Vor ca. 10 Jahren habe ich diesen Aufsatz geschrieben. Er stammt aus meiner Reihe zu deutsch-niederländischen Kulturbegegnungen. Wolfgang Koeppen war 1934-38 in einem (freiwilligen) Exil in den Niederlanden.
Schattenspiel
Wolfgang Koeppens Romanfragment Die Jawang-Gesellschaft
In einer “Periode der Verzweiflung” entstand
in den Jahren 1937/38 während Wolfgang Koeppens freiwilligem Exil in den
Niederlanden der Plan zu dem Roman Die
Jawang-Gesellschaft. Jahrzehntelang ist in der Literaturkritik über dieses
Projekt gerätselt und spekuliert worden. Der verschmitzt-versponnene Autor, dem
nach dem Erfolg seiner drei Romane der fünfziger Jahre eine Schreibhemmung
nachgesagt wurde, schien immer für eine Überraschung gut. Und wenn es denn
nicht ein neuer Roman sein sollte, so vermutete man in seinen Schubladen
wunderbares Verstecktes. Die Hoffnungen bestätigten sich 1992, als ein Roman
von ihm neu verlegt wurde, der 1948 unter anderem Namen erschienen war.
44 Jahre lang hatte der Autor über Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem
Erdloch geschwiegen. Worüber noch? Nach Koeppens Tod im Jahre 1996 hat
Alfred Estermann eine erste Sichtung des Nachlasses vorgenommen und die
vorgefundenen Prosastücke veröffentlicht.[1] Das
umfangreichste und interessanteste Manuskript sind die drei Kapitel des
Jawang-Projektes. Koeppen hat mit knappen und teils widersprüchlichen
Äußerungen zu dem langjährigen Verwirrspiel über diesen Roman beigetragen, das
Estermann im Nachwort zur gesonderten Ausgabe des Textes[2]
dokumentiert.
Aus den erhalten gebliebenen Kapiteln ist das
Gesamtkonzept des Romans nicht abzuleiten, nicht einmal der Plot wird deutlich.
Der Roman bricht ab, bevor überhaupt die im Titel genannte “Jawang-Gesellschaft”,
eine indonesische Schattenspielgruppe, in irgendeiner Form eingeführt oder auch
nur erwähnt wird. Das Puppentheater taucht jedoch im Motto auf, einem Zitat aus
Kleists Aufsatz Über das
Marionettentheater: “Zudem, sprach er, haben diese Puppen den Vorteil, dass
sie antigrav sind. Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze
entgegenstrebendsten aller Eigenschaften, wissen sie nichts: weil die Kraft,
die sie in die Lüfte erhebt, größer ist als jene, die sie an die Erde fesselt.”
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Der erste Teil des Jawang-Fragments handelt
von Carel Johan Tobias Pieter Blois, dem letzten Sproß eines alten
niederländischen Adelsgeschlechts, das sich bis in die große Zeit der
Niederlande, ins 16. und 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Carel ist zu
Beginn des Romans 19 Jahre alt. Er ist der Erbe der kleinen Nordseeinsel mit
dem Herrenhaus, in dem er aufgewachsen ist. Seine Eltern sind vor Jahren bei
einem Badeunfall ertrunken. Der junge Freiherr tritt nach dem Abitur in die
Militärakademie in Breda ein. Er schließt Freundschaft mit dem Kaufmannssohn
Moerland, einem wilden Trinker und Anziehungspunkt der Mädchen. Nach dem
Offiziersexamen fahren sie zusammen mit der Freundin nach Monte Carlo. Moerland
hat Schulden und will beim Spiel sein Glück machen. Er verliert jedoch eine für
ihn unerschwingliche Summe. Carel bürgt für den Freund und rettet so dessen
Existenz, in vollem Bewußtsein, damit seinen eigenen, jahrhundertealten
Familienbesitz und den Offiziersrang aufgeben zu müssen.
Diese Erzählung wird im dritten Kapitel wieder
aufgenommen: Carel kommt als einfacher Soldat der niederländischen
Kolonialtruppe mit dem Schiff auf Java an. Ausführlich und reflektierend
geschildert werden seine ersten Eindrücke von der tropisch-exotischen Stadt
Surabaja und die Kontraste zwischen der niederländischen Kolonialgesellschaft
und der einheimischen Bevölkerung. Die neuangekommenen Soldaten treffen sich in
einer Hafenkneipe. Carel, dem die Trinkgelage fremd sind, lässt sich von einem
Chinesen ein fünfzehnjähriges Mädchen vermitteln. Er rührt diese jedoch nicht
an, trinkt nur Tee mit ihr. Er geht zurück in die Kaserne, versucht zu
schlafen, voller Gedanken, voller Eindrücke. Im Traum sieht er sich in einem
roten Wald voll blauer Schattengestalten. Am nächsten Morgen wird die Truppe
geimpft, um nach einigen Tagen mit der Eisenbahn ins Innere der Insel zu
fahren. Hier bricht der Text mitten im Satz ab.
Das zwischengeschobene zweite Kapitel ist aus
der Perspektive eines Ich-Erzählers geschrieben. Es handelt Jahre später auf
der kleinen Nordseeinsel, wo Carel aufgewachsen ist. Der Ich-Erzähler spielt
während eines schweren Sturms in der Dorfkirche Orgel. Im Pfarrhaus begegnet er
dem Freiherrn, der offenbar jahrelang am niederländischen Kolonialkrieg
teilgenommen hat und davon gezeichnet ist. Das Kapitel ist charakterisiert
durch intensive philosophisch-existentielle Gespräche zwischen dem Pfarrer, dem
Freiherrn und dem Ich-Erzähler.
Jörg Döring hat in seiner akribischen Arbeit
über Leben und Werk Koeppens in den Jahren 1933-1948[3] ein
ausführliches Kapitel den Jahren in den Niederlanden gewidmet. Viele Details,
die in den Nachlaßtexten angesprochen werden, wurden von Döring
nachrecherchiert. Dagegen geht er auf eine Reihe wichtiger Aspekte des
Jahwang-Fragments überhaupt nicht ein (so zum Beispiel auf den Titel).
Ich möchte im folgenden den Versuch wagen,
mit einer Analyse der Entstehungsbedingungen des Fragments und parallel dazu
entstandener Texte zu einer Einordnung des Jawang-Romans innerhalb des Oevres
von Koeppen zu kommen. Mein Eindruck ist, dass das Jawang-Projekt als
zeitdiagnostische und poetologische Synthese und Summe seines kreativen
Prozesses geplant war. Deutlich ist, dass Koeppens Aufenthalt in den
Niederlanden in einem direkten Kontext hierzu steht.
Was eigentlich hatte ihn dazu bewogen, im
November 1934 Berlin zu verlassen und nach Den Haag zu gehen? Gerade war sein
erster Roman, Eine unglückliche Liebe,
erschienen, der ihm lobende Kritik einbrachte und ihn in seiner Existenz als
freier Schriftsteller bestärken mußte. Koeppen war beinahe mittellos. Er wohnte
in einem möblierten Zimmer in der Bleibtreustrasse. Zugleich verkehrte und
wohnte er in sehr reichen Häusern: in der Grunewaldvilla des Anwalts Michaelis
und im Hause des Arztes Kuttner am Grunewaldsee. Das Romanische Café war seine
zweite Heimat.
Wolfgang Koeppen hatte eine lebenslange
Vorliebe für sehr junge, zierlich-androgyne Frauen. Ihr Urbild ist die Sybille
aus Eine unglückliche Liebe. Die
Schauspielerin Sybille Schloß gehörte zum Ensemble von Erika Manns Exilkabarett
“Die Pfeffermühle”. Ihr, deren
Spezialität auf der Bühne (laut Programm 1933) “kleine Jungen und Mädel in
Uniform” waren, reiste er ins Züricher Exil hinterher. Sie verweigerte sich;
und er suchte in den folgenden Jahren nur flüchtige Verhältnisse, denen er sich
konsequent in dem Moment entzog, wo wahre Liebe ins Spiel zu kommen drohte. So
erging es der Niederländerin Corine, die er in Berlin auf der Strasse
angesprochen hatte und mit der zu schlafen er sich später in Amsterdam
weigerte, weil sie ein “guter Mensch” sei; und so hat er es auch mit der
18jährigen Frau eines SS-Offiziers gehalten, die mit zwei Hunden am Romanischen
Café entlangflaniert war, “ein Kind wie von Renoir gemalt. Riesige Sommerhüte,
flatterndes Kleid. Das junge Gesicht so geschminkt wie für die Blumen des
Bösen.”
Im Laufe des Jahres 1934 war die Situation in
Berlin prekärer geworden. Die braunen Horden verstärkten ihren Griff auf die
jüdische Bevölkerung und die verhaßte Berliner Bohème. Am 30. Juni folgte die
Krise des sogenannten Röhmputsches, Hitlers Schlag gegen die SA-Führung. “Die
SS-Führer-Frau saß zur gewohnten Stunde unter ihrem großen Renoir-Hut im Café.
Der Schriftsteller fragte sie, ist dein Mann schon erschossen. Sie sagte, nein,
er erschießt.” Koeppens freundschaftlicher Gönner, der jüdische Anwalt Karl
Michaelis, beschloss zu emigrieren. Auch Koeppen erwog, Deutschland zu
verlassen, darin bestärkt durch Komplikationen in seinem Verhältnis zu der Frau
des SS-Offiziers: sie “meinte auf einmal, den Schriftsteller zu lieben”. Im November
1934 folgte er der Einladung der Familie Michaelis nach Den Haag. “Er war der
Heimat seiner Väter nicht mehr gewachsen gewesen”, schreibt er über sich, und
“Ich war ja nicht verfolgt oder bedroht, ich ging nach Holland, weil mich das
alles in Hitlerdeutschland ankotzte.”
In der Hoenstraat in Den Haag bewohnte das
Ehepaar Michaelis eines der dunkelroten Ziegelhäuser “in einer geraden Reihe,
die mir klein und irgendwie ärmlich vorkamen, wie eine Werbung für holländische
Sauberkeit und bürgerliche Bravheit”. Stark drängte sich Koeppen der Kontrast
auf, wie das großbürgerliche Berliner Paar, das aus den hohen, weiten Zimmern
der Grunewaldvilla kam, sich in die kleine, gardinenlose holländische Welt
eingefügt hatte. Ihre Bücher hatten sie mitgenommen. “Der deutsche Geist
drängte sich, aus größerem Raum vertrieben, eng und bis zur Zimmerdecke an die
Wände gepreßt.”
Vier Jahre wird er in den Niederlanden
verbringen, vier Jahre in wachsender Aussichts- und Mittellosigkeit. Was am
Anfang wie ein etwas abenteuerlicher, vorübergehender Aufenthalt in der
abwechslungsreichen Szenerie der deutschen Emigranten in Den Haag und Amsterdam
wirkte, “ein Besuch bei Freunden, Ferien, Hoffnung auf Veränderung, zu der man
beitragen könnte”, wurde abgelöst von einer “Periode der Gefangenschaft”. Der
niederländische Staat erschwerte nach anfänglicher Großzügigkeit angesichts des
wachsenden Flüchtlingsstroms aus Deutschland die Aufenthaltsbedingungen.
Zwischen 1933 und 1938 sind rund 25.000, zum großen Teil jüdische Flüchtlinge in
die Niederlande gekommen. Die Praxis des politischen Asyls wurde relativ
liberal gehandhabt. Nach 1936 erhielten Flüchtlinge jedoch keine
Arbeitserlaubnis mehr, und sie durften sich politisch nicht betätigen. Anfang
1938 wurden die Grenzen praktisch geschlossen. Die Polizei veranstaltete
Straßenrazzien nach Deutschen. Jedem der nicht wenigstens 200 Gulden bei sich
hatte, drohte die Ausweisung. Koeppen hatte keine 200 Gulden. Er lebte von dem
“Taschengeld”, das Michaelis ihm zahlte.
Der erste Sommer allerdings war produktiv:
Koeppens zweiter Roman, Die Mauer
schwankt, entstand und konnte 1935 noch bei Cassirer in Berlin erscheinen.
Auch dieses Buch ist übrigens lange verschollen gewesen. Koeppen besaß kein
einziges Exemplar mehr und fand in den fünfziger Jahren zufällig eines auf dem
Amsterdamer Flohmarkt. Aber erst 1982 war er bereit, es neu verlegen zu lassen.
