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Freitag, 18. Januar 2013

Der schönste erste Satz in der deutschen Literatur oder: Requiem für eine Küchenschürze

Mein Beitrag über Tom Wolfes “Schau heimwärts, Engel” vor ein paar Tagen hat mich an den Wettbewerb zum schönsten ersten Satz in der deutschsprachigen Literatur erinnert, der vor sechs Jahren stattgefunden hat. Gewonnen hat damals der Einsender des ersten Satzes von Günter Grass’ ”Der Butt”: “Ilsebill salzte nach.”

Darüber kann ich mich immer noch ärgern. Der Satz sollte doch Werbung fürs Lesen machen und nicht für einen mächtigen und selbstgefälligen Schriftsteller. Und man stelle sich “Ilsebill salzte nach” auf ein T-Shirt gedruckt vor! Damit geht doch keiner auf die Straße! Auf Küchenschürzen kann ich es mir dagegen ganz gut vorstellen. (Komisch: Auf Google ist nichts dergleichen zu finden. Sollte ich ein Loch im Markt entdeckt haben, oder kochen die deutschen Intellektuellen nicht mehr?)
Ihr ahnt vielleicht: Mein Unwille hat natürlich auch mit meinem eigenen, erfolglosen Beitrag zu tun. Das war nämlich der erste Satz einer ganz kleinen Geschichte von Arthur Schnitzler, “Amerika”, die ich schon einmal in Café Deutschland gesetzt habe:

“Das Schiff landet; ich setze meinen Fuß auf den neuen Weltteil…”
Anders als bei Ilsebill versteht hier jeder, worum es geht beziehungsweise jeder kann sich seinen Teil dazu denken. Man musste für den Wettbewerb eine Begründung schreiben. Ich habe sie gestern wiedergefunden und finde sie immer noch gut. Ihr könnt sie im Folgenden lesen:



„Das Schiff landet; ich setze meinen Fuß auf den neuen Weltteil…“
(Arthur Schnitzler, Amerika)

Ein kurzer erster Satz ist dies; eigentlich sind es sogar zwei erste Sätze, getrennt durch ein Semikolon, nicht Punkt, nicht Komma, eine Brücke zwischen den Sätzen, zwischen Bekanntem und Unbekanntem, zwischen Land und Meer, eine kleine Zäsur des Zögerns, der Moment der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft: Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen…

Die drei Punkte am Ende des Satzes kennzeichnen die Offenheit, die Erwartung, die Hoffnung, die quälende Verzögerung, die Gewissheit der sich vollziehenden unabwendbaren Gegenwart. Und die Gegenwartsform ist auch die Erzählzeit: Das Schiff landet; ich setze meinen Fuß…; die erregende  eigene Aktion geschieht, der Schritt muss getan werden – es gibt keine Alternative: ich setze meinen Fuß  auf den neuen Weltteil, eine pathetische Formulierung, die große Utopie der Neuen Welt ist greifbar nahe, die Ungewissheit aber auch dessen, was kommt.
Und dann steht der Ich-Erzähler allein inmitten der hastenden Menge der Auswanderer, die in Manhattan an Land eilen (erst wenige Jahre später wird Ellis Island gebaut werden, um der wachsenden Millionenzahlen der Einwanderer Herr zu werden); sie alle sind fasziniert vom Angekommensein in Amerika. Er allein steht, er steht im Nebel eines grauen Herbstmorgens, hinter dem die große Stadt New York nur zu erahnen ist,  und im nächsten Moment ist er auch wirklich ganz allein am Ufer. Der Boden schwankt unter seinen Füßen. Denn für ihn bedeutet ’Amerika‘ noch etwas ganz  Anderes, etwas Intimes, Schmerzliches aus seiner Vergangenheit, die ihn jetzt einzuholen beginnt. Die Erinnerung an einen verlorenen Augenblick des Glücks und der Leidenschaft erfasst ihn mit aller Macht…

Der Leser erfährt  jetzt in einem Flashback die Geschichte jenes ganz anderen Amerika aus den fernen, schönen Zeiten in der Alten Welt. Dieses andere Amerika ist etwas Überraschendes, Unerwartetes, aber auch etwas völlig Unkompliziertes, Einfaches, eine süße, kleine Utopie des alltäglichen Glücks.
Ich werde es hier nicht verraten, denn das gehört zum Spiel, zum Spiel des schönsten ersten Satzes und zum Spiel der Literatur überhaupt: dass man nichts verrät. Die Spannung, die Erwartung, die durch Sätze aufgebaut, entfaltet und auf den Höhepunkt getrieben wird, diese Spannung muss von jedem einzelnen Leser selbst erlesen und erfahren werden. Nur eines mag deutlich sein: es ist eine traurige Geschichte und das Ende bleibt offen. Auch die große Leere zwischen dem Damals und dem Heute des Geschehens muss der Leser mit seiner Einbildungskraft füllen: das ist Lesen.

P.S. Wer die Erzählung ’Amerika‘ nicht zur Hand hat, kann sie sich schnell über www.spiegel.gutenberg.de vor Augen holen.

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