Kriegsende 1919:
„Sogar Deutschland, wo die Inflation zuerst in viel langsamerem
Tempo vor sich ging (...), nutzte seine
Mark gegen die zerfließ
ende Krone
aus. Salzburg als Grenzstadt gab mir die beste Gelegenheit, diese täglichen
Raubzüge zu beobachten. Zu Hunderten und Tausenden kamen aus den nachbarlichen
Dörfern und Städten die Bayern herüber und ergossen sich über die kleine Stadt.
(…) Schließ
lich wurde auf
Betreiben der deutschen Regierung eine Grenzbewachung eingesetzt, um zu
verhindern, dass alle Bedarfsgegenstände statt in den heimischen Läden in dem
billigeren Salzburg gekauft wurden. (…) Aber ein Artikel blieb frei, den man
nicht konfiszieren konnte: das Bier, das einer im Leibe hatte. Und die
biertrinkenden Bayern rechneten es sich am Kurszettel von Tag zu Tag aus, ob
sie im Salzburgischen infolge der Entwertung der Krone fünf oder sechs oder
zehn Liter Bier für denselben Preis trinken konnten, den sie zu Hause für einen
einzigen Liter zahlen mussten. Eine herrlichere Lockung war nicht zu erdenken,
und so zogen mit Weibern und Kindern Scharen aus dem nachbarlichen Freilassing
und Reichenhall herüber, um sich den Luxus zu leisten, so viel Bier in sich hineinzuschwemmen, als der Bauch nur fassen konnte. Jeden Abend zeigte der
Bahnhof ein wahres Pandämonium betrunkener, grölender, rülpsender, speiender Menschenhorden;
manche, die sich zu
stark überladen, mussten auf den Rollwagen, die man sonst
zu Koffertransporten benutzte, zu den Waggons geschafft werden, ehe der Zug, gefüllt
mit bacchantischem Geschrei und Gesang, wieder zurückfuhr in ihr Land.
Freilich, sie ahnten nicht, die fröhlichen Bayern, dass ihnen eine fürchterliche
Revanche bevorstand. Denn als die Krone sich stabilisierte und dagegen die Mark
in astronomischen Proportionen niederstürzte, fuhren vom selben Bahnhof die Österreicher
hinüber, um ihrerseits sich billig zu betrinken, und das gleiche Schauspiel
begann zum zweitenmal, allerdings in der entgegengesetzten Richtung. Dieser
Bierkrieg inmitten der beiden Inflationen gehört zu meinen sonderbarsten
Erinnerungen, weil er plastisch-grotesk im kleinen den ganzen Irrsinnscharakter
jener Jahre vielleicht am deutlichsten aufzeigt."
Stefan Zweig, Die
Welt von Gestern (1942), Berlin 2013, S. 336f.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen