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Donnerstag, 31. Januar 2013

Die wehrhafteste Demokratie Europas

In Sloterdijks Denktagebuch “Zeilen und Tage” finde ich alle paar Seiten Zeilen, die ich sofort notieren, kommentieren, recherchieren und in meinem Blog zitieren möchte. Da hilft nur Zurückhaltung.

Einmal noch: Er kommentiert immer wieder auch innenpolitische und internationale Entwicklungen. Im Fall Guttenberg (2011) reagiert er mit einem in der deutschen Medienlandschaft ungewöhnlichen Lob der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland:
“Der Ausgang der Guttenberg-Affäre beweist, dass die BRD die wehrhafteste, moralisch sprungbereiteste, nervöseste, wenn oft auch hysterisch übersteuerte Demokratie Europas ausgebildet hat, in der Charismatiker kein leichtes Leben haben. Wo sonst macht man sich so viel Mühe mit der Unterscheidung von Charisma und Betrug? Wo gibt es so viele misstrauische Kommentatoren, für die Betrug und Charisma von vornherein ein und dasselbe sind?”

Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage (Berlin 2012), 607f.
Das hätten wir vor vierzig Jahren sicher nicht gesagt. Gleichzeitig geht er hart ins Gericht mit der 68er Generation. Das hätte ich vor zehn Jahren noch nicht so akzeptiert.

Aber dass sich die Bundesrepublik zum besten aller möglichen deutschen Staaten entwickelt hat, ist mir zwischen 1980 und 2000 auch klar geworden. Vielleicht hat mir der Blick von außen dabei geholfen.

Frühlingsfreuden mit Vögeln

"Ein Mann erscheint auf einer Polizeistation, ganz niedergeschlagen, und sagt verwirrt: 'Ich habe meine Frau geamselt.' Darauf die Polizisten: 'Da hatten Sie sicher viel Spaß.' Der Mann: 'Ich habe mich falsch ausgedrückt, ich habe sie gedrosselt.'

Gefunden in: Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage (Berlin 2012), 591

Dienstag, 29. Januar 2013

Tarantino unchained – Django & Broomhilda

Vor ein paar Tagen habe ich Quentin Tarantinos "Django Unchained" gesehen. Nach dem hochlobenden Geraune um diesen Film war ich allerdings enttäuscht: zu lang, zu grausam, zu blutig, zu unbestimmt. Für mich jedenfalls. Dachte ich zunächst!

Aber ich wollte ihn für mein deutsches Kultur-Blog retten, indem ich einen kurzen Beitrag zu der schwarzen Sklavin mit dem Namen "Broomhilda" (Brünhilde) verfasste. Der sollte etwa so aussehen:

Tarantino benutzt in seinem postmodernen Spaghetti-Western, der kurz vor dem Bürgerkrieg im Süden der USA spielt, das Muster der deutschen Sage aus dem Nibelungenlied: Siegfried (= der befreite Sklave Django) rettet Brünhilde (= Broomhilda) , indem er einen Drachen (?) erschlägt und durch einen Feuerkreis (?) schreitet.

Viel länger sollte das nicht sein. Aber es gab Erklärungsbedarf, und als ich damit anfing, kam etwa dies:

Die schwarze Sklavin Broomhilda von Shaft verdankt diesen Namen ihrem vorherigen Eigentümer, einem deutschen Plantagenbesitzer. Er hatte sie Brünhilde genannt, was dann im Amerikanischen zu "Broomhilda" verbasterd wurde. Broomhilda spricht wunderschön deutsch und ist die geliebte Frau von Django (wieso Django? Das ist noch so eine Geschichte). Die beiden werden weiterverkauft und getrennt. Ihr neuer Besitzer nennt sie dann nur noch "Hildi" und geht grausam mit ihr um.

Am Anfang des Films befreit der deutsche Kopfgeldjäger Dr. King Schultz (phantastisch: Christoph Waltz) den Sklaven Django. (Warum? Das ist noch so eine Geschichte.) Irgendwann in der Mitte des Films erzählt er Django die germanische Sage von Brünhilde. Sie sei die Tochter eines Gottes und wegen irgendeiner Verfehlung auf einen Berg verbannt worden. In jedem deutschen Mythos spiele ein Berg eine Rolle. Brünhilde wird von einem Drachen bewacht, und außerdem liegt noch ein Feuerkreis um den Berg. Aber eines Tages kommt Siegfried, erschlägt den Drachen, durchschreitet den Feuerkreis und erlöst Brünhilde. Für Schultz ist klar: Django spielt die Rolle von Siegfried und muss Broomhilda befreien. Dazu wird er ja dann wohl einen Drachen erschlagen und einen Feuerkreis durchschreiten müssen. Warum und wie hilft Schultz Django? (Das ist noch so eine Geschichte).

Ach, was red ich denn. Es steht ja auf YouTube:



Ich komme da irgendwie nicht weiter. Der Film ist jedenfalls viel besser und komplexer als ich zunächst dachte. Im Internet gibt es wilde Diskussionen.

Für den Anfang empfehle ich die Rezensionen im New Yorker und in der FAZ, für Fortgeschrittene das Telefongespräch, das Mike Ryan von The Huffington Post mit dem Regisseur geführt haben will (Ryan liebt in seinen Rezensionen die Gesprächsform; ich vermute, er hat es sich ausgedacht).

Und wer sich wirklich dem Broomhilda-Komplex widmen will, ist bei "Broomhilda in Chains" gut aufgehoben. Sie hat am Ende übrigens wirklich ein Gewehr in der Hand.

Tarantino unchained: Ich muss den Film unbedingt noch einmal sehen.

Montag, 28. Januar 2013

Königin Beatrix als “Athletin der Konversation”

Ein merkwürdiges Zusammentreffen: Beim Weiterlesen in Peter Sloterdijks “Zeilen und Tage” traf ich heute morgen auf die folgenden Zeilen:
11. November (2009), Den Haag
Gestern abend: Ein intimes Dinner in der Haager Stadtresidenz von Königin Beatrix in Gegenwart von 12 Personen. Dem Gast [also Sloterdijk, P.G.] zuliebe werden die Gespräche bei Tisch auf deutsch geführt, die Königin spricht es ausgezeichnet. Eindrucksvoll ihr diskreter Athletismus in der Konversation, der es ihr erlaubt, an jeden einzelnen Gast im richtigen Ton das Wort zu richten. Nicht die Pünktlichkeit, die Belastbarkeit ist die die Höflichkeit der Könige.”

Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage (Berlin 2012), 314
Peter Sloterdijk formuliert hier in wenigen Zeilen eine der großen Qualitäten von Beatrix, die er – ganz im Sinne seiner Philosophie des permanenten Trainings – als “Athletismus der Konversation” bezeichnet. Er weiß um die tägliche Leistung dieser Frau und um die Belastbarkeit, die ihr Amt fordert und ist beeindruckt davon.

Heute abend hat Beatrix ihren Rücktritt erklärt. Sie ist Königin seit 1980, genauso lange wie ich in den Niederlanden lebe. Ich habe – mehr als viele meiner niederländischen Freunde – ihre Funktion und die Art und Weise ihrer Amtsausübung sehr geschätzt und hätte gerne neben meinem deutschen Pass einen niederländischen  Passport gehabt, der mich als Bürger des “Koninkrijk der Nederlanden” ausgewiesen hätte. Das war leider nicht möglich, da ich auf meinen deutschen Pass nicht verzichten wollte.
Komischerweise gebe ich mein eigenes Amt, das viel mit deutsch-niederländischer Begegnung zu tun hatte, auch dieses Jahr auf, und am 30. April, dem Tag der Thronübergabe an Willem Alexander, bin ich wieder einmal in Berlin. Eine Ära geht zuende, aber eine neue beginnt. Leve de Koning!

Samstag, 26. Januar 2013

Der Philosoph auf dem Fahrrad – Sloterdijk und Napoleon beim täglichen Fitnesstraining

In seinem Denktagebuch “Zeilen und Tage” mit Notizen aus den Jahren 2008-2011 widmet sich Peter Sloterdijk anderthalb brillante Seiten lang dem Genie Napoleons: An Hegels Wort von der “Weltseele zu Pferde” habe man immer die “Pferd- und Reiterseite” unterschätzt:



“Man muss sich Napoleons Kondition aber vor allem als Trainingseffekt einer physischen Praxis denken, genauer einer kavalleristischen Lebensform. Wenn der kleine Korse seine Mitwelt überrollte, dann auch, weil er als Energiesubjekt im Sattel einen uneinholbaren Trainingsvorsprung vor allen anderen machthabenden Zeitgenossen besaß. Neben ihm waren der Zar und der Kaiser in Wien kaum mehr als couch potatoes.
Der energische Mann aus Corte bewältigte im Sattel auch die längsten Strecken, es sind Ritte von 12 Stunden bezeugt, die er gelassen bewältigte, alle zwei Stunden die Pferde wechselnd. Bei seinem legendären Ritt von Valladolid nach Burgos im Januar 1809 legte er über 120 Kilometer im Galopp zurück. […] Napoleon war nicht so sehr ein Genie, sondern ein Fitnessphänomen.”

Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage (Berlin 2012), 264
Wenige Zeilen und Tage später berichtet Sloterdijk von einer Radtour, die er gerade hinter sich hat:

“Der längste Radausflug des Sommers: Von Wien Mitte nach Hainburg an der Donau nahe der tschechischen Grenze, bei starker Sonne, immer am Wasser entlang, zurück via Schwechat und durch den endlos gedehnten 11. Bezirk, vorbei am Zentralfriedhof. Der Tagestacho zeigt 122 Kilometer” (270).
Ich dachte sofort: Junge, Junge, zwei Kilometer mehr als Napoleon! (siehe oben) - und dann: Warum steht das hier? Sieht sich der Philosoph auf dem Drahtesel als heutige Spielform des rastlosen Genies, nur eben – in diesen spezialistischen Zeiten -  auf den Feldern der Philosophie? Sloterdijks mediale und physische Omnipräsenz lassen so etwas vermuten. Allerdings wusste Napoleon auf seiner feldherrlichen linea recta genau um die Richtung seines Schwertes und um die Stunde, die geschlagen hatte, während Sloterdijks Radtour in einem sinnfreien postmodernen Zirkel verläuft, am Ende “endlos gedehnt” und im Anblick des Wiener Zentralfriedhofs . Nur dem invertierten Training in den akademischen Sporthallen gilt letztlich seine Atemlosigkeit.

Doch in seinen exklusivsten Momenten erreicht auch er den Zustand, den er bei Napoleon als “umgekehrt ikarisches Phänomen” bezeichnet, den “Daseinsmodus als Sturz nach oben”. Ein paar Zeilen und Tage später zum Beispiel:
“Das Rad läuft ruhig den Berg hinauf, mühelos, ein stehendes Jetzt im Sattel” (284).
Das verschlägt mir als couch potato – in zweifelhafter Gesellschaft des Zaren und des Kaisers – dann doch den Atem.

Das Pferd Napoleons hieß übrigens Marengo. Wie mag wohl Sloterdijks Fahrrad heißen?

