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Samstag, 4. Juni 2022

Der kastrierte Freischütz von Amsterdam (Premiere 3. Juni)

Bühnenbild Freischütz: Wo ist der Wald?


Die niederländische Nationaloper hat nie den „Freischütz“ von Carl Maria von Weber (1821)  inszeniert: Deutsche Volks- und Waldromantik und die vielen deutschen Dialoge machen dieses Werk auch für die jetzige Direktorin der Nationale Opera, Sophie de Lint, zu einer „hele lastige opera“.

 

“Alles kan. Alles mag. Voel je vrij”, mit diesen Worten hat Sophie de Lint dem russischen Avantgarderegisseur Kirill Serebrennikov jetzt aber den Weg zum „Freischütz“ im Rahmen des diesjährigen Holland Festivals geebnet. Der Dissident Serebrennikov lebt seit Januar 2022 im Exil am Hamburger Thalia Theater und braucht Beschäftigung. So ist es anhand dieses Projekts zu einem Bündnis von niederländischer Aversion und postmodernem Theater-Wollen gekommen. Das merkwürdige Doppel hat allerdings zu einer Quadratur des Unverständnisses von Webers romantischer Oper geführt. Ein verjüngtes niederländisches Publikum war gestern dennoch bereit, das alles zu bejubeln.

 

Serebrennikov rankt einfach eine völlig andere Geschichte um die Musik und den Gesang des Freischütz. Auf Englisch! Und mit Hilfe einer neu erfundenen Hauptfigur („The Red One“), die als Erzähler und Hüpfebold durch die Oper führt und schon die Musik der Ouvertüre schulmeisterhaft Schritt für Schritt in Videotexten mit der kommenden Story kommentiert (anstatt die Leute die Musik einfach hören zu lassen). So weiß immerhin jeder schon mal über alles Bescheid. Vielleicht hätte man die Aufführung dabei belassen sollen. Aber dann zieht der Regisseur drei Stunden lang sein Patchwork des postmodernen Theaters durch mit allerlei altbekannten und einigen wenigen neuen Gags.

 

Dass es in den vollständig gestrichenen deutschen Dialogen so manche Begründung für die in den Arien ausgeführte perspektivische Verzweiflung zwischen Max, Agathe, Kaspar und Ännchen gab: egal! Das Publikum bekommt nur die Highlights der Oper mit konservativ singenden und am Ende (zu Recht) bejubelten Stars und wird vom roten Hüpfer mit einer Tom-Waits-Zugabe per Akt bei Laune gehalten. Es geht dabei um Auszüge von Tom Waits Freischützadaption „The Black Rider“. Das wäre vertretbar. Aber wer den „Freischütz“ noch nie gesehen hat, wird sich um so mehr fragen, was der Herr Weber wohl gewollt haben mag.

 

Ein Beispiel: dass Kaspar auch um Agathe gebuhlt hat, von ihr abgewiesen wurde und nun auf Rache sinnt („Triumph, die Rache gelingt“) kann der Zuschauer hier bestenfalls erahnen. Und Max wird nicht als naiver Liebender, sondern als dämlicher Bürotrottel gezeigt, bei dem man sich fragt, was Agathe wohl an ihm finden mag.

 

Außer den deutschen Dialogen ist noch etwas ganz Essenzielles verschwunden, die nichtpersonale Hauptfigur dieser Oper: der Wald! Der Gebirgswald der deutschen Romantik mit all seiner Unheimlichkeit, mit seinen Gespenstern und bösen Geistern. Dadurch fällt die Kernszene in der Wolfsschlucht mit Webers sich phänomenal steigernder Musik („Wie? Was? Entsetzen! Dort in der Schreckensschlucht?“), das Treffen mit dem Teufel also, in die Bedeutungslosigkeit, ja in die Lächerlichkeit: sie wird zu einer Art Bubenstreich mit Feuer und Rauch. Der „Freischütz“ wird damit kastriert und seiner Potenzen beraubt.

 

Aber noch eine Hauptsache: die Sprechrolle von Samiel, dem Teufel, die meist aus dem Off gesprochen wird, übernimmt hier - während des Dirigierens - der famose junge österreichische Dirigent, Patrick Hahn. Die neu gestrickten Geschichten des Regisseurs machen nämlich die Opernbühne als solche zum Hauptthema, und sowohl die Stars als auch die niederen Chorchargen dürfen Statements zu ihren Erfahrungen mit Neid, Konkurrenz und Autorität abgeben, und der arme Patrick Hahn, der nebenbei noch ganz ehrlich beteuert, er sei ja gar nicht so, muss den infamen Teufel und absoluten Herrscher des Dirigats geben. Nee, nee, nee, bitte nicht.

 

Ach ja, die Sänger – und die Sängerinnen! Die Südafrikanerin Johanni van Oostrum (Agathe) hat eine wunderbare, etwas altmodisch geführte Stimme, die an die große Elisabeth Grümmer aus den 50er Jahren erinnert. Leider legt sie, wie auch der Chor – der übrigens auch einmal abgestürzt ist - , wenig Wert auf eine verständliche deutsche Aussprache. Die Standards hierfür sind inzwischen international sehr hoch, so dass auch niederländische Häuser sich daran orientieren sollten. Bei der in Shanghai ausgebildeten Ying Fang (Ännchen) geht das viel besser. Sie ist für mich der Star dieser Inszenierung, voll sängerischer und balletöser Leichtfüßigkeit. Bei den Männern sticht der Österreicher Günther Groissböck in den bipolaren Rollen als Kaspar und Eremit mit seinem männlich-bedrohlichen und versöhnlich-vertiefenden Bass hervor. Das war eine gute Entscheidung des Regisseurs.

 

Aber wo bleibt da Carl Maria von Weber? Er ist – ohne ausreichenden Sinn und Verstand -   gefangen im Reservat der sängerischen und fremdumrahmten musikalischen Höhepunkte, und dann muss sein Porträt auch noch die Stelle des Bildes vom Urvater Kuno einnehmen, das zweimal von der Wand gefallen ist, als Max mit seinen Freikugeln unterwegs war. Weber wird hin- und hergezerrt, auf den Kopf gestellt, beschmiert und abgeschafft. Das war’s. 

 

Kirill Serebrennikov hat gesagt, dass er das in Deutschland nicht gewagt hätte. Versuch’s doch mal, Kirill.

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