Rainer Maria Rilke
Sonette an Orpheus XXII
Wir sind die Treibenden.
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.
Alles das Eilende
wird schon vorüber sein;
denn das Verweilende
erst weiht uns ein.
Knaben, o werft den Mut
nicht in die Schnelligkeit,
nicht in den Flugversuch.
Alles ist ausgeruht:
Dunkel und Helligkeit,
Blume und Buch.
Bouwers, dat blijven we.
Maar de tred van de tijd
Neemt het als kleinere
In wat er blijft.
Al het voorbijgaande
Is maar een schijn;
Pas het verblijvende
Houdt ons aan de lijn.
Jaag niet uw jonge moed
Naar hoger en sneller:
Vlucht zonder zicht!
Alles is een tegoed
Van donker naar heller,
Van bloem tot schrift.
Lieber Ard,
In meinem Briefkasten fand ich die Übersetzung von Rilkes Sonett Nr. XXII aus den „Sonetten an Orpheus“, die du für mich geschrieben hast. Sie hat mir Trost, Zuspruch und Freude gegeben. Ich hatte das letzte Terzett aus diesem Gedicht für den Abschied von Gerlinde gebraucht. Jemand, der diesen Hintergrund deiner Übersetzung nicht kennt, wird von einigen Formulierungen darin irritiert sein: „Bouwers“, was soll das? Bei Rilke ist doch die Rede von „Treibenden“, und so gibt es mehr.
Dabei hast du gar nicht so sehr in Rilkes Text eingegriffen, wie es scheinen mag. Du hast eigentlich nur die Reihenfolge in der Passiv-Aktiv-Struktur umgedreht und beginnst sehr nachdrücklich mit „Bouwers, dat blijven we“. Und gleich drei Mal in den ersten beiden Strophen erscheint das Bleibende. Die zweite Strophe beginnt mit „het voorbijgaande“ für „das Eilende“, und schon ist Rilke wieder im Lot.
Und noch ein Eingriff, etwas stärker, aber es musste sein: Rilke legte in seinem Werk Wert auf das Eingeweihtsein. Diesen mystischen Touch konntest und wolltest du mir nicht antun. Es ist das Bleibende, das uns bei der Sache hält: „pas het verblijvende/houdt ons aan de lijn“. Nüchtern, pragmatisch, nix Einweihung. Nebenbei weckt „Al het voorbijgaande/Is maar een schijn“ anders als im Rilketext einen Anklang an Goethes „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“.
Und in Konsequenz von all dem erhält das zweite Terzett statt dem ruhenden Nebeneinander von „Dunkel und Helligkeit, Blume und Buch“ eine Entwicklungsdynamik „van donker naar heller“ und „van bloem tot schrift“. Wir haben „een tegoed“, ein Guthaben im Bleibenden und können, ja müssen es als Erbauer nutzen.
Rilke betont ganz am Ende des zweiten Teils seiner Sonette an Orpheus noch einmal die Widersprüchlichkeit im Passiv-Aktiven:
„Und wenn dich das Irdische vergaß,
Zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.“
Es ist dies seine Utopie, von der er auch in seiner Frage im Sonett XXVII des zweiten Teils spricht:
„Sind wir wirklich so ängstlich Zerbrechliche,
Wie das Schicksal uns wahr machen will?“
Nein, ich werde stark sein. Danke, lieber Ard, für deine Nähe und deine Worte.
Peter
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