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Freitag, 1. Januar 2021

Ernsthaftigkeit: Die Dahlemer ESG-Kommune

Jens B. Brüning und ich waren ein unernstes Sängerpaar im Klassik-Chor der Studentengemeinde. Wir standen im Bass nebeneinander, bei den Proben und bei den Auftritten: im Sommer 1969 bei 21 Konzerten auf einer herrlichen Reise durch die USA. Wir hatten immer viel Spaß.

 

Jens B. Brüning, 1970


Im April 1969 waren wir beide in die „Kommune“ eingezogen, einem Projekt der Evangelischen Studentengemeinde Berlin. In der ESG waren 1967/68 auch die Kreise um Rudi Dutschke zu Gast. Rudi hat während eines „Hungerstreiks“ gern mal ein Bockwürstchen im Büro gegessen. Auch bei ihm gab es Grenzen der Ernsthaftigkeit.

 

Im Wintersemester 1968/69 hatten wir einen Arbeitskreis zu „Sexualität und Herrschaft“, einem der Hauptthemen der 68er Bewegung. Daraus gingen ernsthafte Bemühungen hervor, zu neuen Formen des Zusammenlebens zu kommen. Der damalige Studentenpfarrer Karl Bernd Hasselmann unterstützte die Initiative und sorgte dafür, dass wir – 10 Studenten und 6 Studentinnen - in das Studentenheim im Burckhardthaus in Dahlem einziehen konnten.

 

Das Burckhardthaus im Rudeloffweg


Theoriepapiere dazu habe ich keine mehr gefunden, aber es ging um eine evangelisch-progressive Wohngemeinschaft, tägliche Diskussionen und Aktionen zu Theorie und Praxis inbegriffen: mehr als die damals üblichen WGs, jedoch weniger radikal als die berüchtigte Kommune 1. In diesen Dingen herrschte in der damaligen Studentengeneration Ernsthaftigkeit, und die betraf alle Lebensbereiche: Politik, Kirche, Religion, Alltagsleben, politisch-religiöse Kontakte nach außen, gemeinsame Reisen nach Israel, London und westdeutschen Tagungsorten. Das Wort „Kommune“ gebrauchten wir nur in Anführungszeichen. Jens und ich schrieben zum Ausgleich absurde „Kommune-Lyrik“; der „Zwergenzyklus“ war ein Teil davon (siehe meinen Beitrag "Unernsthaftigkeit" vom 31.12.2020).

 

Die Tage um Silvester 1969/70 verbrachte die Gruppe in Dagebüll/Schleswig-Holstein. Wir wollten uns mit A.S. Neills Buch „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ auseinandersetzen. Das ging ziemlich schief. Ich schrieb später an einen Freund: „Einige waren und sind furchtbar sauer, weil sich wieder erwiesen hat, dass die Kommune nicht zusammen an einem Thema arbeiten kann. So ist der Zustand der sechzehn Leute aus dem dritten Stock im Rudeloffweg vom Anfang einer gruppenauflösenden Krise gekennzeichnet.“ Sechzehn ziemlich diverse Leute sind eben doch etwas viel für solch ein Projekt. Es hatten sich auch schon vier, fünf Pärchen gebildet, die zum Teil eigene Wege gingen.

 

Nachdem eine gemeinsame Wohnungssuche mit Jens nichts gebracht hatte, zog ich im September 1970 zu meinem italienischen Freund Franco G. in eine Drei-Zimmer-Kellerwohnung am Leuschnerdamm in Kreuzberg, drei Meter von der Berliner Mauer entfernt, kein Bad, Außenklo, 68 DM Monatsmiete. Jens kam ab und zu zu Besuch. Franco bemalte das Stück Mauer gegenüber den Kellerfenstern mit bunten Blumen. Die Wohnzimmerdecke hatte er mit Alufolie ausgelegt, um etwas Licht in die Bude zu bringen.

 

Danach habe ich Jens seltener gesehen. Er ist Journalist geworden, hat die Bücher von Gabriele Tergit für Deutschland wiederentdeckt und veröffentlicht und Reportagen über sie gemacht. Hier ist er im Gespräch mit ihr zu hören. Jens ist 2011 an einer Lungenentzündung gestorben.

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