Das war ja der Grund für meine Nietzsche-Reihe in diesem Blog: das Warten auf die niederländische Übersetzung von Nietzsches Gedichten von Ard Posthuma. Nun ist die schon eine Weile da (Friedrich Nietzsche, Dat alles ben ik, Historische Uitgeverij Groningen 2023, 40€) und ich habe ganz vergessen, die deutsche Fassung meiner niederländischen Rezension für TZUM in mein Blog zu setzen. Hier ist sie:
Als Dichter war der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) den meisten Leserinnen und Lesern bisher vor allem durch ein knappes Dutzend Gedichte in verschiedenen Anthologien bekannt. Das war übrigens bis vor kurzem auch in Deutschland der Fall, wo erst 2019 eine Ausgabe der Sämtlichen Gedichte erschienen ist. Der Übersetzer Ard Posthuma hat nun eine umfassende Auswahl von in den Niederlanden weitgehend unübersetzten Gedichten zusammengestellt: „Dat alles ben ik“ ist eine sorgfältig edierte und erläuterte zweisprachige Ausgabe, die mehr als 120 Gedichte enthält.
Die Gedichte waren für Nietzsche kein Nebenprodukt, sondern stehen in engem Kontakt mit den philosophischen Schriften. Das sollte einen Leser, der mit ihnen nicht so vertraut ist, nicht schockieren. Die meisten der Gedichte sind auch ohne diesen Zusammenhang zu verstehen. Mehr noch, sie führen zu einem besseren Verständnis des Menschen und des Philosophen Nietzsche. Und sie sind manchmal kurz und elegant, wie das haiku-artige Epigramm Für Tänzer:
Glad ijs,
een paradijs, althans
voor meesters in de dans.
Nietzsches Gedichte sind verspielt, vielgestaltig, vielstimmig, witzig und manchmal auch länger. Deshalb hat Ard Posthuma einige Erklärungen mitgeliefert und drei Spezialisten eingeladen: Der Dichter Piet Gerbrandy gibt in seiner ausgezeichneten Einführung einen biographischen und literaturgeschichtlichen Rahmen für "die umwerfende Poesie" Nietzsches. Die niederländische Philosophin Martine Prange schreibt über die Rolle der Gedichte in dem philosophischen Werk Die fröhliche Wissenschaft und Mariëtte Willemsen über die radikal innovativen letzten Gedichte, die Dionysos-Dithyramben. Ard Posthuma selbst erzählt zu Beginn die faszinierende Entstehungsgeschichte dieses Buches.
Zentral ist jedoch die Darstellung der Gedichte mit dem deutschen Text auf der linken Seite und der Übersetzung auf der rechten Seite mit einer eigenen Spalte für knappe Kommentare. Wo es angebracht ist, erhält der Leser direkte Erläuterungen zu Besonderheiten und Schwierigkeiten. Dies ist optisch und drucktechnisch sehr schön gestaltet. Man beginnt sozusagen stereoskopisch zu lesen, und selbst für einen deutschsprachigen Leser wie mich bieten die Übersetzungen immer wieder überraschende Einsichten. Das liegt nicht nur am Reimzwang, sondern auch an kreativen Lösungen des Übersetzers für inhaltlich schwierige Passagen. Ard Posthuma hat bereits in seinen Übersetzungen von Goethes Faust und West-östlichem Divan gezeigt, wie man poetische Texte des 19. Jahrhunderts für unsere Zeit lesbarer machen kann, ohne dass sie an Bedeutung verlieren.
Die chronologisch geordnete Auswahl beginnt mit zwei Gedichten des dreizehnjährigen (!) Nietzsche: Zwei Lerchen und Colombo (1858). Es ist absolut erstaunlich, wie er hier, in so jungen Jahren, zwei metaphorische Hauptmotive seines späteren philosophischen Werkes zu schildern beginnt: höher und höher fliegen zu wollen und immer weiter auf dem unendlichen Meer segeln zu wollen. Beide Motive sollte Nietzsche in den folgenden Jahrzehnten immer wieder artikulieren.
Nietzsche figuriert in seinem Werk einen ganzen Zoo von Metaphern: Vögel aller Art, Esel, Schlangen, Löwen! Eines der schönsten ist Vogel Albatros (1882):
O wonder! Vliegt hij nog?
Hij stijgt omhoog en roert zijn vleugels niet!
Wat tilt en draagt hem toch?
Wat is het dat hem trekt en teugels biedt?
Hij steeg ten top – nu draagt
de hemel zelf zijn steile vlucht:
slechts aan zichzelf gewaagd
zweeft hij in stilte roerloos in de lucht!
Als ster en eeuwigheid
leeft hij in sferen die het leven schuwt,
hem spijt wie hem benijdt –
wie hem ooit zag, is zelf al opgestuwd!
