Aber er konnte nicht umhin, der Frau Schulze vor dem Fortgehen zu sagen, daß er und seine Leute in einem Lokal nicht verkehren können, in dem so merkwürdige Demonstrationen stattfinden. Der ganze Rauchklub »Mit Volldampf los« werde seinen Sitz verlegen müssen!
»Stellen Sie das Vieh in den Keller oder . . .«
Frau Schulze erschrak sehr, denn sie hatte, seit Schulze eingerückt war, niemanden als ihren Koko.
»Ach was, er ist ein Miesmacher«, erklärte der Vorsitzende.
Ja ja, sie sah es ein. Sie war eine umsichtige Wirtsfrau und stellte sich einen Nachmittag lang vor Kokos Käfig und versuchte ihm ein neues Wort beizubringen. Sie gab ihm Zucker und sagte ihm vor: »Krieg! . . . Krieg . . . . Krieg . . . .«
Aber Koko war nicht mehr jung, verdrossen und menschenfeindlich, er wollte nicht umlernen! Er glotzte die Frau verständnislos an und schrie weiter seinen Frieden in die Welt. Nachdem Frau Schulze sich lange mit ihm abgemüht hatte, packte sie entschlossen den Käfig und stellte ihn in die finstere Speisekammer. Sie arbeitete in der Schenke und hörte ihn noch eine Zeitlang pfauchen, an den Stangen zerren, kratzen, wütend werden.
Als es in der Speisekammer still wurde, bekam sie es plötzlich mit der Angst. Sie ging zu ihm, aber als sie die Tür öffnete, da schnarrte ihr das verdammte Wort sogleich entgegen: »F . . . F . . . Frieden!« Sie erinnerte sich an den Vorsitzenden des Rauchklubs, bezwang ihr Mitgefühl und ließ den Freund im Arrest.
In der Dämmerung trat der Vorsitzende in den Keller.
Frau Schulze zeigte ihm Kokos neuen Wohnort.
Da saß der Papagei gelassen in seinem Ring mit hängendem Gefieder und schlief, verschlief Krieg und Frieden.
»Schon gut«, sagte der Vorsitzende beinahe ohne Lächeln. »Schutzhaft! . . . Nützlich.«
Aber noch in der Nacht trieb es Frau Schulze aus dem Bett, sie schlich in die dumpfe Speisekammer und trug den Käfig hinaus in die Küche.
Als Koko am Morgen die Augen aufschlug, sah er gerade auf die alte Buche im Hof.
Oft saß hier Frau Schulze und las mit vergrämtem Gesicht Briefe ihres Mannes, tief in Rußland geschrieben. Kaum was von Heimkehr stand da! »Wer weiß, Frauchen, wir stehen hier noch fünf Jahre!« schrieb er einmal, »uns bringt keiner weg!« Da sah Frau Schulze mit nassen Augen zu Koko hin, sie streichelte seine grünen Federn sanft, das tat ihm wohl, und er kreischte: »F . . . F . . . Frieden!«
* * *
Vor Weihnachten kam Schulze mit fünf Kameraden auf Urlaub. Er war erstaunt, den Papagei nicht in der Schenke zu finden.
»Was?« schrie er, »die Gäste? der Vorsitzende? Laß dich nicht einschüchtern, Röschen, und du auch nicht, Koko!«
Er nahm den Käfig und stellte ihn wieder an seinen alten Platz. »Nun werd' ich euch was zeigen«, sagte er zu den glotzenden Kameraden. »Ihr sollt mal sehen, was das für ein vernunftbegabtes Tier ist.« Und er hielt ein Stück Zucker durch die Stäbe, und Koko, der seines Herrn Stimme gehört und erkannt hatte, schmetterte mit der Fröhlichkeit des Befreiten in die Welt: »F . . . F . . . Frieden!«
Die Soldaten brummten vor Vergnügen.
Gerade in dieser Stunde trat der Vorsitzende des Rauchklubs »Mit Volldampf los« durch die kleine Glastür.
»Schulze . . . Mahlzeit«, rief der Vorsitzende erfreut.
»Hm . . . hm«, murrte der Soldat.
»Na, wie steht's in Rußland? Was treibt der Tschar?« Der Vorsitzende klopfte Schulzen freundlich auf die Schulter.
»Gut, gut.« Aber Schulze trat ein paar Schritte weg.
»Was ist denn los?« fragte der Vorsitzende.
Die Soldaten guckten über die Biergläser mit horchenden Gesichtern herüber.
»Hör mal,« sagte Schulze mit einem Blick zu den Kameraden, »Du hast über meinen Koko Dunkelarrest verfügt?«
»Koko? Dunkelarrest? Ich?«
Schulzes Stimme schwoll an:
»Du hast nicht dulden wollen, daß mein Vogel singt!« Es lag schon etwas Drohendes, Breitbeiniges in Schulzes Stimme, und seine Kameraden gröhlten schon ziemlich solidarisch.
»Es hat dich etwas gestört?« frug Schulze noch etwas gewitterhafter.
»Nee, nee,« sagte der Vorsitzende, »nichts von Bedeutung. Ach, das war mal so 'ne Sache.«
»Jetzt geniert es dich wohl nicht mehr?« fragte Schulze etwas besänftigt.
»Aber durchaus nicht, im Gegenteil, das arme Vieh.«
Die Soldaten brüllten taktlos.
Schulze schritt gemächlich zu dem Käfig, winkte dem Vorsitzenden näherzukommen, gab dem Papagei ein großes Stück Zucker, und Koko schrie: »F . . . F . . . Frieden!«
Die Soldaten glotzten dem Vorsitzenden ins Gesicht.
Aber der spitzte sein pfiffiges sächsisches Gesicht und sagte kurz: »Eigentlich . . . klingt es ganz niedlich!«
(Geschrieben im Oktober 1916.)


Aus: Stefan Großmann, Der Vorleser der Kaiserin, 1918 (1916)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen