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Mittwoch, 17. Juli 2013

Nootebooms Deutschland

Beim frühen Nooteboom ist der Widerwille gegen das Betreten Deutschlands noch zu spüren, wie in vielen niederländischen Texten aus der Zeit:

Um genau neun Minuten nach sechs abends falle ich ohne nähere Krieg­serklärung in Deutschland ein. Die Schilder ändern ihre Farbe, die Buchstaben ihre Form, ich werde ein Ausländer, und während ich weiterfahre wird es dunkel. Es ist wenig Verkehr, Gelegenheit genug zu meditieren. Die deutsche Landschaft gleitet vorbei, und ich dringe in ein viel gröβeres Ganzes ein als dasjenige, aus dem ich gerade komme. Die Autobahn ist so etwas wie eine Bahn um die Erde. Wenn man irgendwo hin will, muss man den Kurs ändern. Schafft man es nicht, die Raketen­motoren rechtzeitig in Betrieb zu nehmen, dann wäre man dazu verdammt, auf ewig in einer Bahn um Deutschland zu kreisen, ohne jemals in Köln, Würzburg, Wertheim, Nürnberg, München oder wie die Krater auch heiβen landen zu können. Ein schimmelndes Skelett im Ewigen Mercedes.

Wer öfter nach Deutschland kommt, muss die Gefühle kennen, die mich langsam aber sicher umfangen. Aus dem Autoradio erklingt Musik für Lastkraftfahrer, dieselbe Art Musik, die beim Steig‑ und Sinkflug in Flugzeugen benutzt wird und dazu dient, durch ihre betäubende Wirkung die Angst vor dem Übernatürlichen zu beschwören. An der Autobahn liegen keine Städte. Da liegen nur Schilder, die Städte bedeuten sollen. Manchmal raucht in der Ferne wohl einmal ein Schorn­stein oder es erstreckt sich ein Wald die Hügel hinauf, in dem nach Aussage wiederum eines Schildes Hirsche zum Vorschein kommen können, aber Beweise gibt es nicht. Das Beste unter diesen Umständen ist, einfach zu einer Unio mystica mit der Autobahn zu kommen, sich mit dem Beton und den Rillen im Beton zu vereinen, denn nach einer Stunde oder länger, die man mit diesen geistigen Übungen verbracht hat, drängt sich einem die schreckliche Wahrheit auf: dass Deutschland vielleicht gar nicht existiert. Schlieβlich hat man in anderen groβen Ländern (wie England oder Frankreich) auch Autobahnen, aber die münden im richtigen Augenblick immer wieder bei irgendeinem mittelalterlichen Dorf, durch das man in endlosen Staus stundenlang hindurch muss, aber dann weiβ man jedenfalls, dass das Land existiert. Nicht hier. Wald, Wiese, Flur, Hügel, Gebirge sind flüchtige Schatten, und nur mit äuβerster Willenskraft zwinge ich mich aus dem schicksalhaften Kreis heraus und komme auf eine echte Straβe mit echten Pflastersteinen, Richtungsschildern in dieser merkwürdigen Farbe Gelb, derer ich mich noch aus meiner entschwundenen Jugend erinnere, Gasthäusern, aus denen Menschen herauskommen: ich bin in Köln, in einem Hotel neben dem Dom.

Cees Nooteboom, 1978 (Übersetzung P.G.)


Cees Nooteboom 1964, 1978 und 2004

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