O Vogel Albatros!
Onstuitbaar is mijn drang naar hoger sfeer!
Jouw beeld laat mij niet los:
tot tranens toe heb ik je lief – zozeer!
Schon während seines Studiums (klassische Philologie) beschloss Nietzsche, dass er später eine neue Art von poetischer Philosophie schaffen wollte, eine Mischung aus literarischen Gattungen und einer Philosophie ohne Transzendenz. In gewissem Sinne - und darauf weist auch Piet Gerbrandy in seiner Einführung hin - war dies eine Fortsetzung der romantischen "Universalpoesie" (Schlegel, Novalis) der Generation vor ihm und der Idee des "Gesamtkunstwerks" (Wagner). In seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft (1882/87) wird diese kompositorische Verbindung von Lyrik und Philosophie zum ersten Mal konsequent dargestellt: Es beginnt mit einem Vorspiel von 63 Kurzgedichten und endet mit den Liedern des Prinzen Vogelfrei. Diese Gedichte sind Teil des spielerischen, parodistischen und offensiven Ansatzes des Philosophen. Formal wählt Nietzsche einfache kurze Epigramme in der Tradition Goethes und antiker Schriftsteller und Lieder in der Tradition französischer Troubadoure.
Die Verbindung von literarischer Sprache, Poesie und Philosophie sehen wir auch in „Also sprach Zarathustra“ (1883/85), Nietzsches berühmtestem Werk. Zarathustra ist die Bibel von Nietzsches Philosophie nach dem "Tod Gottes". Die drei hymnischen Langgedichte aus diesem Buch erweiterte Nietzsche im Januar 1889 zu dem Zyklus „Dionysische Dithyramben“. Dies war eine seiner letzten bewussten Handlungen, bevor er wahnsinnig wurde.
Fliegen, Segeln und Gehen sind metaphorische Formen der Bewegung in Nietzsches Erkenntnistheorie. In den 80er Jahren kam das Tanzen hinzu: Der philosophische Flaneur wanderte täglich stundenlang durch die Landschaft und durch die Stadt Turin, wo er das letzte Jahr vor seinem Wahnsinn verbrachte. Seine Gastgeberin erblickte ihn nackt und einsam tanzend in seinem Zimmer. Er dachte und schrieb gleichsam mit dem ganzen Körper, allen Gliedern und allen Sinnen.
Nietzsche ist als Dichter insofern besonders interessant, als wir aus seinen Gedichten etwas über seine Philosophie lernen können" (S. 284). Diesem Satz aus dem Aufsatz von Martine Prange kann ich nicht zustimmen, und auch Piet Gerbrandy zeichnet in seiner Einleitung ein anderes Bild. Zwischen den klassischen und romantischen Dichtern und Nietzsche liegen zwei, drei Generationen mit beispiellosen sozialen, politischen und wissenschaftlichen Veränderungen. Er stand in jeder Hinsicht an der Spitze des neuen Zeitalters. Als Denker war er in seiner Generation, also im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, unerreicht. Als Dichter, vor allem in den Dionysischen Dithyramben, ist er ein radikaler Erneuerer. Und wenn wir die deutschen Dichter (ungefähr) seiner Generation betrachten: den alten Biedermeierdichter Eduard Mörike, den "realistischen" Schweizer Conrad Ferdinand Meyer, den "sozialistischen" Ferdinand von Freiligrath, so kann er es in seinen schönsten Versen durchaus mit ihnen aufnehmen. Letztlich kann man bei Nietzsche den Philosophen und den Dichter nicht trennen und sollte sie nicht für sich betrachten. Mit seiner völlig neuen poetisch-philosophischen Sprache überragt er seine Zeitgenossen. Er selbst sah sich - nach Luther und Goethe - als den dritten großen Erneuerer der deutschen Sprache.
Versteckt in einer Streitschrift gegen Wagner, geschrieben kurz vor dem Ende seines Denkens um Weihnachten 1888, finden wir eines seiner schönsten Gedichte, hier in der Sprache und Klangform von Ard Posthuma:
Op de brug daar stond ik
Onlangs in bruine nacht.
Van ver klonk gezang:
Gouddruppels dreven aan
Over het trillende vlak.
Gondels, lantarens, muziek –
Dronken dreef het weg in de schemering…
Mijn ziel, een snarenspel,
Zong er, onzichtbaar geraakt,
Zijn heimelijk gondellied bij,
Trillend van bonte verrukking.
-Was er een luisteraar? …
Ard Posthuma hat Nietzsche zugehört. Er hat die Schönheit dieser Gedichte gesehen, gehört und erlebt. Seine Übersetzungen und sein Buch sind ein Meilenstein in der niederländischen Nietzsche-Rezeption und - wie ich hoffe - ein überraschendes Vergnügen für Tausende von Lesern.
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