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Dienstag, 31. Juli 2012

Karl-Heinz Bohrer

Karl-Heinz Bohrer, Granatsplitter: ein Roman für den Kanon?

Karl-Heinz Bohrers erster Roman “Granatsplitter” ist seit gestern im Handel. Ich hatte bereits anlässlich der Berliner Tagung “Kulturen des Bruchs” darüber geschrieben.

Die ersten Rezensenten loben und loben und loben ihn über den grünen Klee! Ein bedeutender Roman! Und spannend und gut lesbar dazu! Das hatte wohl keiner dem fast achtzigjährigen Theorieherren der Republik zugetraut.
Lest ihn! Ich lese ihn auch, ab morgen und melde mich dazu nochmal.

Die Zauberflöte in Salzburg: etwas krumm, aber voller Entdeckungen


Welch ein schöner Abend mit der Salzburger Zauberflöte auf ARTE! Ich war ja etwas skeptisch, schon als ich das Foto der drei Damen mit den Krankenschwesternhauben gesehen hatte, und war es immer noch, als gestern nach der Ouvertüre Papageno mit seinem Vogellieferwagen auftauchte und Tamino den Flötenkasten rocksängerhaft wie eine Elektrogitarre trug.


Aber alle kleinen Eigenartigkeiten des Regisseurs verflogen vor den vielen Entdeckungen, die hier sowohl musikalisch als auch szenisch von Nikolaus Harnoncourt und Jens-Daniel Herzog gemacht wurden und diese Oper an vielen Stellen neu erlebbar machten.

Es wird wohl daran liegen, dass die Musikkritiker der Zeitungen kritisieren müssen, immer wieder kritisieren und alles kritisieren. Das ist ja auch spannend zu lesen, aber ich hatte heute Morgen den Eindruck, eine ganz andere Aufführung gesehen zu haben.

Es wäre schön, wenn Arte diese Oper  in ihr Arte LiveWeb übernehmen würde, wie den Stuttgarter Don Giovanni von letzter Woche, aber das geht wahrscheinlich noch nicht.

Montag, 30. Juli 2012

Die Zauberflöte auf ARTE


Heute gibt es auf ARTE um 20:15 Mozarts Zauberflöte live von den Salzburger Festspielen. Dirigent: Nikolaus Harnoncourt, Regie: Jens-Daniel Herzog.

Die drei Damen als Krankenschwestern (seufz!)

Samstag, 28. Juli 2012

Gert Ledig
„Die Luft war voller Brüllen.“

 Gert Ledig, Vergeltung, Frankfurt am Main 1999, 40
Gert Ledig hat die Bombardierungen von München erlebt. In seinem Roman hat die Stadt keinen Namen.

Alternativen zum Literaturkanon der ZEIT (3), 1950-1959

Die ZEIT nennt

-        Heimito von Doderer, Dämonen (1956)

-        Günter Grass, Die Blechtrommel (1959)

Café Deutschland empfiehlt



Das „Schweigen“ der fünfziger Jahre galt nicht nur dem Holocaust, sondern auch dem Bombenkrieg und den deutschen Opfern. Gert Ledig hatte mit Vergeltung einen Roman geschrieben, der den Schrecken und das Leiden einer bombardierten Stadt so hart, realistisch und unerträglich beschreibt, dass sein Roman sowohl vom damaligen Publikum als auch von der Kritik abgelehnt wurde. Der Autor und seine Bücher fielen in völlige Vergessenheit, sein Name kam jahrzehntelang nicht mehr in den Literaturlexika vor, bis er 1999 im Zuge der von W.G. Sebald initiierten Luftkriegs-Literaturdebatte wiederentdeckt und herausgegeben wurde. Seitdem gilt er als einer der besten bzw. realistischsten Kriegsromane der deutschen Literatur.

Mit Homo faber nenne ich einen der erfolgreichsten deutschsprachigen Nachkriegsromane. Allein die deutsche Auflage beträgt inzwischen über 5 Millionen Exemplare. Dazu mag beigetragen haben, dass der kleine Roman sich ausgezeichnet als Schullektüre eignet. Doch diese Umstände sind kein Kriterium für unsere Liste. Dieser Roman ist nicht leichter, aber „leichtfüßiger“ als Frischs großen Romane Gantenbein und Stiller, die mir beim Nachblättern verstaubter erscheinen als der jung gebliebene Homo faber mit seiner Konfrontation eines technisch-utilitaristischen Mannes mit der Natur, dem Zufall und seinem sich tragisch verstrickenden Schicksal.

Freitag, 27. Juli 2012

Arno Schmidt in den fünfziger Jahren
„Gott spaziert auf Bombenteppichen.”