Im Vorwort äußert er sich zur Entstehungszeit des Romans. Die friedlichen,
stillen Niederlande hatte er zunächst als wohltuenden Kontrast zum unruhigen
und erschreckenden Deutschland empfunden. “Ich wohnte, weil es mir zu Hause
nicht mehr gefallen hatte, in Den Haag, der Residenzstadt der niederländischen
Königin. Vor dem Schloß wachte ein Spielzeugsoldat. Die Königin fuhr in einer
Kutsche aus. Es waren vier Pferde vorgespannt. Das war wie im alten Märchen.
Die Leute riefen: Es lebe die Königin! Das war friedlich.”
Das bürgerlich-konservative Den Haag mit
seinen starren gesellschaftlichen Regeln paßte jedoch nicht zu Koeppens
Lebensstil. Auch in der “Zeltgemeinschaft” bei Michaelis in der Hoenstraat, in
die weitere Flüchtlinge aufgenommen wurden, gab es schon bald Reibungen,
Konflikte und moralische Bedenken der Hausfrau. Koeppen suchte sich andere
Wohnmöglichkeiten in Den Haag und im liberaleren Amsterdam. Dort verkehrte er
im Café Americain am Leidseplein, dem Treffpunkt der deutschen Emigrantenszene.
In Amsterdam hatte Fritz Landshoff 1933 den Querido-Verlag gegründet, bei dem
die meisten bekannten deutschen Emigranten erschienen: Heinrich Mann, Ernst Toller,
Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Alfred Döblin, Erich Maria Remarque, Joseph
Roth und viele andere.
Die “Pfeffermühle” reiste von ihrem Züricher
Exil aus zu drei langen Gastspielen in die Niederlande, wo sie großen Erfolg
bei Presse und Publikum hatte: Mai bis Juni 1934, März bis Mai 1935 und März
bis Mai 1936. Der niederländische Kritiker Menno ter Braak, der auch Koeppens
Romane wohlwollend besprochen hat, begleitete ihr Auftreten mit künstlerischer
und politischer Sympathie. Er war einer der ersten in den Niederlanden gewesen,
der eindringlich vor den Nationalsozialisten gewarnt hatte. Beim Einmarsch der
deutschen Truppen im Mai 1940 nahm er sich das Leben.
Während der zweiten Tournee der
“Pfeffermühle” sah Koeppen auch Sybille Schloß wieder, was ihn nochmals in die
Abgründe der unglücklichen Liebe riß. Auch seine Kontakte zu Klaus und Erika
Mann waren nicht sehr befriedigend verlaufen. In ihren Tagebüchern und
Schriften kommt er nicht vor. Bei der "Pfeffermühle" und auch bei den
anderen Exilgruppen gab es ein starkes Hierarchiegefälle. Man darf sich hier
keine grossen Vorstellungen von Exilsolidarität machen. Koeppen fand keinen
richtigen Anschluß. Immerhin durfte er einige Liedtexte für Sybille schreiben.
Sybille heiratete dann aber einen homosexuellen Freund Koeppens (Thomas
Michaelis, den Sohn seines Gönners). Bei der nächsten Tournee, 1936, war sie
nicht mehr dabei. Zensurvorschriften der niederländischen Regierung, die den
großen Nachbarn nicht verärgern wollte, leiteten im selben Jahr das Ende der
“Pfeffermühle” ein. Der Versuch, als “Peppermill” in New York vor einem
amerikanischen Publikum weiterzumachen, endete in einem Debakel.
In Scheveningen, dem mondänen Badevorort von
Den Haag, ging Koeppen ins Café Sport, wo sich eine bunte Gesellschaft traf:
junge Niederländer und Javaner aus reichen Elternhäusern. Niederländisch lernte
er kaum in all den Jahren, denn die Bohème sprach englisch, deutsch,
französisch. Koeppen befreundete sich mit Jan Apon, einem auf Java geborenen
Kriminalschriftsteller. Von ihm und von anderen niederländischen und
javanischen Intellektuellen, unter ihnen “ein javanischer Prinz, der die
Holländer haßte”, erhielt er sein Bild der von ihrer Kolonialkultur
durchwirkten Niederlande. Seine intensive Wahrnehmung führte in ihrer
poetischen Umsetzung zu einigen der schönsten Texte, die in deutscher Sprache
über die Niederlande geschrieben worden sind (Zum ersten Mal in Rotterdam, 1935; Im Spiegel der Grachten, 1958).
In einem der berühmtesten Prosastücke
Koeppens, dem über vier Seiten sich erstreckenden kunstvoll verknäuelten
zeitdiagnostisch-historiographischen Satzfaden Ein Kaffeehaus (1965), sind alle wesentlichen Motive enthalten, die
auch den Rahmen der Jawang-Gesellschaft
bestimmen: die Gefährdung durch eine große Gewalt (die nationalsozialistische
Diktatur), die Vertreibung aus einer paradiesischen Gemeinschaft (dem
Romanischen Café), deren Auflösung in Nichts, die Erfahrung des Verlusts und
einer zukunftslosen, totalen Gegenwart in der ringsum verhaftet, getötet und
zerstört wird, die Einsamkeit und die Gegenwart des Todes, die nur durch das
Schreiben und die im Schreiben sich etablierende Gegenwelt (die Gegenwelt der
Ästhetik, die Gegengewalt der Kritik) gemildert werden kann. Die Essenz der
Negativität faßt Koeppen in ein Bild: An der Terrasse des Romanischen Cafés
“schwebte” der Sohn eines Wunderrabbis vorbei. Dieser antigrave (siehe Kleist) “Seraph” sagte “ein jiddisches oder
hebräisches Wort, ich habe es vergessen und nicht vergessen, es klang wie
hävter, und es bedeutete Sand oder Wind oder Sand im Wind, und er und ich, wir
sahen die Terrasse und das Kaffeehaus wegwehen, verschwinden mit seiner
Geistesfracht, sich in Nichts auflösen, als sei es nie gewesen, und es
marschierten die Standarten auf .”
Sand im Wind: Als Koeppen im November 1934 in
Den Haag ankam, wurde er von Karl und Dora Michaelis auf dem Bahnsteig
erwartet, eine Geste, die in Berlin nicht denkbar gewesen wäre. Sie kamen ihm
kleiner vor, als er in Erinnerung hatte: “Es war als hielten sie sich
aneinander fest, um nicht fortgeweht zu werden von einem Wind, der in diesem
Augenblick für mich auf diesem Bahnhof in Den Haag gar nicht zu spüren war.”
Doch der mit vergeblicher Hoffnung erfüllte Moment der Ankunft verging, und der
unheilvolle Sturm, den auch Walter Benjamin in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen aus dem Paradies wehen lässt,
erfaßte den einsamen Radfahrer Koeppen am Strand von Scheveningen. Sand im
Wind: “Wie ein Havarist” erreichte er mit Mühe das Café Sport. In den Dünen
ergriff ihn der Sand, übte einen ungeheuren Sog auf ihn aus: “Der Sand drang in
ihn ein. […] Durch die Jacke, die Hose, in alle Haare, alle Poren, in das Blut
drang der Sand der See, in seinen Mund rieselte er wie ein unsagbar wollüstiger
Kuß und erstickte ihn” (Van Beuk).
Auch in der Jawang-Gesellschaft wird der Sand zum Bild des flüchtigen und
gefährdeten Seins. Koeppen beschreibt das kleine Eiland, auf dem Carel zuhause
ist und das er im nächsten Moment verloren haben wird. “Man glaubt, es sei
grade nur für den Moment der Betrachtung in das Licht gehoben worden.” Koeppen
hat in seiner niederländischen Zeit sein poetisches Repertoire zur Beschreibung
von Vergänglichkeit, Bedrohung und Untergang erheblich erweitert. In einer der
poetisch schönsten Passagen des Fragments erzählt er den Tod von Carels Eltern.
Carel verliert alles: Eltern, Haus, Heimat,
Vermögen und gesellschaftliche Stellung. Seine Einsamkeit und Ausweglosigkeit
faßt Koeppen im Bild des Schattens. Carel steht vor der untergehenden Sonne am
Strand. Er “blickt über die See. Ein schmaler Schatten, behauptet er sich vor
der Unendlichkeit, wie jemand der auf einem verlorenen Posten ausharrt.” Carel
steht dort wie ein etruskischer homo
ombra, ein dünner Schattenmann, allein am weiten Sandstrand. Mit dem Bild
vom “verlorenen Posten” öffnet Koeppen ein Textfenster zum Abenteuerlichen Herz von Ernst Jünger. Das Buch war 1938 gerade in
der aufsehenerregenden zweiten Fassung erschienen. Jünger benutzt darin das
Bild des verlorenen Postens als historia
in nuce, als gegenwartsdiagnostische Figur zur Erfassung der conditio humana in Zeiten großer,
unvorhersehbar hereinbrechender Gefahr. Es mag vielen Koeppen-Verehrern nicht
behagen, aber neben den Einflüssen Kafkas wird man auch eine Verwandtschaft zu
Jüngers “Ästhetik des Schreckens” (Bohrer) akzeptieren müssen. Auch wenn der
absolute Anti-Soldat Koeppen den zehn Jahre älteren aristokratischen
Herrenreiter Jünger persönlich nicht mochte, liegen die Parallelen in der
Zeitdiagnose, im anarchistischen Habitus und auch im Schreibstil auf der Hand.
Nun aber zum Schatten, denn damit wenden wir
uns dem zentralen poetologischen Element der Jawang-Gesellschaft zu: Das Prinzip des indonesischen
Wayang-Theaters (nicht: Jawang! Koeppen hat das Wort entweder in seiner
Erinnerung verdreht oder sich eine spielerische Freiheit erlaubt) ist das des
Schattenspiels. Ganz offenbar hat er sich hierüber viel erzählen lassen.
Vielleicht hatte er in Den Haag oder Amsterdam auch die Gelegenheit, einer
Vorführung beizuwohnen: Flache, aus Leder gefertigte, von unten her mit Stöcken
bewegte Figuren werden hinter einer weißen beleuchteten Leinwand geführt. Das
Publikum sitzt vor oder hinter der Leinwand, kann also entscheiden, ob es das
Stück als Schattenspiel oder im direkten Anblick der bunt bemalten, zum Teil
auch dreidimensionalen, aus Holz gefertigten Figuren betrachten will. Das
Repertoire besteht aus traditionellen Epen, Legenden, Zauberdramen und
aktuellen, profanen Stoffen. Eine Wayang-Vorstellung beginnt auf Java um 21 Uhr
und endet erst am frühen Morgen. Die Aufführung wird von einem kleinen
Orchester begleitet, dem Gamelan. Zu bestimmten Figuren, Ereignissen und
Situationen gehören bestimmte Musikstücke, die zum Teil in onomatopoetischer
Weise das Geschehen begleiten. Neben menschlichen Figuren gibt es auch
abstrakte und symbolische Gestalten, die zum Beispiel eine Armee repräsentieren
oder den Baum des Lebens. Die Leinwand ist weiß. Nur eine einzige
pyramidenförmige Figur deutet die Szenerie an: sie kann einen Berg, einen
Palast, einen Wald oder einen Fluß darstellen.
Der Schattenspieler, der dalang, führt – manchmal unterstützt von ein bis zwei Assistenten
-die Figuren und spricht und singt in verschiedenen Stimmlagen deren Texte.
Sein Beruf ist jahrhundertelang vom Vater auf den Sohn weitergegeben worden; es
gibt aber auch Wayang-Schulen. Jedenfalls bedarf es einer langen Ausbildung, um
das Repertoire und die Feinheiten des Spiels, die gerade in gekonnten
Improvisationen und der Einbringung aktueller Bezüge liegen, zu erlernen.
Wayang ist eine Reflexion des Universum, der Gesellschaft, der Existenz. Die
Figuren haben einen Grundcharakter, aber sie sind subtil, tragen Gutes und
Schlechtes in sich, haben Schwächen, die der dalang spielerisch und ironisch herausarbeiten kann. Er ist also
viel mehr als ein Schattenspieler; er begleitet die Figuren, führt sie zwischen
Himmel und Erde, Leben und Tod, eröffnet mythische und reale Bezüge.
