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Samstag, 1. Juni 2013

Die literarische Küche: Gnagi

Beim Blättern in Robert Walsers „Träumen“ bin ich heute bei dem Text „Essen (II)“ hängengeblieben.  Hatte ich Hunger? Eigentlich nicht. Mein Blick war auf ein mir unbekanntes Wort gefallen. Hier sind die Zeilen:

„Was könnte es Wohlschmeckendes zu essen geben?
Ein Gnagi?
Gnagi ist ja gewiss an sich köstlich. Gegen respektables Gnagi nur das Leiseste zu sagen, halte ich für äußerst unklug und daher untunlich. Es gibt Leute, die in eine Art von Begeisterung geraten, sobald von Gnagi die Rede ist. Mir persönlich ist dies freilich unverständlich; ich gestehe freimütig, dass ich um eines Gnagi willen, und wenn es auch das feinste und pikanteste Gnagi der Welt wäre, keine drei Meter, beziehungsweise fünf Schritte weit gehen würde.“
Robert Walser, Träumen, Zürich und Frankfurt am Main 1985, 363f.

Gnagi also. Was zum Kuckuck ist ein Gnagi? Walser ist Schweizer. Mein letzter Besuch in der Schweiz liegt lange zurück. Ich kam nicht drauf und fiel bei Wikipedia aus allen Wolken: Beim Stichwort Gnagi wurde ich zum „Eisbein“ weitergereicht.
Mein Gott: Eisbein! Schweinshaxe! Herrlich! Ich gehöre zu den Begeisterungsfähigen, von denen Walsers Ich-Erzähler, wenn auch etwas abschätzig, spricht. Ich würde tausend Schritte für ein gutes Eisbein tun! Und auch hinterher noch einmal. Obwohl ich aus meiner Umgebung bei solchem Jubel missbilligend angeguckt werde, habe ich zuletzt noch Anfang Mai in Berlin beim bayerisch-zünftigen „Maria & Josef“ ein gegrilltes Eisbein gegessen. Dass Eisbein ein fettes und unverträgliches Essen sei, ist ein unausrottbares Vorurteil. Schon als Student bin ich immer gerne zu „Haxen-Hanne“ am Wittenbergplatz gegangen. (Gibt’s da nicht mehr.)

Nun noch einmal: „Gnagi“. Für die Schweizer gehört das zum Kulturerbe. Welch wunderschönes Wort haben sie für diese Speise. Man möchte sofort den Knochen in die Hand nehmen und ihn abnagen. „Eisbein“ dagegen fand ich immer irritierend. Wieso „Eis“? Auch zu dieser Frage habe ich erst heute Aufschluss erhalten: Aus dem Schienbein des Schweines hat man früher Schlittschuhe gemacht. Das müsste die Niederländer eigentlich ansprechen.
 
Aber für Niederländer ist das essbare Eisbein pure Exotik, denn der hiesige Schlachter teilt sein Schwein anders auf. Zur Deutlichkeit füge ich eine Zeichnung bei, die die Position des preußisch-bayerisch-habsburgischen Eisbeins genau zeigt:


 Der Rest der Walserschen Geschichte handelt überhaupt nicht vom Gnagi. Zwischendurch und nebenbei stellt der Autor auch noch eine Verbindung zwischen der Speisezubereitung und dem Schreiben her:
„Herr Bankdirektor Ratgeb vom Brasilianischen Bankverein gab mir eines Tages folgenden Rat: ‚Wenn Sie je mit Ihrer Prosa Erfolg haben wollen, so müssen Sie sie in kleine Abschnitte zerschneiden‘.“

Ja, recht hatte der Mann, und irgendwie liegt hier auch noch eine Verbindung mit dem Finanzwesen vor.

Eine Geschichte mit dem Titel „Essen (I)“ habe ich in dem Band mit seinen Dutzenden Kurztexten vergeblich gesucht. Also lassen wir’s hierbei. Wenn ich Hunger darauf bekomme, werde ich sie schon finden.

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