Ein Satz aus: Arno Schmidt, Leviathan, 1949 (geschrieben 1946). Der Satz steht im Textzusammenhang mit der Bombardierung von Dresden im Februar 1945.

Alternativen zum Literaturkanon der ZEIT (2), 1945-1950

Die ZEIT nennt

-        Thomas Mann, Dr. Faustus (1947)

-        Ernst Jünger, Strahlungen (1949)

Die Erläuterungen der ZEIT stehen in der Ausgabe Nr. 29 vom 12. Juli 2012.

Café Deutschland empfiehlt

-        Hans Fallada, Jeder stirbt für sich allein (1947/2011)

-        Arno Schmidt, Leviathan oder Die beste der Welten (1949)

Hans Falladas umfangreicher Roman ist 1947 in der Sowjetzone im Aufbau-Verlag erschienen und zwar in einer gekürzten (zensierten) Fassung. Erst vor kurzem ist die komplette Fassung wiedergefunden und mit allerlei medialem Tamtam herausgegeben worden. Das hat dann auch sehr schnell zu einer „opgefristen“ niederländischen Übersetzung geführt, die unter dem Titel Alleen in Berlijn 2010 erschienen ist. Der Roman liest sich flott und spannend (anders als Dr. Faustus) und gibt ein starkes Bild der nationalsozialistischen deutschen Gesellschaft und des Widerstands in Berlin kurz nach Kriegsbeginn.

Arno Schmidts kurze Erzählung (30 Seiten) wurde 1946 geschrieben und zusammen mit zwei anderen kurzen Texten in dem Buch Leviathan 1949 herausgegeben. Diese dreißig Seiten gehören für mich zu den intensivsten Texten die über den Krieg und den Nationalsozialismus in deutscher Sprache geschrieben wurden. Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe aus Soldaten, Zivilisten und HJ-Jungen versucht im Februar 1945 mit einem Zug aus dem umkämpften Berlin zu flüchten. Schmidts Hauptwerke sind wegen ihrer sprachlichen Besonderheiten nicht mehr ins Niederländische übersetzt worden, was sehr schade ist, denn es befinden sich einige der wichtigsten Romane der fünfziger und sechziger Jahre darunter. Die ersten, kürzeren Werke Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger sind zugänglicher und wurden damals auch übersetzt, aber Arno Schmidt ist dem niederländischen Publikum später leider völlig fremd und unbekannt geblieben.

Mittwoch, 25. Juli 2012

Café Deutschland: Alternativen zum Literaturkanon der ZEIT (1)

Die Wochenzeitung DIE ZEIT füllt das Sommerloch mit einer siebenwöchigen Serie zu einem Nachkriegskanon der europäischen Literatur. Jeweils zwei von etwa zehn Titeln pro Woche sind dabei der deutschsprachigen Literatur vorbehalten. Alle Bücher erhalten eine kurze Besprechung. Morgen kommt in der neuen Ausgabe der ZEIT bereits die dritte Folge mit den Romanen der sechziger Jahre.

Mir machen solche Listen Spaß, vor allem wenn ich merke, dass neben den zu erwartenden auch überraschende beziehungsweise unbekanntere Titel genannt werden. So mag es für manche – für mich allerdings nicht - ein Zumutung sein, dass in der ZEIT für die vierziger Jahre Ernst Jüngers Strahlungen genannt wurden, und so habe ich mich gefreut, für die fünfziger Jahre den von mir sträflich vernachlässigten Heimito von Doderer mit seinem gewaltigen Roman Dämonen zu sehen.
Ich habe dadurch Lust bekommen, mir Alternativen auszudenken und kurz zu erläutern, nur für die deutschen Titel, sonst wird’s mir zu viel. Nicht als Kritik, sondern als Ergänzung, und vielleicht haben einige der Leser von Café Deutschland auch eigene Vorschläge.

Also: Nicht ein Sommerloch, sondern ganze Berge schönster Literatur warten auf uns. Wir fangen morgen an mit den Jahren 1945-1950:

Die ZEIT nennt
-        Thomas Mann, Dr. Faustus (1947)

-        Ernst Jünger, Strahlungen (1949)

Café Deutschland empfiehlt
-        Hans Fallada, Jeder stirbt für sich allein (1947/2011)

-        Arno Schmidt, Leviathan oder Die beste der Welten (1949)
Die Erläuterungen der ZEIT stehen in der Ausgabe Nr. 29 vom 12. Juli 2012. Die Erläuterungen von Café Deutschland folgen morgen an dieser Stelle.

Sonntag, 22. Juli 2012

Rezension Barbara Reeh, Unter Professorendamen – Germanisten in Groningen

Auf der Website von Tzum – Literaire weblog ist jetzt meine Rezension des Campusromans von Barbara Reeh zu lesen: Unter Professorendamen. Ein Universitätsroman über Gastarbeiter, Karrieren und Intrigen, Norderstedt: Books on Demand GmbH 2012, Euro 12.90

Don Giovanni in Stuttgart im Livestream


Mozarts Oper Don Giovanni wird im Stuttgarter Opernhaus  am Mittwoch, dem 25. Juli in der Inszenierung des Bremer Theaters gezeigt. Gleichzeitig findet ein multimediales Spektakel zur Propagierung des Genres statt. So wird die Oper live ab 20:15 auf dem deutschen Kultursender 3Sat und auch als Livestream auf dem Internet gesendet.

Kinetic Rain von Art+Com: schöne Kunst und lukratives Gewerbe

Die deutsche Gruppe Art+Com macht wunderschöne mediale Installationen. Zum Beispiel “Kinetic Rain” im Flughafen von Singapur. Der YouTube-Film erläutert die Technik dieser kinetischen Skulptur und lässt sie in Aktion sehen:



Samstag, 21. Juli 2012

Der Boros Bunker: Bomben, Sex und Leuchtskulpturen


In Berlin-Mitte steht noch ein großer Bunker aus der Kriegszeit, der “Reichsbahnbunker”, in dem mehr als 2500 Menschen Schutz finden konnten. Mit seinen Wänden und Decken aus 2-3 Meter dickem Stahlbeton hat er den Bombardierungen standgehalten und war nach dem Krieg auch durch Sprengungen nicht zu beseitigen. In der DDR-Zeit hat man ihn als Lagerraum benutzt. In den Neunzigern, das wusste ich, haben im “Bunker” legendäre Hardcore Techno- und –Sexpartys stattgefunden: in siebzig dunklen Räumen auf fünf Etagen. Aber das war wohl nicht meine Welt.


Der Boros Bunker

Berlin ist für mich so faszinierend, weil hier auch siebzig Jahre nach Kriegsende und zwanzig Jahre nach der Wende noch unglaublich viele, teils riesige Gebäude stehen, an denen die Geschichte der Stadt und Deutschlands sichtbar bleibt.

Als ich vor drei Wochen an dem grauen Koloss vorbeiging, fiel mir auf, dass auf dem Dach ein großes gläsernes Penthouse entstanden war. Trotz meiner vielen Berlinbesuche war ich nicht up to date: ein reicher Westdeutscher hatte 2007 den Bunker gekauft, die Räume für seine Sammlung von Gegenwartskunst herrichten lassen und sich selbst ein fantastisches Penthouse gebaut. Schon der Einbau des Fahrstuhls ist een zware klus gewesen, wobei die neuesten Typen von Diamantbohrern verschlissen wurden. Christian Boros hat sich hier seine Welt eingerichtet:



Das hat natürlich in vielen deutschen Zeitungen gestanden, aber mir ist es entgangen und ich war erst mal baff. Und man kann auch rein: ab September gibt es regelmäßig Führungen. Das ist doch was für den nächsten Berlinbesuch!

Donnerstag, 19. Juli 2012

“Unter Professorendamen” – ein Campusroman über die Germanistik in Groningen

Mitten in die Saure-Gurken-Zeit platzte heute eine Email von Coen P. mit der Frage, ob ich nicht den Roman “Unter Professorendamen” von Barbara Reeh rezensieren wolle. Das Buch sei ganz offenbar eine Art Campus- und Schlüsselroman über die Groninger Germanistik.

Wie, was, wo? Allerlei Alarmklingeln ertönten in meinem literaturgesättigten Ferienkopf. Von solch einem Roman war mir nichts bekannt und meinen Kollegen offenbar auch nicht. Barbara Reeh? Das kann nur ein Pseudonym sein! Sofort erschienen in meinen misstrauischen Assoziationsneuronen die möglichen Verdächtigen: eine Frau musste es sein, und davon hatten wir hier in den letzten Jahren viele. W.W. vielleicht? Nein, die hatte gerade in Schleswig-Holstein viel zu viel zu tun gehabt, und wir haben sie auch nie wirklich interessiert. M.V. dann? Nun, sie hat gerade einen Krimi geschrieben, und wir werden bald von ihr hören. Wenn sie es war, könnte es interessant werden, aber zwei so verschiedene Bücher im selben Augenblick? Außerdem käme noch A.B. in Frage, aber das kann ich mir dann doch nicht vorstellen. Oder eine ganz Leise aus dem Hintergrund, A.H., zum Beispiel? Oder eine der jungen Doktorandinnen?