Dies alles muß Koeppen außerordentlich
gefallen haben. Er begann jedenfalls, das Schattenspiel-Motiv in seine Texte
einzubauen. In der Prosaskizze Am weiten
Meer sitzt der Ich-Erzähler im Café Sport an der Seepromenade in
Scheveningen. Dort beobachtet er die Einheimischen und die Fremden. “Die
Promenierenden wurden von dem letzten Glühen des Tages wie die Figuren eines
Schattenspiels beleuchtet, und die leichten Sommerkleider der Frauen waren wie
aufgelöst in diesem Licht.” Ein anderer, autobiographisch erzählender
Schlüsseltext aus dem Nachlaß ist Zwart
Water. Auch hier die Situation im Café Sport, bei Sonnenuntergang: “man saß
an kleinen Marmortischen wie in Berlin im Romanischen Café […], eine Menge ging
vorüber, Mädchen in Scharen, wenn die Sonne noch brannte, waren ihre Kleider
durchsichtig zum Wasser, sie gingen als Fleisch und Skelett, ich dachte an die
Schaufensterpuppen im Kaufhaus des Westens in der Tauentzienstraße”.
Damit wird die doppelte, ästhetische und epistemologische Qualität deutlich,
die das Schattenspiel für Koeppen interessant gemacht hat. In einem Denkbild
von Benjaminscher Qualität gelingt es ihm, die Wirklichkeit seiner Gegenwart zu
durchleuchten. Er ergreift in dem Bild des Schattenspiels die totale Gegenwart,
zu der er durch die Naziherrschaft verdammt ist, eine auf den Punkt gebrachte
Gegenwart, ein hoffnungsloses Jetzt ohne Vergangenheit und Zukunft. All die
Dichter und Philosophen, die Maler und Schauspieler, die Anarchisten und
Träumer aus dem Romanischen Café, die “sich im Gespräch erhitzten und glaubten,
Zukunft zu haben oder wenigstens Dauer der Gegenwart […] zerstreuten sich in
alle Welt oder wurden gefangen oder wurden getötet oder brachten sich um oder
duckten sich.” Überleben war nur im “geheimen Vaterland” möglich: in der
Literatur: “ich werde schreiben, und ich wußte, dass ich starb, auch wenn ich
nicht gehenkt würde oder erschlagen oder verbrannt oder erschossen.”
Die radikal zurückgenommene Existenzform hat
jedoch nicht ihre aufklärerische Ambition verloren. Das Schattenspiel ist immer
auch ein Lichtspiel. Koeppens Röntgenblick durchleuchtet die Gegenwart mit
schwarzem Licht: “Die Dunkelheit sollte ihnen klar werden” (Morgenrot). Die Lebenden erscheinen als
Skelette. Der durchleuchtende Blick mit seiner plötzlichen Aufklärung der
Dunkelheit hat schockartigen Erkenntnischarakter. Neben der Ähnlichkeit zu
Jüngers “stereoskopischem Blick” aus dem Abenteuerlichen
Herz fällt hier die Nähe zu Walter Benjamins Analyse des Films in seinem
Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit (1936) auf: er sieht ihn dort als “die der
gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben,
entsprechende Kunstform”.
Zurück zum Roman und seiner Hauptfigur, dem
niederländischen Freiherrn, der im zweiten Kapitel mit der Charakterisierung
als “Erwählter” eine fast mystische Überhöhung erfährt. Der Ich-Erzähler fühlt
sich beim ersten Anblick von Carel Blois an die Kolonialveteranen erinnert, die
er in Den Haag bei einem Umzug zu Ehren der Königin gesehen hatte: “Und dann
waren die Männer von Atjeh den Wagen gefolgt. Man vergebe es mir: erst hatte
ich sie für Feuerwehrleute gehalten, und dann für Konstabler, die, im Dienst
beschädigt, ein wenig klapprig auf den Beinen noch einmal mitmarschieren
durften. Dann aber sah ich sie! Sah die Gesichter! Sah sie unter den Helmen,
die so an Feuerwehrhauben und altmodische Helme pensionierter Polizisten
erinnert hatten, sah die Gesichter, und in den Gesichtern war die Legende von
Atjeh! Das waren die Männer, die im Wald gelebt hatten, die mit dem Messer aus
dem Busch geschlichen waren, die den grausamen und harten Krieg der
Kolonialgeschichte geführt hatten, da waren Listen und Geheimnisse, da waren
die Fieber und ihre Verzückungen, da waren unbekannte Tränke und das Gift von
fremden Wesen, von Schlangen, Kräutern, Säften, Pfeilen und dem Biß der
Insekten unter der gelben Haut und im seltsamen Feuer der Augen. Es waren die
Tropen des weißen Mannes, die da vorübermarschierten, die Angst und die
Überwindung der Angst […], und der Triumph der Gesittung über diese Fremde; ein
Triumph, der zweien und dreien am Ende so fragwürdig schien - . Das war in ihrem
Blick zu lesen; und es war sein Blick – so mußte er aussehen. Genau so.”
Der Atjehkrieg war ein dreißigjähriger
Kolonialkrieg (1873-1904) der Niederländer in der aufständischen Provinz Atjeh
auf Sumatra. Manche Historiker sprechen auch von einem achtzigjährigen Krieg
und lassen ihn bis zum Einmarsch der Japaner 1942 andauern, da Atjeh nie ganz
zur Ruhe gekommen ist. (Noch heute gibt es in der Region eine Guerillabewegung
“Freies Atjeh”.) Seinen Höhepunkt erreichte der Konflikt, der mehr als eine Viertelmillion
Menschenleben gekostet hat, von 1898 bis 1904, als die Truppen des
niederländischen Generals van Heutsz die Aufstände blutig niederschlugen.
Die niederländische Kolonialherrschaft war
nicht anders als die anderer Kolonialmächte: mit relativ wenig Personal wußte
man das gigantische Gebiet Niederländisch-Indiens, das eine ungleich größere
Bevölkerung als die europäischen Niederlande hatte, zu beherrschen. Dies konnte
nur im Zusammenwirken mit den einheimischen Machtstrukturen funktionieren und
erforderte auch ein entsprechendes Wissen über die sozialen und kulturellen
Verhältnisse. Seit dem 17. Jahrhundert gehörten “indische” Erfahrungen zur
Biographie der niederländischen Militär- und Verwaltungseliten und wurden damit
zum Bestandteil niederländischer Kultur und Identität. Der Historiker Johan
Huizinga hat dieses Anderssein der Niederlande einmal auf einer Vortragsreise
(1933) den Deutschen zu erklären versucht: „Holland, so kann es heißen, ist ein kleines Land
an der Nordsee, mit etwa acht Millionen Einwohnern. Das Königreich der
Niederlande - kann ich aber auch sagen - ist ein kleiner europäischer Staat und
zu gleicher Zeit einer der zirkumpazifischen Staaten, mit über 60 Millionen
Einwohnern. Auch mit dieser letzten Beschaffenheit hängt die Art seiner Mittlerstellung
zusammen. Japan, die Vereinigten Staaten, Australien, Britisch- und
Französisch-Hinterindien, schließlich auch Venezuela, sind unsere Nachbarn,
ebenso gut wie Deutschland und Belgien. Das muß man immer wieder bedenken,
wenn man von unserer Situation in der heutigen Welt spricht.“[4]
Koeppen
konfrontiert seine Hauptfigur, einen sensiblen, europäisch gebildeten
Intellektuellen, mit der harten Realität der Kolonialherrschaft. Vom letzteren
Aspekt erfahren wir aus dem vorliegenden Text nur indirekt; das Bild jedoch,
das der niederländische Freiherr von der fremden Welt hat, in die er eintritt,
ist bestimmt vom Exotismus der europäischen Moderne des 19. Jahrhunderts:
Rimbaud, Baudelaire und Gauguin. Ihre Gedichte und Gemälde führt Carel sich vor
Augen, zwischen Wachheit und Traum, um seine Wahrnehmung der neuen Welt und
ihrer Bewohner zu steigern. Einmal verlangt er sogar nach Opium. Sein Weg, der
ihm den „Triumph der Gesittung über diese Fremde“ hat fragwürdig werden lassen,
bleibt im Unerzählten verborgen.
Kritische Beurteilungen der eigenen
Kolonialherrschaft sind auch heute noch in den Niederlanden nicht populär. Die
Fragwürdigkeit des Triumphes über die Fremde ist gleichwohl ein häufig
reflektiertes Kulturthema. Das berühmteste Beispiel ist der Roman Max Havelaar von Multatuli (1860), der
zum Schulkanon der niederländischen Literatur gehört. Aus ihm könnte Koeppen
auch geschöpft haben. Um die Jahrhundertwende wurde das Konzept der sogenannten
“ethischen Politik” entwickelt, deren ideales Ziel die Selbstverwaltung der
Kolonien war. Angesichts der aufkommenden indonesischen Nationalbewegung ab
1908 und der anhaltenden Unruhe in Atjeh kam es allerdings zu keiner größeren
Liberalisierung des Herrschaftssystems.
In Koeppens Gegenwart von 1937/38 war von
einem Ende der Kolonialherrschaft noch nichts zu spüren. Dieses wurde erst mit
der Besetzung der Inseln durch japanische Truppen 1942 eingeleitet. 1945
kehrten die Niederländer zurück. Die Unabhängigkeit des Inselreiches, von
Sukarno, der jahrzehntelang in niederländischen Gefängnissen gesessen hatte, im
selben Jahr verkündet, wurde mit brutalen Militäraktionen aufgehalten. Erst
1950 übertrug die niederländische Königin die Macht an den neuen Staat
Indonesien.
Die Figur des Freiherrn Blois ist also ein
typischer Vertreter der niederländischen Elite seiner Zeit. Wahrscheinlich
hatte Koeppen ein reales Vorbild vor Augen. An diesem Punkt müssen wir uns
einem überraschenden Aspekt des Fragments zuwenden. Beim Manuskript handelt es
sich um einen Schreibmaschinendurchschlag aus 112 durchlaufend paginierten
Seiten. Die Handlung des ersten und dritten Kapitels ist zwar nicht eindeutig
datierbar, aber der selbstverständliche Umgang mit Taxis, amerikanischen Autos
und Lastautos sowie der “letzte Blues”, der aus dem Kneipenradio ertönt, weist
auf die zwanziger, eher noch die dreißiger Jahre, also Koeppens damalige
Gegenwart. Das zweite Kapitel spielt aber dreißig bis vierzig Jahre später: der
Inselpfarrer, ein Greis, blickt auf sein Leben zurück und auf die Zeit, da der
Freiherr noch Herr der Insel und er selbst in jungen Ehejahren war. Seine Söhne
sind nun erwachsene Männer. Blois ist offenbar lange Jahre fort gewesen. Auch
der Ich-Erzähler, der Züge von Koeppen trägt, scheint nicht mehr der Jüngste: sein
Rücken ist ein wenig krumm. Er ist mit dem Flugzeug von Amsterdam nach Texel
gekommen, offenbar auf der Flucht vor den Erwartungen der Verlage und
Feuilletons. Seine Erinnerung an den Umzug der Atjeh-Veteranen datiert er mit
der Formulierung "damals im Haag". All dies weist auf die sechziger,
vielleicht sogar die siebziger Jahre. Ein Indiz dafür, dass dieses Kapitel
wesentlich später entstanden ist? Dass Koeppen vielleicht noch lange nach dem
Beginn des Projekts versucht hat, die Jawang-Gesellschaft
zu Ende zu schreiben?
In Den Haag lebte in Koeppens Exilzeit ein
Freiherr Bloys, der etwas jünger war als er und dessen Vater möglicherweise am
Atjeh-Feldzug unter General van Heutsz teilgenommen hat. Er könnte als Student
zur munteren Gesellschaft des Café Sport gehört haben.[5] Auch
ein gesellschaftlicher Skandal, der eine Person aus Koeppens Scheveninger
Gesellschaft zur Flucht nach Java getrieben hat, ist in dieser Zeit
vorgekommen.
Die Insel, die jahrhundertelang dem
Geschlecht Blois gehört haben soll, gibt es in dieser Form nicht. Bei Koeppen
befinden sich ein Herrenhaus, eine Kirche mit Pfarrhaus und einige kleine
Bauerngehöfte auf ihr, und sie müßte in unmittelbarer Nähe der wesentlich
größeren Insel Texel liegen. Südwestlich von Texel liegt eine ausgedehnte
Sandbank, Noorderhaaks, die niemals bewohnt gewesen ist. Nordwestlich von Texel
hat es einmal eine kleine Insel gegeben, Buitengrind, auf der ein römischer
Feldherr seine Burg gebaut haben soll. Aus dem 16. Jahrhundert gibt es Berichte
von Gebäuderesten auf dieser Insel. Und natürlich gibt es in solchen Fällen
Mythen und Legenden. So formt sich ein Bild von Koeppens Schreiben: “Aus diesem
allem setzte sich etwas zusammen.”
Die Biographie des Ich-Erzählers ist nur aus
äußerst sparsamen Hinweisen zu erschließen. Er ist ein Deutscher, der in seiner
Jugend den Beginn des 1. Weltkriegs in der Feuerlinie der Ostfront und die
Novemberrevolution von 1918 erlebt hat: “Ich habe bei Unruhen hinter einer
Mauerecke gestanden, gegen die die Schüsse schlugen. Ich habe als Kind Bomben
fallen hören, und ich habe die zerrissenen Toten gesehen.” Dies entspricht
Koeppens eigenen Erinnerungen an die Besetzung und Zerstörung der masurischen
Stadt Ortelsburg durch russische Truppen in den ersten Kriegswochen. Und es
gibt weitere Details, die zu Koeppens Biographie passen.
Viel stärker als die beiden anderen hat das
zweite Kapitel den Charakter einer Choreographie, einer existenzphilosophischen
Komposition aus Bildern, Musik und Gedanken. In diesem Sinne ähnelt es mehr den
berühmt gewordenen Nachkriegsromanen Koeppens, als den beiden vorangegangenen
aus den dreißiger Jahren. Koeppens Poetologie ist hier bereits voll entwickelt.
Die Technik des “inneren Dialogs”, der Aufspaltung in zwei literarische
Figuren, wendet er in ausgeprägter Form erst in Tod in Rom (1954) an. Eine theoretische Reflexion hierüber ist
1972, zusammen mit anderen Fragmenten, unter dem Titel Vom Tisch veröffentlicht worden. Dass wir sie hier vorfinden,
spricht ebenfalls für eine spätere Entstehung dieses Kapitels. Drei Figuren
treten auf, in der Kirche und im Pfarrhaus auf der kleinen Nordseeinsel: Der
Ich-Erzähler gibt den Rahmen von Ort, Zeit und Handlung und drückt im
literarisch virtuos wiedergegebenen Orgelspiel aus. Der Freiherr, als Alter Ego
des Ich-Erzählers, also auch Koeppens, zitiert auswendig eine lange Passage von
Kierkegaard. Der alte Pfarrer verbindet und kommentiert das Gespräch.
Das erste Orgelspiel gestaltet das
existentielle Problem: “Ich gab den Pfeifen einen großen Atem, so dass der
ausströmende Ton mächtig im Raum sich erfüllte und das Schiff der Kirche wie
erhoben war, weil der Klang noch weiter wollte, höher, über die Mauern hinaus,
und dann ließ ich die Melodie meiner Vorstellung so hoffnungslos enden, so sich
verlaufen, dass alle Kraft wie fliehend verhuschte, die Weihe und die Erhebung
in sich zusammensank, absackte, schwer von den Wänden fiel, wie Regen zur Rinne
rinnt, in seiner Reinheit beschmutzt; auf dem Steinboden starb die Dehnung des
letzten Basses, kroch noch in die Rillen zwischen den Platten, sickerte durch
zu den Gerippen der alten Toten dadrunter, und hatte nur noch die Kraft,
nachzuziehen, zu Boden zu locken, zum Sterben. Man lag im Staub und die Zunge
schmeckte ihn.”
Das Orgelspiel wird unterbrochen von einem
gewaltigen Gewittersturm, der die hoch auf einer Düne stehende Kirche
erschüttert und den Ich-Erzähler in namenlose Angst versetzt. Er flüchtet sich
ins Pfarrhaus, wo er dem Freiherrn begegnet. Dessen langes Kierkegaard-Zitat
bringt Koeppens großes Thema auch in die Jawang-Gesellschaft
hinein: “Sich selbst um die Liebe betrügen ist das Furchtbarste, ist ein ewiger
Verlust, für den es keinen Ersatz gibt, weder in der Zeit noch in der
Ewigkeit.” Möglicherweise hat Koeppen tatsächlich erst spät Kierkegaard
gelesen, so wie es auch im Roman für sein Alter-Ego angedeutet wird. Dabei muß
ihn die Ähnlichkeit der Existenzproblematik bei Kierkegaard und ihrer Aufhebung
im Schreiben im Vergleich zu seiner eigenen Situation sehr beeindruckt haben.
Die Parallelität der unglücklichen Liebe - Sören Kierkegaard und die
fünfzehnjährige Regine Olsen, Wolfgang Koeppen und die sechzehnjährige Sybille
Schloß – und der ergreifenden Intensität der Umsetzung des Unglücks in
Schreiben ist frappant. Auch hier ist festzustellen, dass sich der direkte
Bezug auf Kierkegaard erst in den Nachkriegsromanen Koeppens findet.
Die Beschreibung des zweiten Orgelspiels wird
zur musikalisch-literarischen Verbildlichung von Koeppens Überlebenskonzept:
“Ich ließ den Menschen gegen den Jubel des Himmels auftreten. Die kleine Flöte
des Hirten, aus der die Orgel, die mächtige Königin der Instrumente, sich
entwickelt hatte, kam zu Gehör, und das Gespenstische und Berauschte, die halb
göttliche, halb irdische Weise, den süßen, verführenden Sang der Syringe, der
Flöte des Pan – ich versuchte, ihn zu zitieren. Ich endete sanft. Eine
Arabeske, ein kleiner Scherz, wie ein Auftakt zu einem Menuett, waren der
Schluß. Leicht ist es, die Anmut auf den Orgeln in den Lichtspielhäusern
erklingen zu lassen; auf den Orgeln in der Kirche ist es schwer; sie
widersetzen sich dem, und es war dann auch ein Klappern in der Melodie wie von
den locker schwingenden Knochen tanzender Toter.”
