"Die Welt ist nicht absurd, sie ist."
Undine Gruenter, Der Autor als Souffleur. Journal 1986-1992, Frankfurt am Main 1995, S. 12
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Mittwoch, 25. September 2019
Mittwoch, 21. August 2019
Jan Brandt beglückt das Leeraner Publikum mit einer Leseperformance zu „Ein Haus auf dem Land“
„So etwas habe ich in Leer noch nicht erlebt“, sagte mein ehemaliger Schulkamerad beim Hinausgehen. Wir hatten soeben Jan Brandts grandiosen Auftritt zu seinem neuen Buch „Ein Haus auf dem Land – eine Wohnung in der Stadt“ (DuMont Verlag 2019, 424 Seiten, € 24) gesehen. Ich konnte ihm nur zustimmen. Dies war eine neue Dimension dessen, was man sich unter einer „Dichterlesung“ vorstellt.
Jan Brandt, von meinem idealen Platz auf der Empore gesehen |
Im rammelvollen „Kulturspeicher“ hatte der Autor zunächst mit einer traditionellen Lesung aus dem Berliner Teil des Buches begonnen, durchaus unterhaltsam, vielleicht etwas zu lang.
Nach der Pause inszenierte er dann jedoch eine minimalistische, aber hocheffiziente und überraschende Choreographie zu Szenen des Buches, die in Ihrhove (in der Nähe von Leer) spielen: Er ließ seinen über 90jährigen Vater persönlich auftreten und ihn die Geschichte des vom Urgroßvater erbauten alten Gulfhofes und seiner Bewohner erzählen, so wie das auch im Buch vorkommt.
Der Vater wärmte das Publikum erst mit einem „In Ostfreesland is’t am besten“ zum Mitsingen mit der Mundharmonika auf und bewies dann ein außerordentliches und hochkonzentriertes Erzähltalent mit Tendenz zum Nicht-Aufhören-Wollen, was wiederum Teil der Choreographie war. Großer Jubel!
Nach der Pause inszenierte er dann jedoch eine minimalistische, aber hocheffiziente und überraschende Choreographie zu Szenen des Buches, die in Ihrhove (in der Nähe von Leer) spielen: Er ließ seinen über 90jährigen Vater persönlich auftreten und ihn die Geschichte des vom Urgroßvater erbauten alten Gulfhofes und seiner Bewohner erzählen, so wie das auch im Buch vorkommt.
Der Vater wärmte das Publikum erst mit einem „In Ostfreesland is’t am besten“ zum Mitsingen mit der Mundharmonika auf und bewies dann ein außerordentliches und hochkonzentriertes Erzähltalent mit Tendenz zum Nicht-Aufhören-Wollen, was wiederum Teil der Choreographie war. Großer Jubel!
Der nächste Überraschungsgast war der Bankangestellte aus Ihrhove, mit dem Jan Brandt über die Finanzierung des alten Hofes verhandelt hatte, den er vor dem Abriss bewahren wollte. Auch der Vater hatte sich da eingemischt und mal in der Bank vorbeigeschaut. Die beiden Herren re-inszenierten in eigener Rolle das im Buch ausführlich beschriebene hochamüsante Gespräch in aller Kürze, aber nicht minder vergnüglich. Frenetischer Jube!!!
Der Rückkauf war für Brandt nicht finanzierbar. Das Haus ist abgerissen und durch einen hässlichen Neubau ersetzt worden. Die Problematik des Verschwindens alter Dorfarchitektur und vieler charakteristischer Elemente ostfriesischer Dörfer liegt dem Autor sehr am Herzen. Er beschloss den Abend mit einer Reihe provokativer Fragen an anwesende politisch Verantwortliche. Die Antworten waren – wie zu erwarten – unbefriedigend, aber das Bewusstsein für die Problematik ist durch dieses Buch, mit dem er noch durch weitere fünfzehn Städte und Dörfer tingelt, zweifellos gewachsen.