Warum meine Aufregung? Nun, in den letzten zehn Jahren ist es in der Groninger Germanistik hoch hergegangen, mit einem traurigen Ende in diesem Jahr. Stoff genug für einen saftigen, ironisch-kritischen Campusroman (und ich denke dabei immer an die Bücher von David Lodge, die ich mit größtem Vergnügen gelesen habe).
Alles Unfug! Ein bisschen gegoogelt, und Barbara Reeh schien es wirklich zu geben, denn sie hat auch ein Buch mit Erzählungen über Borkum geschrieben. Jahrgang 1944. Sie lebt in Berlin und Borkum. Berlin und Borkum? Da hätte was bei mir klingeln können, aber die Neuronen waren offenbar erschöpft.
Coen klärte mich in einer weiteren Mail auf: es handele sich um Barbara F. Die habe ich persönlich nie kennengelernt. Ihr Mann hat in den neunziger Jahren die Groninger Duitslandstudies auf den Weg gebracht. Sie selbst überblickt aus dem Damenhintergrund die Zeit von 1987 bis 2002, und das ist offenbar die Grundlage für diesen Roman.
Ich halte das Buch nun in meinen Händen und bin ein bisschen skeptisch: Der Titel bezieht sich auf Willem Frederik Hermans Groningen-Roman “Unter Professoren”, wird aber diesem Maßstab schon durch den unbeholfenen Untertitel nicht gerecht. Ich werde es lesen und meine Befindungen an die Redaktion von “Tzum” miteilen. Hier in Café Deutschland wird es einen Link dazu geben.

Dienstag, 17. Juli 2012

Rathenaus Häuser und Hallen

Die alten Produktionshallen der AEG in Berlin-Oberschöneweide sind in den letzten Jahren zum Teil restauriert und vermietet worden. Eine Dachgesellschaft bemüht sich um die Nutzung der Rathenau-Hallen, wie sie jetzt heißen. Wer demnächst mal eine Hochzeit mit tausend Gästen feiern will, findet hier etwas Passendes.

Eine der Berliner Fachhochschulen hat sich hier ihren “Campus Wilhelminenhof” eingerichtet: die 1994 gegründete “Hochschule für Technik und Wirtschaft”. Dadurch ist das Gelände heute sehr belebt.
AEG-Gelände - im Vordergrund die Villa Rathenaus

Das Gesamtareal ist riesengroß; Fotos geben nur ein schwaches Abbild der industriellen Macht, die diese Gebäude trotz Kriegsverlusten und Abrissen noch immer ausstrahlen. Rathenau hat sich 1902 seine Wohnvilla direkt am Rande des Geländes errichten lassen. Diese ist allerdings schon bald von seiner Villa im Grunewald und dem Landhaus in Freienwalde abgelöst worden.

Rathenaus neoklassizistische Villa in der Königsallee

Was ich in meinem letzten Beitrag eine Mischung aus Eleganz und Bescheidenheit genannt habe, ist ein dann doch ziemlich aufwendiger Versuch, die schlichte Schönheit des preußischen Klassizismus um 1800 wieder zu beleben. Die schmale kleine Haustür in der Mitte des Prachtbaus von 1910 ist das einzig erkennbar Bescheidene des Konzepts. Das setzte sich zwar stark gegen den herrschenden Geist des Wilhelminismus ab (siehe den entsetzlichen Berliner Dom), aber echt modern war Rathenau mit diesem Retro-Bau in seiner Zeit nicht. Das übrigens im Gegensatz zu den modernen Fabrikhallen wie der Turbinenfabrik in Moabit.

AEG-Turbinenhalle in Berlin-Moabit, Baujahr 1909
Walther Rathenau

Rathenau in Freienwalde: Versuch einer preußisch-jüdischen Synthese

Auf der Fahrt nach Berlin im letzten Monat sahen wir im “Tagesspiegel” einen Artikel über Schloss Freienwalde. Als zu- und dann wieder weggezogener Westberliner hatte ich davon noch nie gehört. Aha, und es war das Landhaus von Walther Rathenau gewesen, der am 24. Juni vor achtzig Jahren ermordet wurde.


So hatten wir unser erstes Ausflugsziel und fuhren am 24. Juni 2012 nach Bad Freienwalde, um das Schloss zu sehen. Es ist eher ein Schlößchen und wurde  ursprünglich 1798/99 als Sommersitz der verwitweten preußischen Königin Friederike Luise erbaut. Später verkam das Gebäude, bis es 1909 von Rathenau erworben wurde, der dort sein Ideal  einer preußisch-jüdisch-bürgerlichen Synthese verwirklichen wollte, die Eleganz und Bescheidenheit zu vereinen suchte.
Rathenau, dessen Vater die AEG gegründet hatte, ist eine der interessantesten (und reichsten) deutschen Persönlichkeiten in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Er war in hohen Funktionen für das Deutsche Reich tätig, z. B. leitete er zu Anfang des Weltkrieges die Kriegsrohstoffabteilung. Zum Zeitpunkt seiner Ermordung war er Außenminister der jungen deutschen Republik. Außerdem hat er sich auch schriftstellerisch betätigt. Alles in allem sind das zu viele Aspekte für einen kleinen Blogbeitrag.

In der oberen Etage von Schloss Freienwalde ist eine Ausstellung zum Leben und Sterben von Rathenau eingerichtet. Das restaurierte Schloss und die Ausstellung sind einen Ausflug wert und gut geeignet, die mauerverhängte Perspektive alter Westberliner zu erweitern.

Samstag, 14. Juli 2012

Bad Freienwalde und Hans Keilson

Es war reiner Zufall: Wir waren bei unserem letzten Berlinbesuch nach Bad Freienwalde gefahren, um dort die als Museum eingerichtete Villa von Walter Rathenau zu sehen, dessen Ermordung durch junge Rechtsradikale gerade 80 Jahre zurücklag.

Ich ging um eine Ecke und stand direkt vor dieser Gedenktafel:

Der vor den Nazis in die Niederlande geflüchtete Hans Keilson war Psychoanalytiker und Schriftsteller und ist letztes Jahr im Alter von 101 Jahren gestorben. Freienwalde, das ca. 50 km von Berlin an der Oder liegt,  war für mich bisher ein völlig unbekannter Ort.
Keilson hat am Anfang und am Ende seiner literarischen Laufbahn ein Erinnerungsbuch geschrieben: Das Leben geht weiter (1933) und Da steht mein Haus (2011). In den letzten Jahren ist das internationale Interesse an seinem Werk stetig gestiegen.

Dies ist sein Geburtshaus in Freienwalde, an dem sich die Tafel befindet:


Freitag, 13. Juli 2012

Hat Kubrick sein Donauwalzer-Raumschiff bei Fischerkoesen abgeguckt?

Bei der Beschäftigung mit Hans Fischerkoesen (1896-1973) bin ich auf den Werbespot “Das Blaue Wunder” gestoßen, den er 1935 für die Zigarettenmarke Muratti produziert hat. Darin tanzt ein Zigarettenmännchen zum Donauwalzer von Johann Strauß.

Dabei kam mir sofort die Assoziation zur berühmten Raumschiffszene aus Stanley Kubricks “2001 – A Space Odyssey”. Zufall? Kannte Kubrick den Spot? (Fischerkoesen war in Amerika bekannter als im Nachkriegsdeutschland; er hat viele Reklamespots gemacht, und Muratti war eine amerikanische Marke.) Oder liegt es einfach auf der Hand, tanzende Gegenstände mit dieser Musik zu untermalen?
Hier sind die beiden Szenen:



Donnerstag, 12. Juli 2012

Deutsche Trickfilme (3): Hans Fischerkoesen, Die verwitterte Melodie

Ein “deutscher Disney”?. Ein Zeichentrickfilm, der während der deutschen Besatzungszeit in den Niederlanden in Den Haag gezeichnet und produziert wurde? “Fischerkoesen Film Productie”, Den Haag, Lange Voorhout 50. Was kann das sein? Eine Propagandafilmfirma der Nazis doch wohl nur?

Hitler war ja begeistert von Zeichentrickfilmen, und er hat nach dem Verbot der amerikanischen Filme eine eigenständige deutsche Trickfilmproduktion fördern lassen. Einer der deutschen Regisseure, die dafür in Frage kamen, war Hans Fischerkoesen, von dem ich noch nie etwas gehört und gesehen hatte.
Bei meinem mehr zufälligen Surfen bin ich auf den kleinen Film “Die verwitterte Melodie” (1943) gestoßen. Hans Fischerkoesen hat ihn, zusammen mit niederländischen Mitarbeitern, 1942 in sechs Monaten gezeichnet. Es ist eine Art Biene-Maja-Film, allerdings technisch und künstlerisch auf einem höheren Niveau, wirklich gleichwertig mit Disney, und  er hat es in sich. Die Musik, die die Biene hier mit ihrem Stachel aus einem alten Grammophon hervorzaubert, das in einer bunten Wiese verschollen herumliegt, ist gerade der Jazz und Soul, der unter Hitler verboten war. Wie kann das sein?