Dass “Anmut” schwer zu erreichen ist, ist
auch das Thema in Kleists Schrift Über
das Marionettentheater. Die Utopie der Befreiung der Seele von der Trägheit
der Materie faßte er im Bild der Marionette. Koeppen nimmt sich in Analogie
dazu des Schattenspiels an, betont aber immer wieder dessen Nähe zum Totentanz.
Der Tanz der Skelette in der totalen Gegenwart ist ein Bild sowohl für die
Ästhetik des Widerstands als auch ein Zeichen für den real existierenden
Widerstand der Ästhetik.
In Koeppens Geschichtsbild ist die Zeit
kaputtgegangen. Der alte heile Traditions- und Fortschrittsrahmen von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft funktioniert nicht mehr. Was bleibt, ist
ewige Gegenwart in einer zeitlich-räumlichen, schattenhaften
Zweidimensionalität. Zukunft will sich nicht mehr bilden, Vergangenheit bietet
keine Hilfe zur Gegenwartsbewältigung. Leben, Erleben, Wiedererleben ist nur
möglich in vorwärtsgewandter “Wiederholung”, einer zentralen Kategorie bei
Kierkegaard: “Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in
entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach
rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts
erinnert wird” (Kierkegaard, Die
Wiederholung). Dies beinhaltet die radikale Entscheidung für eine
“ästhetische Existenz”: die Tragik und gleichzeitig das Fundament des Autors
Koeppen.
Zusammengenommen lässt sich aus der
Choreographie des zweiten Kapitels auf die beabsichtigte Komposition des
gesamten Romans schließen: das schicksalhafte Leben im Geschichtssturm des
Nationalsozialismus, verwoben mit der privaten Katastrophe der unglücklichen
Liebe zu Sybille, dargestellt hinter der exotischen Maske der niederländischen
und javanischen Natur und Kultur mit einem neuentwickelten poetologischen
Repertoire. Im nicht geschriebenen oder nicht erhaltenen Zentrum des Romans muß
die Theatergruppe gestanden haben; das verspricht jedenfalls der Titel.
Natürlich liegt die Vermutung nahe, bei Koeppens Schattenspiel-Gesellschaft
könnte es sich um eine ins Exotische gewendete “Pfeffermühle” handeln, und das
“sehr reizvolle Mädchen”, von dem Koeppen in diesem Zusammenhang gesprochen
hat, wäre dann die ewige und immer-neue Sybille. Auch seine Mitteilung, dass in
dem Roman “viel über die Zeit damals” gesagt wird, gewinnt in diesem Licht an
Bedeutung. Das Manuskript war ihm nach seinen eigenen Aussagen zu brisant, um
es mit nach Deutschland zu nehmen. Als
das Ehepaar Michaelis beschloss, in die USA auszuwandern, ging Koeppen im
November 1938 nach Deutschland zurück. Die Niederlande waren für ihn zu einer
“Falle” geworden; er brauchte den Kontakt zur deutschen Sprache. Irgendwie ist
es ihm dann gelungen, bis zum Kriegsende seine Form der inneren Emigration
durchzuhalten, ohne auch nur eine Minute lang Soldat in der Wehrmacht Adolf
Hitlers gewesen zu sein.
Vorwärtsgewandte Wiederholung: 1945 lernte
Koeppen die sechzehnjährige Tänzerin Marion Ulrich kennen, die er kurz darauf
heiratete. Wenige Jahre später schrieb er drei großartige Romane - Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) und Tod in Rom (1954) - die wir uns aus der
kritischen Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht wegdenken mögen.
Der Radikalität der ästhetischen Existenz sind die jungen Frauen in seinem
Leben und in seinen Romanen nicht gewachsen. Im Treibhaus ist es Keetenheuve, der 1945, mit 39 Jahren, die
sechzehnjährige Elke kennenlernt. “Elke war die Chance gewesen, die Chance für
ein anderes Leben”, aber Elke hält es nicht aus, geht an Keetenheuve und am
Alkohol zugrunde. Die persönliche Tragik ist verwoben in die Zeitgeschichte.
“Wie in Blüte wäre er gewesen wenn er mit den Nazis marschiert wäre denn das
war der Aufbruch der verfluchte Irrbruch seiner Generation und jetzt war all
sein Eifer der Verdammnis preisgegeben der Lächerlichkeit eines grau werdenden
Jünglings er war geschlagen als er anfing.”
Und die Jawang-Gesellschaft?
Da unsere rückwärtsgewandten Spekulationen im Nichts verlaufen, sollten wir
nicht klagen über Verlorenes und Niegeschriebenes. Das Fragment ist das Ganze.
Die Komposition der drei Kapitel ist bestimmt von einem “Klappern in der
Melodie”. Die Jawang-Gesellschaft
endet mit einem Absatz, in dem sich die Schönheit, der Schrecken und das
Geheimnis des plötzlichen Abbruchs vollendet ausdrückt: “Nach einigen Tagen
fuhren sie mit der kleinen Eisenbahn in den Wald, in das Innere der Insel
hinein, aber zunächst zu den Bergen, in die Höhe, damit sie sich in einem
milderen Klima an das tropische gewöhnen konnten. Vom Fenster ihres Zuges sahen
sie die Reisfelder, die”
[1]
Wolfgang Koeppen, Auf dem Phantasieross.
Prosa aus dem Nachlaß, Frankfurt: Suhrkamp 2000
[2]
Wolfgang Koeppen, Die Jawang-Gesellschaft,
Frankfurt: Suhrkamp 2001
[3] Jörg
Döring, "…ich stellte mich unter,
ich machte mich klein…". Wolfgang Koeppen 1933-1948, Frankfurt am
Main/Basel: Stroemfeld 2001
[4] Johan
Huizinga, Die Mittlerstellung der
Niederlande zwischen West- und Mitteleuropa, Leipzig und Berlin 1933, 7
[5]
Nachfragen beim Sohn des Freiherrn führten jedoch zu keinen Hinweisen, die
diese Vermutungen bestätigen könnten. Übrigens verliefen auch Alfred Estermanns
Bemühungen, etwas über Koeppens Freundschaft zu Jan Apon herauszufinden, im
Sande. Koeppens niederländische Bekanntschaften haben wenig Spuren
hinterlassen, und es drängt sich der Eindruck einer großen Einsamkeit auf.
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