Und er hat, wofür ihm die Leiterin des Kulturspeichers am Ende dankte, Leer und Ihrhove in die deutsche Literatur eingebracht. Nun, da gibt es auch noch einen Jochen Schimmang, aber den hatte Jan schon selbst erwähnt.
Ein wunderschöner Abend. Lest das Buch!
Die neue Umhängetasche der Stadtbibliothek Leer, die Jan Brandt an diesem Abend geschenkt bekam |
Samstag, 1. Juni 2019
Science fiction als Gegenwartsbewältigung - Deutsche Romane des 21. Jahrhunderts - update
Ein Update meiner Liste der deutschen Utopien im 21. Jahrhundert:
Ernst-Wilhelm Händler, Der Überlebende (2013)
Dietmar Dath, Feldeváye - Roman der letzten Künste (2014)
Reinhard Jirgl, Oben das Feuer, unten der Berg (2016)
Karen Duve, Macht (2016)
Thomas von Steinaecker, Die Verteidigung des Paradieses (2016)
Thea Dorn, Die Unglückseligen (2016)
Emma Braslavsky, Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen (2016)
Thomas Lehr, 42 (2005)
Thomas Glavinic, Die Arbeit der Nacht (2006)
Dietmar Dath, Die Abschaffung der Arten (2008)
Christian Kracht, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008)
Juli Zeh, Corpus delicti. Ein Prozess (2009)
Günter Hack, ZRH (2009)
Thor Kunkel, Schaumschwester (2010)
Dorothee Elminger, Einladung an die Waghalsigen (2010)
Jochen Schimmang, Neue Mitte (2011)
Simon Urban, Plan D (2011)
Dietmar Dath, Pulsarnacht (2012)
Timur Vermes, Er ist wieder da (2012)
Reinhard Jirgl, Nichts von euch auf Erden (2013)
Georg Klein, Die Zukunft des Mars (2013)
Clemens J. Setz, Indigo (2013)
Hannes Stein, Der Komet (2013)
Ernst-Wilhelm Händler, Der Überlebende (2013)
Dietmar Dath, Feldeváye - Roman der letzten Künste (2014)
Jürgen Neffe, Mehr als wir sind (2014)
Roman Ehrlich, Das kalte Jahr (2014)
Matthias Nawrat, Unternehmer (2014)
Alfred Stabel, Der Goldene Apfel der Deutschen. Die Türken erobern Wien (2014)
Tom Hillenbrand, Drohnenland (2014)
Leif Randt, Planet Magnon (2015)
Dietmar Dath, Venus siegt (2015)
Hans-Jörg Schertenleib, Jawaka (2015)
Martin Burckhardt, SCORE. Wir schaffen das Paradies auf Erden (2015)
Heinz Helle, Eigentlich müssten wir tanzen (2015)
Valerie Fritsch, Winters Garten (2015)
Jochen Beyse, Lawrence und wir (2015)
Juan S. Guse, Lärm und Wälder (2015)
Reinhard Jirgl, Oben das Feuer, unten der Berg (2016)
Karen Duve, Macht (2016)
Thomas von Steinaecker, Die Verteidigung des Paradieses (2016)
Thea Dorn, Die Unglückseligen (2016)
Emma Braslavsky, Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen (2016)
Eugen Ruge, Follower. Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel (2016)
Arne Ahlert, Moonatics (2016)
Ann Cotten, Verbannt! (2016)
Stephan R. Meier, NOW. Du bestimmst, wer überlebt (2017)
Kat Kaufmann, Die Nacht ist laut, der Tag ist finster (2017)
Jochen Beyse, Fremd wie das Licht in den Träumen der Menschen (2017)
Matthias Oden, Junktown (2017)
Franz Friedrich, 25052015. Der letzte Montag im Mai. Ein Zeitreiseführer (App für ios und android, 2017)
Dietmar Dath, Der Schnitt durch die Sonne (2017)
Doron Rabinivici, Die Außerirdischen (2017)
Hannes Stein, Nach uns die Pinguine. Ein Weltuntergangskrimi (2017)
Dirk van Versendaal, Nyx (2017)
Theresa Hannig, Die Optimierer (2017)
Marc-Uwe Kling, Qualityland (2017)
Martina Clavadetscher, Knochenlieder (2017)
Theresa Hannig, Die Optimierer (2017)
Helmut Krausser, Geschehnisse während der Weltmeisterschaft (2018)
Tom Hillenbrand, Hologrammatica (2018)
Josefine Rieks, Serverland (2018)
Georg Klein, Miakro (2018)
Alexander Schimmelbusch, Hochdeutschland (2018)
Julia von Lucadou, Die Hochhausspringerin (2018)
Helene Hegemann, Bungalow (2018)
Max Annas, Finsterwalde (2018)
Christian Torkler, Der Platz an der Sonne (2018)
Timur Vermes, Die Hungrigen und die Satten (2018)
Tijan Sila, Die Fahne der Wünsche (2018)
Frank Schätzing, Die Tyrannei des Schmetterlings (2018)
Eckart Nickel, Hysteria (2018)
Gabriele Albers, Nordland. Hamburg 2059 – Freiheit (2018)
Juan S. Guse, Miami Punk (2019)
Ann Cotten, Lyophilia (2019)
Theresa Hannig, Die Unvollkommenen (2019)
Sibylle Berg, GRM. Brainfuck (2019)
Helene Bukowski, Milchzähne (2019)
Stadt Land Heimat - Jan Brandts schönes neues Buch
Im dritten Kapitel seines Buches „Ein Haus auf dem Land“ (Köln 2019) fährt der Autor Jan Brandt zum abrissbedrohten Haus seines Urgroßvaters im ostfriesischen Dorf Ihrhove, “legte eine Hand an die Steine und dachte an die Zeit zurück, als es gebaut wurde und schließlich dastand, wo es seitdem stand.” Dann folgt im Text, 33 Seiten lang (S. 70-102), eine Aufzählung von Ereignissen in Deutschland, Europa und der Welt, die seit dem amerikanischen Bürgerkrieg stattgefunden haben. Der Urgroßvater war seinerzeit in die Vereinigten Staaten ausgewandert und zurückgekehrt. Viele aus den folgenden Generationen sollten es ihm nachtun. So entstand ein fruchtbares Spannungsfeld zwischen dem dörflich-abgeschiedenen Ihrhove und dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Jan Brandts lange Liste endet mit der Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie 2017, deren Motto der Parzivalsatz: “Zum Raum wird hier die Zeit” war. Dann folgt noch die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA: “Und ich nahm meine Hand von der Wand”. Der Geschichtszauber ist am Ende. Schluss des Kapitels.
Diese sehr lange Liste historischer Ereignisse, die wohl kaum ein Leser ohne das Überblättern mehrerer Seiten durchsteht, ist nicht die einzige Auffälligkeit an Jan Brandts neuem Buch: Es handelt sich nämlich um zwei Bücher, die als Wendebuch aneinander gebunden sind. Das andere Buch hat den Titel “Eine Wohnung in der Stadt” und handelt von Brandts langwieriger Wohnungssuche in Berlin, wo er seit 1998 gewohnt hatte und nach einer Eigenbedarfskündigung seines Vermieters beinahe auf der Straße gestanden hätte. Und so wie “Ein Haus auf dem Land” im Laufe der Kapitel zu einer Sozial- und Familiengeschichte des Lebens in Ostfriesland wird, so wird aus “Eine Wohnung in der Stadt” eine Sozial- und Wohnungsmarktgeschichte im Nachwende-Berlin. Es ist nicht deutlich, wo hier hinten und vorn ist. Das Buch hat zwei Cover. Man kann an beiden Seiten mit dem Lesen beginnen.
Das Interessante an dem Doppelbuch ist das Spannungsverhältnis zwischen Stadt und Land so wie es sich im Autor austrägt. Seine Bindung an den Heimatort ist stark. Er will das Haus des Urgroßvaters, einen Gulfhof aus dem 19. Jahrhundert, vor dem Abriss bewahren, scheitert aber letztlich an den Kosten und an sich selbst. Er will, gegen alle guten Ratschläge, immer beides: Ihrhove und Berlin. Sollte das die legendäre ostfriesische Sturheit sein?
Lange Aufzählungen von Namen und Gegenständen tauchten auch schon in Brandts großartigem Roman “Gegen die Welt” (Köln 2011) auf. So krass wie hier allerdings nicht. Das hat schon etwas Autistisches. Oder gibt es eine poetologische Rechtfertigung dafür?
Ich muss da an mich als Kind denken. Ich malte seitenlang winzige Kreise in ein Notizbuch, und als die Lehrerin mich fragte, was das sei, sagte ich “Kügelchen”. Ich nahm mir mehrfach vor, im Kopf bis 10 000 zu zählen. Wie weit ich gekommen bin und ob ich es geschafft habe, weiß ich nicht mehr. Und heute? Ich bin hocherfreut, wenn man mich auffordert, auf Facebook 10 Covers von mir lieben Romanen zu posten. Ich verfolge geradezu gierig alle Long- und Shortlists für deutsche und internationale Buchpreise. In meinem Blog habe ich eine Liste utopisch/dystopischer Romane seit 2005 veröffentlicht, die ich immer wieder up to date bringe. Ich habe was mit Listen. Das hat schon etwas Autistisches.
Nun bin auch ich Ostfriese. Die ostfriesische Sturheit wird auch mir nachgesagt, und die Konstellation der konkurrierenden Heimatorte von Jan Brandt ist auch bei mir gegeben: Wir haben denselben Geburtsort, Leer in Ostfriesland. Und auch ich habe mit 18 Jahren Ostfriesland in Richtung Berlin verlassen. Eine intime heimatliche Bindung mit Leer oder Ostfriesland oder mit der Verwandtschaft habe ich in all den fünzig Jahren allerdings nicht gehabt. Die Schulfreunde von damals sind zum größten Teil in alle Windrichtungen verschwunden. Leer besuche ich von Zeit zu Zeit, um das Grab meiner Eltern zu pflegen. Ein hundertfünfzigjähriges Haus, auf das ich meine Hand hätte legen können, um den Sound einer generationenlangen Geschichte zu spüren, habe ich nicht, nur die Bäckerei meines Vaters, dessen Nachfolge ich nicht antreten wollte, und bei dessen Nachfolgern ich vielleicht einmal in zehn Jahren ein Brot kaufte, um noch einmal zu fühlen wie das in dem kleinen Ladengeschäft war und wie das Haus an der Edzardstraße aussah. Mehr nicht. Ich lebe in Groningen.
Beim Lesen von Jan Brandts Doppelbuch hatte ich mehrmals Momente, in denen ich es meiner Liste der utopisch/dystopischen Romane hinzufügen wollte. Denn genauso wie in der auffälligen Fülle all der sogenannten Zukunftsvisionen der letzten fünfzehn Jahre geht es bei Brandt um die vergangenheitsgeladene Gegenwart, aus der er eigene Zukunft produzieren muss, um weiterleben zu können. Er hat für jedes Teilbuch einen Untertitel: “Von einem, der auszog, um in seiner neuen Heimat anzukommen” für das Stadtbuch und “Von einem, der zurückkam, um seine alte Heimat zu finden” für das Landbuch. Der quälende Widerspruch zwischen beiden ist das Geheimnis der Stärke dieses Buches, das von Heimat in Gegenwart und Zukunft handelt.
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