Ich habe vorläufig keine Ahnung, unter welchen Umständen Hans Fischerkoesen nach Den Haag gekommen ist und dort mehrere auf eine softe Manier antinazistische Filme machen konnte. Darum beschränke ich mich heute darauf, diesen ersten Fund zu zeigen:






Dienstag, 10. Juli 2012

Das Ornament der Masse: Tiller Girls und Wehrmacht Boys

Es gibt einen schönen Essay mit dem Titel ‘Das Ornament der Masse’, den Siegfried Kracauer 1927 geschrieben hat. Kracauer schreibt über den neuen Umgang mit dem menschlichen Körper in den Revuetheatern, in den Stadien, in den Kinos seiner Zeit:

‚Mit den Tillergirls hat es begonnen. Diese Produkte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken sind keine einzelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind. Während sie sich in den Revuen zu Figuren verdichten, ereignen sich auf australischem und indischen Boden, von Amerika zu schweigen, in immer demselben dichtgefüllten Stadion Darbietungen von gleicher geometrischer Genauigkeit. Das kleinste Örtchen, in das sie noch gar nicht gedrungen sind, wird durch die Filmwochenschau über sie unterrichtet. Ein Blick auf die Leinwand belehrt, dass die Ornamente aus Tausenden von Körpern bestehen, Körpern in Badehosen ohne Geschlecht. Der Regelmäßigkeit ihrer Muster jubelt die durch die Tribünen gegliederte Menge zu.‘
Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main 1977, 50-63

Die Europäer der zwanziger Jahre beschäftigten sich obsessiv mit dem Thema der Massen. Die intellektuelle Elite hatte Angst vor der Masse, Angst vor der erwarteten Überbevölkerung. Der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution hatten vorgeführt, was aggressive Massen bewirken können. Die Kulturbürger suchten tieferschrocken nach Erklärungen und Rezepten zur Kontrolle der kulturlosen Massen.
Kracauer stellt das Phänomen des ornamentalen Kollektivkörpers in einen Zusammenhang mit dem kapitalistischen Produktionsprozess. „Den Beinen der Tillergirls entsprechen die Hände in der Fabrik.“ Vielleicht konnte es ihm 1927 noch nicht auffallen, dass alle drei großen Ideologien der zwanziger und dreißiger Jahre in ihren ästhetischen Produkten die Masse als Ornament vorführten: nicht nur der amerikanische Kapitalismus, sondern auch der sowjetische Kommunismus und der deutsche Nationalsozialismus. Und da geht es um Macht: Den Händen in der Fabrik entsprechen die Hände am Gewehr.

Alle drei politisch-ideologischen Systeme, die in diesen Jahrzehnten miteinander konkurrierten und schließlich durch den deutschen Faschismus in die Weltkatastrophe gejagt wurden, gebrauchten Körperbilder und ornamentale Strukturen in Massenszenen, die sich verblüffend ähneln. Die romantisierte Lebenswelt der amerikanischen Kavalleriesoldaten in John Fords Western der dreißiger bis fünfziger Jahre präsentiert sich uns in vergleichbaren Bilder- und Männerwelten wie in Leni Riefenstahls Wehrmachtsfilm von 1935 (Tag der Freiheit – Unsere Wehrmacht).


Ich habe diese Ähnlichkeit nirgendwo in der Literatur thematisiert gesehen. Um sie feststellen zu können, muss man beide Bilderwelten gesehen haben und die Ähnlichkeit zunächst einmal konstatieren. Und wenn man sie nicht akzeptieren will, muss man sich klarmachen, worin Fords  Nähe zu Riefenstahl besteht und was bei Riefenstahl so entsetzlich über Ford hinausgeht. Die Augen schließen hilft nicht.

Samstag, 7. Juli 2012

Merkel macht muntre Männer müde

Die amerikanische „TIME“ dieser Woche hat Angela Merkel auf dem Titelblatt. Peter Gumbel schreibt den Leitartikel „Why everybody loves to hate Angela Merkel and why everybody is wrong”:


Den Artikel habe ich nicht gelesen und er ist auch im Internet nicht frei zugänglich. Auffallend ist seine positive Haltung zu Merkel. Das erregte sofort die Aufmerksamkeit des deutschen Blätterwaldes, zum Beispiel der "Welt".
Auch das Juliheft des “Merkur” beschäftigt sich mit Angela Merkel. Wie immer sind zwei Artikel online frei zugänglich. Einer davon ist Thomas E. Schmidts „Die Physikerin.Über die Langeweile in der deutschen Politik“. Schmidt beginnt ganz munter und interessant, erliegt aber im Laufe seines Artikels den sedierenden Tendenzen seines Themas: Er wird müde, und auch den Leser ergreift eine gewisse Langeweile. Aber das liegt vielleicht nicht an ihm, sondern an Angela Merkel. Gähn!