Donnerstag, 24. Januar 2013

Arno Schmidts Monde

Arno Schmidts Anhänger (also auch ich) schwärmen von seinen Mondmetaphern. Oft stehen sie schon in den ersten Zeilen eines Textes, um die Stimmung zu setzen, aber sie sind so zahlreich, dass es keine Mühe macht, in einer Viertelstunde ein, zwei Dutzend aufzutreiben. Diese hier kommen aus seinen frühen Schriften:

„Wohlig baumelte der Mond im wirbelnden Getriebe“

„Mond: als stiller Steinbuckel im rauhen Wolkenmoor“

„Völlig unangebracht: ein feuriger brünetter Mond in Wolkenrüschen“

„Glasgelb lag der gesprungene Mond“

„Die starke schwarze Morgenluft, in der ein Endchen Mond flackerte“

„Dörflich glomm die Butzenscheibe des Monds hinterm Wacholder, warm und still“

„Am Silberkraal des Mondes kauerte ein löwengelbes Gestern, buschmännig, im Gehöft“

„ein draller ländlicher Mond dicht überm dem Bauernvolk“

„der Lügnermond (wie alle Blaßgesichter!) bog sich mokant inmitten ehrsamen Silberhaars“

„verbogener Mond trieb auf gelben Lichtwellen (hinten bollwerkten aber schon die Wolken und er riß mühsam eine Silberbresche nach der anderen hinein)“

„Im Waschblauen die roten Wolkenhaken; vor uns der Mond mit grünem seekrankem Gesicht“

„der beinerne Mond gaffte aus seinem Hexenring“

„die wächserne Nase des Mondes zwischen papiernen Wolkenschlangen. Konfetti der Sterne drehte sich steif vorbei“

„der Mond schwamm, schon halb aufgelöst, in gelben Lichtbrühen“

„das hornige Haifischei des Mondes, überall aufgehängt in schwarzkorallen Bäumen“

„der kahle Mongolenschädel des Mondes schob sich mir näher“

Dies sind meine sechzehn Stellen, schnell zusammengestellt, aus Spaß und zur Demonstration.  Auch der Komponist Horst Lohse hat sechzehn Mondstellen ausgewählt und jeweils einen anderthalbminütigen musikalischen Kommentar dazu komponiert: “A. Schmidts Monde” (1995/96). Es ist mir leider nicht gelungen, das Stück irgendwo aufzutreiben. Ich bin für Hinweise dankbar.

Übung in Ernüchterung

“Eine Wochenendausgabe der New York Times ist welthaltiger als ein Jahrgang deutscher Literatur.”

Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage (Berlin 2012), 203

Dienstag, 22. Januar 2013

“Göttingen”- ein deutsch-französisches Chanson von Barbara

Der 50. Jahrestag des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages wird heute in Berlin wirklich sehr eindrucksvoll begangen.

Im Café Deutschland legen wir schlicht und sentimental einfach nur das Chanson “Göttingen” der französischen Sängerin Barbara auf:
 
Und da das Französische in diesen Zeiten der Verengsprachlichung in Deutschland und den Niederlanden fast verschwunden ist, hier die deutsche Übersetzung des Liedtextes:

Freitag, 18. Januar 2013

Der schönste erste Satz in der deutschen Literatur oder: Requiem für eine Küchenschürze

Mein Beitrag über Tom Wolfes “Schau heimwärts, Engel” vor ein paar Tagen hat mich an den Wettbewerb zum schönsten ersten Satz in der deutschsprachigen Literatur erinnert, der vor sechs Jahren stattgefunden hat. Gewonnen hat damals der Einsender des ersten Satzes von Günter Grass’ ”Der Butt”: “Ilsebill salzte nach.”

Darüber kann ich mich immer noch ärgern. Der Satz sollte doch Werbung fürs Lesen machen und nicht für einen mächtigen und selbstgefälligen Schriftsteller. Und man stelle sich “Ilsebill salzte nach” auf ein T-Shirt gedruckt vor! Damit geht doch keiner auf die Straße! Auf Küchenschürzen kann ich es mir dagegen ganz gut vorstellen. (Komisch: Auf Google ist nichts dergleichen zu finden. Sollte ich ein Loch im Markt entdeckt haben, oder kochen die deutschen Intellektuellen nicht mehr?)
Ihr ahnt vielleicht: Mein Unwille hat natürlich auch mit meinem eigenen, erfolglosen Beitrag zu tun. Das war nämlich der erste Satz einer ganz kleinen Geschichte von Arthur Schnitzler, “Amerika”, die ich schon einmal in Café Deutschland gesetzt habe:

