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Donnerstag, 30. Juli 2015

Bov Bjergs Roman “Auerhaus” – Oh du schöne Jugendzeit?


Die “schöne Rezension in der Welt”, so berichtet ein begeisterter Leser bei Amazon, hat ihn zu diesem Buch geführt: „Auerhaus“, von Bov Bjerg (Berlin 2015, € 18). „Ich möchte für immer im Auerhaus wohnen“ ist sein Fazit nach der Lektüre.

Ich habe die „schöne Rezension“ auch gelesen und das dritte in Groningen verkaufte Exemplar ergattert: Keine Sekunde möchte ich im Auerhaus leben!

Was ist bloß mit den Rezensenten los? Peter Praschl in der Welt: „So wahr wie mit Bov Bjerg fühlte sich Jugend lange nicht an“, Tobias Becker in Spiegel-Online: „Ein zauberschönes Buch über die Jugend – für jedes Alter“. Offenbar legt ihnen die Erinnerung an die Zeit, in der sie 18 waren, einen Zauberschleier vor die Augen, hinter dem Bov Bjergs Geschichte in einem Berg aus süßer Zuckerwatte verschwindet.

„Auerhaus“ ist ein knallhartes Buch. Es handelt von sechs 18jährigen zu Anfang der achtziger Jahre, die kurz vor ihrem Abitur in einem schwäbischen Dorf eine Wohngemeinschaft gebildet haben, um ihrem Freund Frieder, der einen Selbstmordversuch mit nachfolgendem Aufenthalt in der Psychiatrie hinter hat, eine schützende Umgebung zu geben. Es ist die Geschichte von Höppner Hühnerknecht (dem Ich-Erzähler), der gutbürgerlichen Vera und Cäcilia, der pyromanen Pauline, dem schwulen Proleten Harry und dem suizidären Frieder.

Ein pädagogischer Coming-of-Age-Roman mit positivem Ende also? Mitnichten! Alle sechs Protagonisten sind dauernd entweder voll oder vollgedröhnt und zeichnen sich vor allem durch geistige und soziale Minderjährigkeit aus. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt mit systematischem Diebstahl und (in einem Fall) mit Prostitution und vergnügen sich mit grobem Unfug, alles unter den Augen eines sehr unrealistisch gezeichneten freundlichen Dorfpolizisten.

Die Jugendlichen spielen oft laut den Song „Our House“ (1982) der Gruppe Madness. Die Dorfbewohner, die kein Englisch können, machen daraus „Auerhaus“.

Am Ende, nach der Auerhauszeit, hat es Frieder doch noch geschafft. Beim seinem Begräbnis treffen sich alle wieder, bis auf Pauline, die wegen eines Brandanschlags im Gefängnis sitzt.

Das Buch ist in einem einfachen und schönen Deutsch geschrieben. Das ist gar nicht so einfach! Es liest sich sehr flott weg, und doch gibt es immer wieder Stellen, an denen man kurz innehält


„Als wir die Treppe zur Klapse hochgingen, blendete uns die weiße Hauswand. Ich drehte mich noch mal um. Die Wolkendecke war an ein paar Stellen aufgerissen. Sonne fiel auf gelbes Laub. Das Laub leuchtete. Das sah aus wie Löcher im Rasen. Als ob die Sonne von unten schien. Aus der Hölle oder so“ (Auerhaus, 47).


Auch Berlin spielt eine Rolle, aber nur als Fluchtmöglichkeit vor dem Wehrdienst. Das Politische findet sich nur ganz subtil:


„‘Hast du dir Berlin mal angeguckt auf der Karte, wie das liegt? Das sieht aus wie eine Gedankenblase von Westdeutschland, oder? Wie viele Einwohner hat Berlin?‘

Ich sagte: ‚West-Berlin? Zwei Millionen oder so.‘

Harry sagte: ‚Zwei Millionen westdeutsche Gedanken‘“ (Auerhaus, 230).



Die harten und absurden Seiten der westdeutschen Gesellschaft bekommen dagegen eindrucksvolle Szenen: der Deutschunterricht (19-22), die Arbeit in der Hühnerfarm (31-35), der Abituraufsatz (167-171), der SEK-Einsatz (172-178), die Musterungsszene (147-157).



Wie man darauf kommen kann, dieses Buch mit Christa Wolfs „Sommerstück“ zu vergleichen wie es Elke Schlinsog im Deutschlandradio Kultur tut, ist mir ein Rätsel. Und auch mit Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ sollte man es nicht in eine Reihe stellen, da der Autor von „Auerhaus“ in seiner Negativität sehr viel weiter geht. Für meinen Geschmack: zu weit. Ich würde diesen Roman nicht den 16/17jährigen niederländischen Schülern empfehlen, für die ich als Schulbuchautor arbeite.



Und wenn David Wagner auf dem Rückeinband zitiert wird: „Wir sollten alle im Auerhaus wohnen“, dann hoffe ich, er meint damit, dass wir uns gesellschaftlich mehr um die jungen Leute kümmern müssen. Außerdem: Wir leben ja alle im Auerhaus. Wir müssen nur die Augen aufmachen.



Den Song „Our House“ habe ich damals auch gerne gehört:

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