Fünf gute deutsche Krimis für den Urlaub


Mechtild Borrmann, Wer das Schweigen bricht (2011)

Horst Eckert, Schwarzer Schwan (2011)

Ulrich Ritzel, Der Schatten des Schwans (2002)
Dagmar Scharsich, Der grüne Chinese (2008)
Wolfgang Schorlau, Das München-Komplott (2009)

Donnerstag, 5. Juli 2012

Lesen. Zittern oder: Warum ich einmal die deutsche Literatur links liegen ließ

Letztens fragte D.K. ihre Facebook-Freunde nach ihrem Lieblingsroman von John Updike. Daraufhin wurde von mehreren Lesern und auch von D.K. selbst „Couples“ genannt, der auch bei mir ganz oben steht. Ich verehre Updike, und immer wenn mir die deutschen Romane mal wieder zu abstrakt, zu kopflastig oder schlichtweg zu langweilig werden, greife ich gern, auch zum zweiten oder dritten Mal, nach einem Updike-Roman. So auch in der folgenden, mit etwas ganz anderem beginnenden Geschichte aus dem Jahr 2010, die aus meinem alten und leider nicht mehr zugänglichen Blog stammt:

Gerard ist unser Retter. Gerard war vor zwanzig Jahren ein bekannter niederländischer Schwimmer und sein Körper strahlt noch die athletische Kraft von damals aus. Er hat ein etwas kantiges Gesicht und lacht gerne. Irgendwie wirkt er ein bisschen wie aus einer Phantasiewelt. Er könnte der Darsteller einer Comicfigur sein, eines freundlichen Superhelden. In der belgischen Comicserie Suske und Wiske, die in den Niederlanden einen Riesenerfolg gehabt hat, gibt es die Figur des obelixhaften Jerom, liebevoll auch Jerommeke genannt. Jerom ist zeitweise auch eine eigene Comicserie gewesen, die in Deutschland unter dem Namen Wastl gelaufen ist. Gerard ist wie Jerom.

Gerard, unser Handwerker, ist ein Künstler im Umgang mit Holz und allen anderen Dingen, aus denen ein Haus gemacht ist. Und bei altem, verrottendem Holz ist er ein Arzt und Chirurg, der die kranken Stellen fachkundig erkennt, heilt und restauriert.
Während Gerard-Jerom auf diese Weise unseren alten Balkon behandelte, wurden wir an Himmelfahrt mit einem akuten Leck im Heizungssystem konfrontiert. Da der Meister im Hause war, konnte Schlimmeres vermieden werden. Das Leck befand sich an einer sehr unzugänglichen Stelle. Gerard sägte an zwei Stellen die Wände auf, dadurch eröffneten sich Einblicke in die geheimnisvollen Höllenschlünde unseres alten Hauses mit fauchenden und spritzenden Leitungen, die sich in unergründliche Dunkelheiten zu entziehen versuchten und uns dabei mit stetem Wasserfluss in Panik hielten. Gerard zähmte sie zunächst durch Entzug des Nachschubs. Die Kur traf allerdings auch uns: Eine Nacht und einen Tag lang verharrten wir in der Kälte, die trotz des Maienmonds das Haus umfing und in uns eindrang. Zitternd zogen wir uns unter Decken zurück und griffen zwecks Ablenkung und erhofftem Trost zu Büchern, um lesend dem Ungemach zumindest geistig zu entkommen.

Für mich lag der Roman Der Mann schläft von Sibylle Berg bereit. Der Titel drängte sich mir geradezu auf in einer Situation, in der außer Liegen, Warten, Lesen und Schlafen nicht viel möglich war. Dieses merkwürdige Buch jedoch begann sich nach wenigen Seiten in mich einzufressen, in denen die weibliche Hauptfigur am Vergehen der Zeit, an unendlichen, nicht vorübergehen wollenden Urlaubstagen und an ihrer Beziehungslosigkeit und –oberflächlichkeit zu leiden und immer nur zu leiden hatte. Die weibliche Erfahrung des Alterns wird in gnadenloser sibyllinischer Negativität an den Leser weitergegeben; kein Hauch menschlicher Wärme erleichterte mein lesendes Dasein, Ironie gab es zwar, doch auch sie war von eisiger Kälte. Nach dreißig Seiten konnte ich nicht mehr und legte das Buch zitternd zur Seite.
Ich ging zum Bücherschrank, ließ die deutsche Literatur links liegen und wandte mich den Amerikanern zu. In den letzten Monaten hatte ich zwei der Rabbit-Romane von John Updike wiedergelesen und einige seiner neueren angeschafft, aber mein Blick blieb am Anfang der Reihe hängen: dort stand ein kleines unscheinbares Buch, auf schlechtem Papier gedruckt, vom ehrenwerten DDR-Verlag Volk und Welt: Der Zentaur, (The Centaur) Updikes zweiter Roman aus dem Jahr 1963; ich hatte ihn nie gelesen.

