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Freitag, 24. Juni 2022

Jochen Schimmangs “Laborschläfer”: ein Lebenspatchwork aus der alten Bundesrepublik





Jochen Schimmang (geboren 1948) hat einen neuen Roman geschrieben: „Laborschläfer“ (Edition Nautilus, Hamburg 2022, 327 S., 24 €). Sein Protagonist Rainer Roloff, geboren und aufgewachsen in Köln, ist zwar studierter Soziologe, hat aber immer nur schlecht bezahlte wechselnde Jobs gehabt. Er bezeichnet sich gern als „Privatgelehrter“. Nun ist er 72, die Rente reicht kaum fürs Nötigste, und so meldet er sich als bezahlter Proband zu einem Projekt des Schlafforschers Dr. Meissner an. Dazu verbringt er ab und zu eine Nacht im Labor und wird für allerlei Messungen „verstöpselt“. 

 

Dr. Meissner geht es nicht um den Schlaf an sich oder die Träume, sondern um die Zusammenhänge zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis und speziell um die Gedanken und Erinnerungen, die seine Probanden zwischen Schlafen und Wachen haben. Die werden am nächsten Morgen immer ausführlich besprochen und notiert.

 

Lesern aus der westdeutschen sozialen Alterskohorte von Rainer Roloff wird viel Erinnerungswertes geboten: die Trümmerlandschaften seiner Kölner Kindheit, der merkwürdige Tod des Politikers Uwe Barschel 1987 und allerlei weitere politisch-historische Figuren und Ereignisse. Die individuellen Gedächtnisräume von Roloff sind gefüllt mit Frauen, Freunden, Eltern, der Schwester, der Stadt Köln, Reisen, viel Musik der siebziger/achtziger Jahre und vor allem viel Literatur.

 

Rainer Roloff verfügt über ein außerordentliches Gedächtnis und kann sich über Jahrzehnte zurück an alles erinnern, was er an einem bestimmten Tag getan hat. Dieses aus Millionen wichtigen, aber eben auch unwichtigen Details bestehende Gedächtnis behindert ihn allerdings, daraus etwas Ganzes zu machen, seinem Leben rückwirkend Struktur zu geben. Letztlich handelt es sich um eine Trümmerlandschaft, genau wie der Kölner Barbarossaplatz seiner Kindheit in den Jahren nach dem Krieg eine „Schutt- und Brockenkulisse“ gewesen ist. Roloff hält sich deshalb für „biografieunfähig“.

 

Literatur ist ihm, auch in zweiter und dritter Lektüre immer wieder eine Stütze, auch zum Einschlafen. Ein Leitstern für sein Lebenskonzept ist die Erzählung „Bartleby, the scrivener“ (1853) von Herman Melville. Bartleby, der kleine Angestellte, der eines Tages einen Auftrag mit den Worten : „I would prefer not to“ abgelehnt hat und seitdem die gesellschaftsübliche Arbeit verweigert und sich nicht davon abbringen lässt. Bartleby zieht sich quer durch den Roman. Gegen Ende gibt Roloff diesen Namen dem von ihm adoptierten Kater einer überarbeiteten Verlagspressechefin. Das stille Tier begegnet uns noch hundert Seiten lang: „Seine Blickrichtung geht fast immer in die Innenräume“.

 

Die Figuren, denen wir auf der Ebene der Romanhandlung und in Roloffs Erinnerungen begegnen, haben zwar eine berufliche Karriere gemacht, wie es in unserer Gesellschaft erwartet wird, mit Geld, Erfolg und bürgerlichem Lebensstandard (außer Roloff selbst), aber alle sind auf die ein oder andere Weise gescheitert. Das fängt – überdeutlich und dramatisch – mit Uwe Barschel an und trifft am Ende sogar den Schlafforscher Dr. Meissner, der krankheitshalber aus dem Arbeitsprozess herausfällt. Der Autor überhöht das durch einen gemeinsamen Sturz von Meissner und Roloff. Ironischerweise übernimmt Roloff dann eine wissenschaftliche Stelle im Projekt und wird damit Mitarbeiter des geheimnisvoll im Hintergrund gebliebenen Dr. Murnau. (Murnau hieß der Protagonist von Schimmangs Autobiografie „Der schöne Vogel Phönix. Erinnerungen eines Dreißigjährigen“, 1979).

 

Tja, was tut man, wenn man „biografieunfähig“ ist und immer wieder aufgefordert wird, eine Autobiografie zu schreiben? Bartleby würde sagen: „Ich möchte lieber nicht“. Aber vielleicht darf es ja etwas anderes sein: weniger Auto, durchaus Bio und mehr Grafie.


Ein schöner Roman!



Die deutsche Ausgabe von "Bartleby" 
aus der wunderschönen neuen Penguin Edition,
in der der Pinguin etwas größer posieren darf.


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