“Das Schiff landet; ich setze meinen Fuß auf den neuen Weltteil…”
Anders als bei Ilsebill versteht hier jeder, worum es geht beziehungsweise jeder kann sich seinen Teil dazu denken. Man musste für den Wettbewerb eine Begründung schreiben. Ich habe sie gestern wiedergefunden und finde sie immer noch gut. Ihr könnt sie im Folgenden lesen:


Mittwoch, 16. Januar 2013

Zwanzig Filme zum Leben in der BRD


2.        Billy Wilder, Eine auswärtige Affäre (A Foreign Affair, 1948)
3.        Peter Lorre, Der Verlorene (1951)
4.        Helmut Käutner, Himmel ohne Sterne (1955)
5.        Kurt Hoffmann, Wir Wunderkinder (1958)
7.        Billy Wilder, Eins, zwei, drei (One, two, three, 1961)
8.        Alexander Kluge, Abschied von gestern (1966)
15.     Hark Bohm, Yasemin (1988)
18.     Andreas Veiel, Black Box BRD (2001)
19.     Fatih Akin, Gegen die Wand (2004)

Zwanzig Filme zum Leben in der DDR


2.        Kurt Maetzig, Immer bereit (1950)
3.        Kurt Maetzig, Schlösser und Katen (1956/57)
6.        Kurt Maetzig, Das Kaninchen bin ich (1965)
7.        Frank Beyer, Karbid und Sauerampfer (1963)
8.        Frank Beyer, Spur der Steine (1966)
9.        Konrad Wolf, Ich war neunzehn (1968)
12.     Konrad Wolf, Solo Sunny (1980)
13.     Evelyn Schmidt, Das Fahrrad (1982)
15.     Heiner Carow, Coming out (1989)
16.     Leander Haußmann, Sonnenallee (1999)
19.     Christian Petzold, Barbara (2012)

Montag, 14. Januar 2013

Typisch deutsch!


"Er hatte eine typisch deutsche Schwäche für den Überfluss”
(Thomas Wolfe, Schau heimwärts Engel, 2009, 84)

O je! Touché! Und das 1929 (Jahr der Erstausgabe).

Sonntag, 13. Januar 2013

Dutch, deutsch oder deitsch? Schau heimwärts, Engel

Als ich gestern mit der beginnenden Erkältung, die sich in meinem Kopf auszubreiten begann, nach einem Buch suchte, das mich davon ablenken könnte, griff ich nach mehreren vergeblichen Versuchen zu meinem dicken Weihnachtsgeschenk, der neuen Übersetzung von Thomas Wolfes “Schau heimwärts, Engel”.

Gleich der erste Satz fesselte mich an diesen Roman, den ich jetzt nicht mehr aus der Hand legen werde, bis ich ihn durch habe (na ja, ab und zu vielleicht). Ich bin sehr empfänglich für erste Sätze; ich weiß dann sofort, ob ich ein Buch mögen werde.
Aber was hat das mit Café Deutschland zu tun? Nun, hier ist der Satz:
“Ein Schicksal, das Engländer unter Deutsche führt, ist seltsam genug; doch wenn es von Epsom nach Pennsylvania führt und in den Hügelkranz von Altamont, wo der Hahn stolz im Korallenrot kräht und ein Marmorengel milde lächelt, webt eine dunkle Fügung mit, die in der öden Welt neue Wunder wirkt.”

Ein sehr poetischer Satz, und ein Fragezeichen in meinem Kopf, was die Engländer und die Deutschen betrifft. Aber die viel gelobte deutsche Übersetzung von Irma Wehrli hat die Frage vorhergesehen und in ihrem umfangreichen Anmerkungsapparat erklärt: “Pennsylvania Dutch werden die Nachkommen der Auswanderer aus dem Südwesten Deutschlands und aus der Schweiz genannt, die im 17. und 18. Jh. Pennsylvania besiedelten” (Schau heimwärts, 722).
Da war ich dann doch neugierig, was wohl im amerikanischen Text steht, und siehe da:

“A destiny that leads the English to the Dutch is strange enough; but one that leads from Epsom into Pennsylvania, and thence into the hills that shut in Altamont over the proud coral cry of the cock, and the soft stone smile of an angel, is touched by that dark miracle of chance which makes new magic in a dusty world.”
Prächtig übrigens - und schöner als im Deutschen - “the proud coral cry of the cock”und “the soft stone smile of an angel”, aber hier steht in der Tat “Dutch”. Im amerikanischen Englisch wurde im 17./19. Jahrhundert keine Unterscheidung zwischen deutsch und niederländisch gemacht, und so brauchen wir heute die Erläuterung dieses Sachverhalts. Dazu empfehle ich die Wikipedia-Artikel “Pennsylvania Dutch” und "Pennsylvania Dutch (Sprache)”. Das “Deitsch” der Einwanderer hat sich bei einigen Tausend Sprechern bis heute erhalten, vor allem bei den Amish.

Jetzt lese ich aber weiter.

Samstag, 12. Januar 2013

Grammatik zum Frühstück: das imperative Präteritum

Die herkömmlichen deutschen Grammatiklehrwerke sind ungeeignet, die komplexe Wirklichkeit des Sprachalltags zu erfassen.

Heute morgen sagte G. zu mir: “Der Kaffee war gut.”

Ich verstand diesen Satz sofort und ohne weitere Nachfrage als Aufforderung, ihr noch einen Kaffee zu holen. Automatisch stand ich auf, nahm ihre Tasse und ging zur Kaffeemaschine.

Während der Apparat brummte (Nespresso! What else?), dachte ich – wie immer, wenn ich scheinbar dumm in der Gegend herumstehe – nach: Im Rahmen einer handlungsorientierten Grammatik ist die Vergangenheitsform in dem Satz “Der Kaffee war gut” als Ausdruck eines gegenwärtigen Wunsches zu analysieren. Es handelte sich also um ein imperatives Präteritum (auch wenn es diesen Begriff in den Schulgrammatiken nicht gibt). Im aktuellen Fall ging es zudem um einen Akt geglückter Kommunikation, der der Handlungsgrammatik unserer Ehe entsprach. Das muss ja nicht immer so sein.
Ich brachte G. ihren zweiten Kaffee und erzählte ihr von meinen Gedanken. Sie hat sich sehr gefreut.

Aber vielleicht hatten wir auch nur einen Kater.

Mittwoch, 9. Januar 2013

David Bowie und Berlin

Thank you, David.





And this one I liked most:

Cinéma Café Deutschland: Kurt Maetzig, Immer bereit oder Die DDR-Kinder von 1950

Zu meinen vielen nicht verwirklichten Projekten gehört auch eine Geschichte der Demonstrationen. Mich interessiert daran besonders die Entwicklung der Form, der Choreographie, der Inszenierung mit allen möglichen Hilfsmitteln. Ich habe dazu nie eine umfassende Darstellung in Buch- oder Filmform gefunden (und wäre für entsprechende Hinweise dankbar.)

Ich habe immer angenommen, die größten Demonstrationen der deutschen Geschichte seien die in Westberlin 1982 (Reaganbesuch/Nato-Doppelbeschluss) und 2003 (Irakkrieg) mit jeweils etwa 500.000 Teilnehmern gewesen. Es scheint noch eine größere gegeben zu haben, nämlich das Deutschlandtreffen der Jugend 1950. Es ist von der gerade gegründeten DDR sehr aufwendig als erste große Selbstdarstellung inszeniert worden. An der Abschlußdemonstration in Ostberlin haben (nach Angaben der Organisatoren) 700.000 Jugendliche aus 21 Nationen teilgenommen. Westdeutschen Jugendlichen war (von den westdeutschen Behörden) die Teilnahme verboten; sie mussten heimlich die Grenze zur DDR überschreiten.
Diese Veranstaltung war auch der Anlass für einen für die damaligen Verhältnisse ebenso aufwendigen Dokumentarfilm von 62 Minuten Länge und erstmals in Farbe. Titel: Immer bereit, Regisseur: Kurt Maetzig. Maetzig war einer der wichtigsten Regisseure der DDR. Er ist am 8. August 2012 im Alter von 101 Jahren gestorben. Hier ist der Artikel, den der Berliner Tagesspiegel ihm zu seinem 100. Geburtstag gewidmet hat.
Wir kommen im Cinéma Café Deutschland noch auf ihn zurück. Er hat es verdient.

Für westliche und heutige Augen mag das Folgende ein wenig schwer zu konsumieren sein. Ich möchte beim Betrachten des Films deshalb zu einem ethnologischen Blick auffordern. Wir bekommen diesbezüglich allerlei zu sehen, was Berlin betrifft und auch was die von mir schon angesprochenen choreographischen Mittel betrifft. Und auch filmtechnisch hat Maetzig einiges zu bieten, wenn man bedenkt, wie schwer es ist, eine an sich völlig langweilige Veranstaltung zu filmen.

Wir sind (im Westen) derart vom finalistischen Blick auf die DDR geprägt, dass der sehr wohl vorhandene Idealismus der frühen Jahre, mit der DDR einen ganz anderen deutschen Staat aufzubauen, nur allzuoft mit Wessi-Siegergebärde weggewischt wird. Natürlich ist dies der erste große Propagandafilm und natürlich werden viele, allzu viele von den tausenden hier zu sehenden Jugendlichen schon ganz bald bitter von den politischen und sozialen Realitäten enttäuscht werden, aber so viel Anfang war nie. Oder bin ich jetzt ein Propagandaopfer geworden?

Hier ist jedenfalls der ganze Film. Nehmt euch die Zeit und guckt ihn euch ganz an.

Aber wir Wessis haben Martin Honert: Erinnerungen an eine BRD-Kindheit

Da tue ich heute mal was für die Wessi-Kinder, indem ich auf die große Martin-Honert-Ausstellung im Berliner Museum für Gegenwart (Hamburger Bahnhof) hinweise. Viele der Werke von Martin Honert beziehen sich auf seine westdeutsche Kindheit im Bottrop der fünfziger Jahre. Dabei spielen oft auch Produkte der Alltagswelt eine Rolle.
Hier ist der Bericht des BerlinerTagesspiegels zu der Ausstellung.
Die Ausstellung läuft noch bis zum 7. April 2013.

Dienstag, 8. Januar 2013

Auch Groenewold profitierte von Wulff

Der am meisten angeklickte Beitrag in Café Deutschland ist der über das Tattoo von Bettina Wulff. Nachdem jetzt bekannt wurde, dass das ehemalige Präsidentenpaar sich getrennt hat, schoss die Quote des alten Artikels noch einmal kräftig nach oben und bescherte meinem Blog ungerechtfertigte (?) Aufmerksamkeit.

Dabei habe ich damals nur durch die (Tattoo-)Blume meine Bedenken zum Phänomen einer tätowierten Präsidentengattin ausdrücken wollen. Wo die Boulevardpresse vom “modernen” Präsidentenpaar schwärmte, ging es mir darum, dass es sich hier weniger um den Aufstieg des Tattoos von der halbseidenen in die seidene Welt handelt, als um den Abstieg - auch der höchsten  - deutschen Politik ins halbseidene Milieu.

Das wird auch dieser Tage deutlich, wo noch einmal die eventuelle Vorteilsnahme des Präsidenten Wulff im Zusammenhang seiner Freundschaft mit dem Filmproduzenten David Groenewold ins Gerede kommt. So zucke ich immer wieder zusammen, wenn in den Abendnachrichten Sätze wie “Wulff profitierte von Groenewold” vorkommen.

Wie dem auch sei: Auch ich profitiere von dem Aufmerksamkeits-mechanismus, den bewusst gewählte Schlagzeilen auslösen. Und so wird auch dieser Beitrag mit seinem uneigentlichen, aber korrekten Titel Erfolg beim großen Publikum haben.

Sonntag, 6. Januar 2013

Cinéma YouTube: Ingmar Bergman, Das Schlangenei

Der schwedische Regisseur Ingmar Bergman lebte und arbeitete nach einer Anklage wegen Steuerhinterziehung 1976 für einige Jahre in München. Dort entstand 1977 der Film “Das Schlangenei”, der im Berlin der Hyperinflation von 1923 spielt. Es ist keiner seiner großen Filme, und auch sein Anspruch, die Genese des deutschen Nationalsozialismus zu zeigen, ist nicht überzeugend umgesetzt. Am Ende des Films steht die Prophezeiung, wie Deutschland in zehn Jahren aussehen würde:

„Jeder kann sehen, was die Zukunft bringt. Es ist wie ein Schlangenei. Durch die dünnen Häute kann man das fast völlig entwickelte Reptil deutlich erkennen.“
Aber auch ein nicht ganz so guter Bergman-Film bleibt sehenswert, und es ist schade, dass er fast vergessen ist. Café Deutschland bringt in nächster Zeit eine Reihe halb vergessener Filme, die in kompletter Fassung auf YouTube stehen: Cinéma YouTube im Café Deutschland! "Das Schlangenei" in der englischen Fassung:

 
 

Samstag, 5. Januar 2013

DDR Kinder versus BRD Kinder

Auf Facebook gibt es seit anderthalb Jahren die Community DDR Kinder:

Kindheitserinnerungen pur! Wir haben DDR Kinder gegründet, weil wir selbst DDR Kinder/Wendekinder sind. Lasst uns hier Erfahrungen, Fotos, Musik oder DDR-Begriffe austauschen. Macht mit bei „DDR Kinder“. Mit dieser Facebook Seite möchten wir alle "DDR Kinder" ansprechen, die gerne noch einmal einen Blick zurück werfen möchten.

Die Community hat inzwischen 200 000 I-Like-Klicks und weist eine rege Kommunikation zu den einzelnen Beiträgen auf. Es ist evident, dass diese Facebook-Seite einem großen Bedürfnis entspricht. Sie bietet für In- und Outsider einen bunten Erinnerungsort der DDR-Alltagsgeschichte.

Seit einem halben Jahr gibt es nun auch die Community BRD Kinder, die sich an den Erfolg der DDR Kinder anhängen möchte:
Kindheitserinnerungen! Es wurde "BRD Kinder" gegründet um zu zeigen wie die Kinderzeit in der BRD vor der Wiedervereinigung war. Hier könnt ihr eure Kindheitserinnerungen zeigen. Werdet Fan und macht mit bei „BRD Kinder“.
Diese Seite soll als Ergänzung zur Seite "DDR Kinder" verstanden werden. Denn jede Kindheit hat ihre Berechtigung und man kann somit hier Geschichtliches dokumentieren und voneinander erfahren. Denn wir Kinder, die nach 1945 geboren wurden, können nichts dafür, dass wir in Ost und West aufgewachsen sind.

Die Community des größeren deutschen Staates hat es bisher gerade mal auf 1500 Freunde gebracht, und die Kommunikativität ist ziemlich schwach. Die Beiträge erscheinen mir auch diffuser und wenig zusammenhängend. Sie bieten auch kein vergleichbares Museum der Alltagsgeschichte.
Das ist natürlich logisch: Durch das Verschwinden der DDR und ihrer Alltags- und Warenwelt ist das Bedürfnis nach Erinnern und Festhalten viel größer, und es geschieht mit viel mehr Begeisterung. Aber als Wessi bin ich auch ein bisschen neidisch.