Und so tauchte ich ein in die Welt des Lehrers Cauldwell; schon bald war deutlich, dass es um die letzten drei Tage im Leben der Hauptfigur gehen würde, um Sterben und Tod also, aber wie anders, wie menschlich, wie überaus humorvoll ging es hier zu. Und wie überaus merkwürdig: die Figur Cauldwell changiert zwischen dem amerikanischen Highschool-Lehrer und dem Zentauren Cheiron aus der griechischen Mythologie. Die Erzählung beginnt höchst befremdlich damit, dass dem Lehrer beim Unterricht ein Stahlpfeil in die Ferse geschossen wird, woraufhin er blind vor Schmerz aus dem Klassenzimmer flieht. Der antike Cheiron erlitt die gleiche Verletzung durch einen vergifteten Pfeil und musste seine Heilung mit dem Verlust des ewigen Lebens erkaufen.



Cauldwell ist Cheiron. Solch einen Plot hätte ich für unrealisierbar erklärt, aber der Zaubersprache Updikes gelingen die Übergänge und Verbindungen zwischen amerikanischem Kleinstadtleben und griechischer Mythenwelt auf unerklärliche und faszinierende Weise. Sie ist durchzogen von einer witzigen Menschenfreundlichkeit, einer väterlichen Liebe und wörtergebärenden Vielfalt, die mich in ihren Bann gezogen haben: welch ein Roman, welch ein Schriftsteller!

Cheiron war ein Weiser, Lehrer vieler griechischer Helden. Cauldwell hasst seinen Beruf, obwohl ihn die Schüler lieben; er widmet sich ganz seinem Sohn Peter, dessen Figur autobiographische Züge von John Updike hat. Das Buch erzählt aus beiden Perspektiven; es spielt im Winter, „Frostfarne“ wachsen an den Fensterrändern, Cauldwells Auto versagt nach dem Termin für die todesverkündenden Röntgenaufnahmen, und Vater und Sohn stehen frierend in der pennsylvanischen Nacht, doch der Vater regelt ein Hotelzimmer und eilt wieder davon, um die Dinge zu regeln. Der Sohn steht nackt und allein am Fenster, schaut auf die wirren Lichtreklamen, friert und kriecht zwischen die klammen Laken. Ich zittre mit, vor Kälte – und vor Ehrfurcht.

Mittwoch, 4. Juli 2012

Ästhetik der DDR: Der MITROPA-Speisewagen

Zu meinen schönsten Zugerinnerungen aus den sechziger und siebziger Jahren gehört der MITROPA-Speisewagen. Auf den endlos langen Fahrten von und nach West-Berlin – damals dauerte eine Fahrt von Leer/Ostfriesland nach West-Berlin ca. zwölf Stunden - war er der geeignete Ort, die Ödnis der Kontrollaufenthalte und die Kälte der Abteile zu überwinden.


Die Speisewagengäste waren immer für eine Überraschung gut: Das lag an der mitteleuropäischen Mischung, die dich an einen Tisch mit Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsformen brachte, die ebenso entnervt waren wie du selbst und gerade deshalb zu ungewöhnlichen Gesprächen bereit.

Was es dort zu essen gab, war im allgemeinen bescheiden aber gut. Aber sie hatten das gute Radeberger Pilsener, das noch heute im vereinigten Deutschland als feine Marke gilt. Und es gab das MITROPA-Kaffekännchen, zu dem ich eine merkwürdige Ding-Liebesbeziehung aufgebaut habe. Ich hab‘ auch eines geklaut. Es steht immer noch bei uns im Geschirrschrank.


Heute gibt es Museen, die sich um solche Dinge kümmern. Und da sie unterfinanziert sind, kann man Pate eines Gegenstands werden und damit seine liebevolle Pflege garantieren. Schaut euch um im Museum der Dinge in Berlin.

Schönheit des Kollektiven – Produktdesign in der DDR

Helga Niemann, Quietschtiere, DDR 1979

Vom 3. Juni – 31. August 2012 findet in der Kommunalen Galerie Berlin die Ausstellung „Schönheit des Kollektiven“ zum Produktdesign in der DDR statt.


Dialog über Österreich

Café Deutschland ist – wie der Name schon sagt – doch sehr auf die deutsche kulturelle Szene ausgerichtet, und Österreich und die Schweiz werden immer mal wieder unter „deutscher“ Kultur subsummiert. Heute will ich zeigen, dass ich mir darüber Gedanken mache und bringe deshalb den folgenden Dialog über Österreich von Gerhard Rühm, der vom österreichischen Animationsfilmer Hubert Sielecki zu einem eindrucksvollen YouTube-Film verarbeitet worden ist: