Die “schöne Rezension in der Welt”, so berichtet ein begeisterter Leser bei Amazon, hat ihn zu diesem Buch geführt: „Auerhaus“, von Bov Bjerg (Berlin 2015, € 18). „Ich möchte für immer im Auerhaus wohnen“ ist sein Fazit nach der Lektüre.
Ich habe die „schöne Rezension“ auch gelesen und das dritte in Groningen verkaufte Exemplar ergattert:
Keine Sekunde möchte ich im Auerhaus leben!
Was ist bloß mit
den Rezensenten los? Peter Praschl in der Welt: „So wahr wie mit Bov Bjerg
fühlte sich Jugend lange nicht an“, Tobias Becker in Spiegel-Online: „Ein
zauberschönes Buch über die Jugend – für jedes Alter“. Offenbar legt ihnen die
Erinnerung an die Zeit, in der sie 18 waren, einen Zauberschleier vor die
Augen, hinter dem Bov Bjergs Geschichte in einem Berg aus süßer Zuckerwatte
verschwindet.
„Auerhaus“ ist
ein knallhartes Buch. Es handelt von sechs 18jährigen zu Anfang der achtziger Jahre,
die kurz vor ihrem Abitur in einem schwäbischen Dorf eine Wohngemeinschaft
gebildet haben, um ihrem Freund Frieder, der einen Selbstmordversuch mit
nachfolgendem Aufenthalt in der Psychiatrie hinter hat, eine schützende
Umgebung zu geben. Es ist die Geschichte von Höppner Hühnerknecht (dem Ich-Erzähler),
der gutbürgerlichen Vera und Cäcilia, der pyromanen Pauline, dem schwulen
Proleten Harry und dem suizidären Frieder.
Ein pädagogischer
Coming-of-Age-Roman mit positivem Ende also? Mitnichten! Alle sechs
Protagonisten sind dauernd entweder voll oder vollgedröhnt und zeichnen sich
vor allem durch geistige und soziale Minderjährigkeit aus. Sie bestreiten ihren
Lebensunterhalt mit systematischem Diebstahl und (in einem Fall) mit Prostitution
und vergnügen sich mit grobem Unfug, alles unter den Augen eines sehr
unrealistisch gezeichneten freundlichen Dorfpolizisten.
Die Jugendlichen
spielen oft laut den Song „Our House“ (1982) der Gruppe Madness. Die
Dorfbewohner, die kein Englisch können, machen daraus „Auerhaus“.
Am Ende, nach der
Auerhauszeit, hat es Frieder doch noch geschafft. Beim seinem Begräbnis treffen
sich alle wieder, bis auf Pauline, die wegen eines Brandanschlags im Gefängnis
sitzt.
Das Buch ist in
einem einfachen und schönen Deutsch geschrieben. Das ist gar nicht so einfach!
Es liest sich sehr flott weg, und doch gibt es immer wieder Stellen, an denen
man kurz innehält
„Als wir die
Treppe zur Klapse hochgingen, blendete uns die weiße Hauswand. Ich drehte mich
noch mal um. Die Wolkendecke war an ein paar Stellen aufgerissen. Sonne fiel
auf gelbes Laub. Das Laub leuchtete. Das sah aus wie Löcher im Rasen. Als ob
die Sonne von unten schien. Aus der Hölle oder so“ (Auerhaus, 47).
Auch Berlin
spielt eine Rolle, aber nur als Fluchtmöglichkeit vor dem Wehrdienst. Das
Politische findet sich nur ganz subtil:
„‘Hast du dir
Berlin mal angeguckt auf der Karte, wie das liegt? Das sieht aus wie eine
Gedankenblase von Westdeutschland, oder? Wie viele Einwohner hat Berlin?‘
Ich sagte: ‚West-Berlin?
Zwei Millionen oder so.‘
Harry sagte: ‚Zwei
Millionen westdeutsche Gedanken‘“ (Auerhaus, 230).
Die harten und
absurden Seiten der westdeutschen Gesellschaft bekommen dagegen eindrucksvolle
Szenen: der Deutschunterricht (19-22), die Arbeit in der Hühnerfarm (31-35), der
Abituraufsatz (167-171), der SEK-Einsatz (172-178), die Musterungsszene
(147-157).
Wie man darauf
kommen kann, dieses Buch mit Christa Wolfs „Sommerstück“ zu vergleichen wie es
Elke Schlinsog im Deutschlandradio Kultur tut, ist mir ein Rätsel. Und auch mit
Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ sollte man es nicht in eine Reihe stellen, da
der Autor von „Auerhaus“ in seiner Negativität sehr viel weiter geht. Für
meinen Geschmack: zu weit. Ich würde diesen Roman nicht den 16/17jährigen
niederländischen Schülern empfehlen, für die ich als Schulbuchautor arbeite.
Und wenn David
Wagner auf dem Rückeinband zitiert wird: „Wir sollten alle im Auerhaus wohnen“,
dann hoffe ich, er meint damit, dass wir uns gesellschaftlich mehr um die
jungen Leute kümmern müssen. Außerdem: Wir leben ja alle im Auerhaus. Wir
müssen nur die Augen aufmachen.
Den Song „Our
House“ habe ich damals auch gerne gehört:
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen