Und hier ist noch einmal mein Leserblog aus dem letzten Jahr:
Die enthusiastischen Rezensionen zu Steffen Kopetzys historischem Abenteuerroman „Risiko“ (Stuttgart 2015: Klett Cotta, € 24,95) haben mir solchen Appetit auf dieses Buch gemacht, dass ich beschlossen habe, ihm ein Leserblog zu widmen: Während der nächsten ein, zwei Wochen berichte ich portionsweise von meiner Lektüre und den Assoziationen, die sie bei mir bewirkt.
Für diesen ersten Beitrag habe ich gleich auf
den ersten Seiten des Romans einen thematischen Aspekt ganz nach meinem
Geschmack gefunden: Es gibt eine hochinteressante deutsch-niederländische
Konnotation, die einen Platz in meiner Begegnungsgeschichte dieser beiden
Länder bekommen würde (wenn ich die denn doch noch mal schreiben sollte).
Die Romanhandlung setzt am 27. Juni 1914 ein, dem
Tag vor dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger. Ort der Handlung ist
die albanische Hafenstadt Durrës. Das Fürstentum Albanien war 1912 auf
der Londoner Botschafterkonferenz geschaffen worden.
Als Fürst wurde ein deutscher Prinz eingesetzt:
Wilhelm zu Wied (im Roman auf Seite 16 erwähnt). Er hatte zwar keine Ahnung vom
Land, seiner Kultur und Sprache, aber er sollte als neutrale Figur zur
Befriedung Albaniens und der Region beitragen.
Wilhelm zu Wied (1876-1945) war übrigens der
Sohn einer niederländischen Mutter: der Prinzessin Marie von Nassau. Damit war
er auch ein Neffe der niederländischen Königin Wilhelmina. Seine Regentschaft
währte nur von März bis Anfang September 1914: Nach Ausbruch des Weltkrieges
musste er das Land verlassen (er hat aber nie abgedankt).
Es gab in den Jahren vor 1914 eine intensive
Zusammenarbeit der europäischen Mächte zur Aufrechterhaltung des Friedens in
europäischen Krisenregionen, insbesondere auf dem Balkan. Weitere auf der
Botschafterkonferenz beschlossene Maßnahmen zur Befriedung Albaniens waren der
Schutz des fürstlichen Palastes durch das deutsche Kriegsschiff S.M.S. Breslau und
der Aufbau einer Polizeitruppe durch niederländische Offiziere. Zu Anfang der
Handlung geht ein zehnköpfiges Detachement der Breslau unter Leitung des
Leutnants Dönitz an Land (Dönitz? Da war doch was? Ja, tatsächlich: Es handelt
sich um den späteren Großadmiral und Hitlers Nachfolger.) Ich zitiere:
„An einem belebten Platz, auf dem
heruntergekommene venezianische Palazzi und Bürgerhäuser standen, stießen sie
auf drei Angehörige der leuchtend grün uniformierten Polizeitruppe des
Stadtkommandanten, die von niederländischen Offizieren geleitet wurde und deren
Patrouille nun mit Leutnant Dönitz in ein Gespräch über das Ziel seiner
Mannschaft trat“ (Risiko, S. 22f.).
Tja: eine deutsch-niederländische
Zusammenarbeit, von der heute kaum ein Niederländer oder Deutscher noch etwas
weiß.
Bei der weiteren Entfaltung des Romananfangs hat
Steffen Kopetzky einen Umstand außer Acht gelassen, der auch noch eine
Konnotation zu meinem niederländischen Wohnort Groningen gehabt hätte. Aber
davon morgen mehr. Ich gehe jetzt auf einen Groninger Friedhof und suche das
Grab eines niederländischen Nationalhelden, von dem ich bis heute nichts
wusste…
Steffen Kopetzkys Roman “Risiko” – Ein Leserblog
(2): Exkurs zu einem niederländischen Nationalhelden
Steffen Kopetzky gibt zu Anfang von „Risiko“ ein
korrektes Bild der unruhigen Situation in Albanien 1914, konzentriert sich
dabei aber auf den Einsatz des deutschen Kreuzers S.M.S. Breslau und seiner
Mannschaft als Teil einer internationalen Friedensmission.
Die niederländischen Offiziere, die in Albanien
eine Polizeitruppe aufbauen sollten, werden zwei Mal kurz erwähnt (Seite 22 und
45). Dabei lässt Kopetzky die krisenhafte Zuspitzung der Lage insbesondere für
die Niederländer (siehe unten) außer Acht. Diese ist für die Romanhandlung im
Zusammenhang mit der Hauptfigur, dem deutschen Funker Sebastian Stichnote, auch
nicht notwendig: Er erlebt seine eigene lebensbedrohende Krise durch ein
Techtelmechtel mit einer Einheimischen. Damit introduziert der Autor die love
story, die seinen Roman durchziehen wird.
Zur Lage der Niederländer mache ich hier nur
deshalb einen Exkurs, weil es einen Zusammenhang mit meinem Wohnort Groningen
gibt.
Also: Zwölf Tage vor dem Landgang des deutschen
Detachements in Durrës (Durazzo) war der niederländische Major
Lodewijk Thomson dort von einer (verirrten?) Kugel tödlich getroffen
worden. Dieser Vorgang führte zu großer Verunsicherung
bei den niederländischen Offizieren. Sie verließen dann bereits Ende Juli das
Land wieder.
Major Thomson hatte schon zu Lebzeiten bei
seinen Untergebenen und in den Niederlanden einen Kultstatus genossen, an dem
er durch geschickte Medienarbeit mitgewirkt hatte. Nun war er der erste
niederländische Militär, der auf einer internationalen Friedensmission ums
Leben gekommen ist. Sein Tod führte zu einer gewaltigen Anteilnahme in seinem
Heimatland. Der Leichnam wurde überführt und am 15. Juli 1914 auf dem Groninger
Friedhof „Zuiderbegraafplaats“ bestattet. Der Sarg kam per Schiff in Amsterdam
an und wurde mit der Bahn nach Groningen gebracht. An der Bahnstrecke standen
mehrere Regimenter und tausende Bürger Ehrenspalier, und die Stadt Groningen
hatte einen solchen Trauerzug wohl noch nie erlebt. Es gibt Filmaufnahmen
davon, die auf
Vimeo zu sehen sind.
Am Hereweg steht ein Denkmal Thomsons am Ort der
ehemaligen Rabenhauptkaserne (zwischen den heutigen Wohnhäusern Nr. 109 und
111. Letztes Jahr wurde anlässlich des 100. Todestages eine Kopie in Den Haag
aufgestellt.
Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ - Ein Leserblog
(3): Die reichhaltigsten 15 Jahre der deutschen Geschichte
In der ersten Hälfte des Romans „Risiko“ erzählt
Steffen Kopetzky vom abenteuerlichen, aber auch todbringenden Einsatz des erst
deutschen und dann türkischen Kriegsschiffes „Breslau“
im Mittelmeer kurz vor dem ersten Weltkrieg und während der ersten
Kriegsmonate; in der zweiten Hälfte geht es um die Geschichte der deutschen
Afghanistan-Expedition vom September 1914 bis September 1915, der sogenannten Niedermayer-Hentig-Expedition, die die
Afghanen zum Dschihad gegen die Briten bewegen sollte.
Zusammengehalten werden die beiden Teile vor
allem durch die (fiktive) Hauptfigur, den Funker Sebastian Stichnote und das
(poetologische?) Element des „Großen Spiels“. Mit letzterem, denke ich, steht
und fällt die Qualität dieses Romans, der ja nicht umsonst den Namen eines
berühmten Kriegsspiels trägt. Aber dazu später.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte man (ich?)
einen deutschen Roman, der im ersten Weltkrieg spielt und nicht eindeutig das
Antikriegs-Label von Remarques „Im Westen nichts Neues“ bedient, nur mit einem
gewissen Stirnrunzeln angefasst. Aber hundert Jahre nach Kriegsbeginn hat sich
sowohl durch die vergehende Zeit als auch durch die mit ihr einhergehende
Relativierung in der internationalen Geschichtswissenschaft die von meiner
Generation angenommene Eindeutigkeit der Schuldfrage in einer Serie von
Fragezeichen und neuen Erkenntnissen aufgelöst.
Was bleibt, ist dagegen die Rückprojektion der Ergebnisse
aus der Vergangenheitsarbeit am Zweiten Weltkrieg, die jedem Deutschen
einen unbefangenen Umgang mit „Helden“ auch vorangegangener Zeiten verbieten
sollte. Aber nicht die Thematisierung jener Zeiten und Helden überhaupt!
Die ersten 15 Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zum Beispiel sind eine der
reichhaltigsten und interessantesten Perioden der deutschen Geschichte
hinsichtlich Kultur, Wissenschaft, Technik, Politik und Gesellschaft. Und
Steffen Kopetzky schöpft mit vollen Händen aus diesem vernachlässigten Fundus.
Vor ihm hat das auch Christian Kracht getan,
dessen Roman „Imperium“ ein Beispiel dafür gibt, wie eine poetologisch sinnvoll eingesetzte Rückprojektion von
Geschichtserfahrung aussehen kann, ohne dass ein didaktisch
verquastes, langweiliges Gebilde dabei herauskommt.
Ist Steffen Kopetzky mehr als ein Karl May
unserer Tage, der uns mit Hilfe einer Handbibliothek in andere Zeiten und Länder
versetzt?
Fortsetzung (und irgendwann auch die Antwort)
folgt.
Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ – Ein Leserblog
(4): Dschihad für Deutschland
1900-1915: Die reichhaltigsten 15 Jahre der
deutschen Geschichte... Ich hätte auch die österreichisch-ungarische mit
erwähnen sollen.
Kopetzky bedient sich genüsslich.
Zum Beweis ein Griff in die Kiste. Ich habe hier
im Blog nicht die Zeit und den Raum und den Wunsch, das näher auszuarbeiten.
Man lese einfach die anklickbaren Artikel zu den folgenden Namen oder eben den
ganzen unterhaltsamen Roman!
Im Zusammenhang mit der deutschen
Afghanistan-Expedition von 1914/16 tauchen in „Risiko“ ein paar höchst
abenteuerliche (aber reale) Gestalten auf. Jeder hatte seine Vorgeschichte und
jedem einzelnen von ihnen wird nachgesagt, er wäre ein deutscher Lawrence (von
Arabien) gewesen. Die Fotos unten sprechen für sich. Aber die Namen dieser
deutschen Abenteurer sind im heißen Sand der Geschichte versunken, und eine
schriftstellerische Begabung wie im Falle von T. E. Lawrence („Seven Pillars of
Wisdom“) war leider nicht dabei. Im übrigen hilft ein früher Tod auch immer zur
Legendenbildung, und das war bei den deutschen Herren nicht der Fall.
Der kreative Geist hinter der Idee, man könne
die Muslime der Welt zum Dschihad gegen die Feinde Deutschlands aufstacheln,
war der Orientalist Max von
Oppenheim (1860-1946). Er überzeugte die Berliner Ministerien von
seinem Plan und organisierte die in Kriegszeiten äußerst mühsame
Expedition.
|
Der Leiter der Expedition war zunächst der
Diplomat Wilhelm Wassmuss
(1880-1931).
Nach Meinungsverschiedenheiten mit
Wassmuss übernahm der Offizier und Geograf Oskar von
Niedermayer (1885-1948) ab Bagdad die Führung.
Auch der österreichisch-tschechische Orientalist
Alois Musil (1868-1944)
figuriert in diesem Roman.
Steffen Kopetzky holt diese Männer für eine
Lesewoche aus dem Staub der Geschichte. Wir erschaudern.
Steffen Kopetzkys „Risiko“ – Ein Leserblog (5):
Ein deutscher Bildungsroman
So, ich hab’ ihn durch: alle 730 Seiten; es
braucht etwas Lesegeduld, aber der Autor hat so dies und das eingebaut, das die
Neugier auf das Ende der Geschichte wach hält, und auch die Liebesgeschichte,
auf die ich noch kurz vor Schluss keinen roten Heller mehr gesetzt hätte,
bekommt ihr Happy End. Es ist ein großartiger und spannender Abenteuerroman und
mehr als das.
Rezensenten haben es schwer mit diesem an
Geschichte und Geschichten fast übervollem Buch: Ehe sie auch nur die Hälfte
der erwähnenswerten Aspekte abgearbeitet haben, sind die ihnen zustehenden
Zeilen oder Sendeminuten gefüllt, und fürs Wesentliche reicht die Zeit dann
nicht mehr. Manche scheinen den Roman auch nur zur Hälfte gelesen zu haben.
Die bisher sorgfältigste und reichhaltigste
Rezension stammt von Shirin Sojitrawalla im Deutschlandfunk, die man auf der
Website lesen oder in
zwanzig Minuten anhören kann.
Das gibt mir die Gelegenheit, mich aufs
Wesentliche zu konzentrieren, und das sind die kunstvoll in den Gesamtverlauf
der realhistorischen Erzählung eingewobenen fiktiven Elemente des „Großen
Spiels“ und die Bildungsgeschichte der Hauptfigur Sebastian Stichnote. Ja: Bei
„Risiko“ handelt es sich tatsächlich um einen deutschen Bildungsroman, der den
Helden durch Höhen und Tiefen führt, an symbolischen Überhöhungen nicht spart
und mit einer kathartischen Überraschung endet.
Wenden wir uns zunächst dem „Großen Spiel” zu
(siehe den nächsten Beitrag).
Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ – Ein Leserblog
(6): Das Große Spiel
“Auf den ersten Blick wirkte es wie ein buntes
Relief aus farbigen Steinen. Er trat einen Schritt in das Zimmer hinein und
erkannte, dass es sich um verschiedenfarbig lackierte Bleisoldaten, Reiter und
Geschütze handelte. Doch die kleinen Soldaten- und Geschützfiguren waren nicht
naturalistisch in einer Art Schlachtenpanorama aufgestellt, sondern abstrakt
gruppiert. Links auf dem Tisch sah er einen aufgeklappten, mit grünem Samt
ausgeschlagenen Kasten, in dem sechs Würfel lagen, drei rote und drei blaue.
Jetzt begriff er, um was es sich handelte: Das musste das legendäre Große Spiel
sein” (Risiko, S. 39f.).
Dies ist – bei einem heimlichen Blick ins Zimmer
von Leutnant Dönitz - die erste Begegnung des Marinefunkers Sebastian Stichnote
mit dem Großen Spiel, das er bald meisterhaft beherrschen sollte. Er verdankte
ihm sogar seine vorzeitige Beförderung zum Leutnant. Und am Ende viel, viel
mehr.
Der allwissende Erzähler vermittelt uns auf den
folgenden Seiten (39-43) Wissenswertes zur Entstehungsgeschichte des (fiktiven)
Spiels: Seine Ursprünge liegen demnach in einem preußisch-militärischen
Lehrspiel, mit dem den Offiziersschülern die Clausewitzsche Philosophie des
Krieges nahegebracht worden ist. Das legendäre Spiel war, da es auf einem Brett
mit 64 Feldern gespielt wurde, beim Militär unter dem Namen “C 64” bekannt
("C" für Clausewitz). Später sei es durch Übernahme von Elementen des
Go- und des (wohl auch fiktiven) “Xingbing”-Spiels und durch die Verwendung
einer Weltkarte als Spielfeld zu einem Strategiespiel für militärische
Führungskreise herangereift.
“C 64”: Steffen Kopetzky erlaubt sich im Roman
ab und zu Scherze wie diese Anspielung auf den legendären Spielcomputer
Commodore 64. Das Spiel, das hier beschrieben wird, gibt es nicht. Es erinnert
zwar an das bekannte Brettspiel “Risiko”, das aber im Buch gar nicht genannt
wird. Ich vermute sogar, dass nicht der Autor, sondern der Verlag den Titel
“Risiko” gewählt hat, da viele potentielle Leser aus ihrer Jugend das
gleichnamige Spiel kennen. Wahrscheinlich hätte der Roman einfach “Das Große
Spiel” heißen sollen; das wäre der bessere Titel gewesen.
Wie das Spiel wirklich funktioniert, bleibt –
ähnlich wie in Hermann Hesses “Glasperlenspiel” - wohlweislich den ganzen Roman
hindurch im Ungewissen. Der Autor suggeriert mit den vagen und ständig
erweiterten Regeln eine Nähe des Spielgeschehens zur geopolitischen Realität,
ja sogar einen Einfluss auf den Gang der Geschichte. Er lässt Leutnant Dönitz
eine neue Regel erfinden, die es ihm erlaubte, das Spiel “nicht mehr nur dazu
benutzen, die Wirklichkeit auf die eine oder andere Weise analytisch
nachzuspielen, sondern dazu im Spiel gleichsam eine neue zu erschaffen
(S. 253, Kursivierung von mir).
Sebastian Stichnote wird durch seine geniale
Beherrschung dieses Strategiespiels zum Star unter den verbündeten deutschen
und türkischen Offizieren in Istanbul am Anfang des Weltkriegs. Stichnote trägt
dann den Kasten mit den Spielfiguren die ganze entbehrungsreiche
Afghanistan-Expedition lang in seinem Gepäck. Am Ende spielt er das Spiel in
Kabul mit dem afghanischen Prinzen und Offizieren und führt darin die
paschtunischen Stämme zu einem überraschenden Sieg gegen die englischen
Kolonialtruppen, der ihnen den Weg bis zur Hafenstadt Karachi eröffnet. In der
Nacht danach geht er durch den halbdunklen leeren Saal, wo noch der Spieltisch
mit den Figuren steht, und ruft sich alle Schlachten, die er gespielt hat, vor
Augen:
“Gerade zuletzt war es ihm erschienen, als seien
sie (die Schlachten am Spielbrett, P.G.) realer als die Wirklichkeit, als
übersteige das Spiel diese an Wahrheit und Aussagekraft” (S. 704).
Ich war an diesem Punkt immer neugieriger
geworden, wie Steffen Kopetzky auf den restlichen zwanzig Seiten sein
umfangreiches Erzählnetzwerk zu einem schlüssigen Ende führen würde. Ein
erfolgreiches Ergebnis der Expedition, die die Afghanen zum Dschihad gegen
England bewegen sollte, stand – getreu der geschichtlichen Wahrheit - nicht in
Aussicht. Die Wandlungen, die der Autor seinen Helden Stichnote hat erleben und
erleiden lassen, schienen jedoch auf ein ganz besonderes Finale hinzuweisen.
Würde es der Tod sein, wie das Ende des Prologs es schon nahegelegt hatte?
Aber der große Spieler Kopetzky beendet seinen
realistischen Geschichtsroman mit einem den Leser völlig überraschenden Epilog,
der – wie das Große Spiel - die Wirklichkeit an Wahrheit und Aussagekraft
übersteigt, und zwar ganz gewaltig! Und verblüffend schlüssig ist.
Ich bringe es irgendwie nicht übers Herz, dieses
Ende an dieser Stelle zu verraten. Lest es doch selbst (aber von Anfang an;
nicht schummeln!).
P.S.: Da es sich ja um einen Bildungsroman
handelt, muss ich in meinem folgenden Beitrag noch etwas zu seinem Helden
Sebastian Stichnote sagen.
Sebastian Stichnotes theatralische Sendung - Ein
Leserblog zu Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ (7)
Ich habe mal bei Goethe reingeschaut, was es
auch noch mit Wilhelm Meister und dem geheimnisvollen Mädchen Mignon auf sich
hatte. Seit Migons „Eiertanz“
war die deutsche Sprache um dieses schöne Wort reicher.
Eine Romananalyse ist auch eine Art von
Eiertanz. Das zeigt der Tanz der Germanisten um den Wilhelm Meister. Es gibt
eine traditionale Interpretationsschule, die den Helden auf dem Weg zu
‚Heilung’ und ‚Glück’ sieht und eine moderne, die behauptet, man könne Meisters
Bildungsgeschichte „mit gleichem Recht einen Zerstörungsroman nennen“ (Heinz
Schlaffer).
Und ja, es drängt sich geradezu auf: Steffen
Kopetzky orientiert sich mit seinem Bildungsroman „Risiko“ am klassischen
Vorbild und nimmt dabei die Ambivalenz der Interpreten gleich mit hinein:
Heilung und Glück auf der einen Seite, Leid und Tod auf der anderen.
Und was ist Sebastian Stichnotes theatralische
Sendung? Er erlernt das geheimnisvolle „Große Spiel”
und muss bis ans Ende der Welt gehen, um es dort zu spielen und die Welt zu
retten. Von Anfang an ist deutlich, dass er kein aggressiv-nationalistischer
deutscher Soldat ist, sondern immer wieder auf Frieden und Ausgleich setzt und
gerade dadurch das “Große Spiel” zu gewinnen weiß.
Auch Kopetzkys Meister begegnet einer Mignon,
dem zehnjährigen Paschtunenmädchen Ruia. Sie steht ihm während der tiefsten
Höllenqualen seines Opiumentzugs zur Seite und pflegt ihn. Stichnotes Schicksal
ist von diesem Leidensweg an eng mit dem ihrem verbunden. Von ihr lernt er
Paschtunisch, in ihrer Umgebung wird er mit den Sitten und Gebräuchen der paschtunischen
Stämme vertraut. Er lernt das Große Spiel der Paschtunen kennen und beginnt,
wie ein Paschtune zu denken und zu fühlen. Dies ermöglicht ihm, sein Großes
Spiel auf Seiten der Afghanen zu spielen.
Ruia bezahlt die Begegnung mit ihm letztlich mit
ihrem Leben. Der Emir wird auf sie aufmerksam und zwingt sie in seinen Harem,
wo die von ihm missbrauchte Zehnjährige stirbt. Diese Schandtat erzeugt in
Stichnote den Hass und die Kraft, den Emir zu töten und damit den Lauf der
Geschichte zu ändern. Der afghanische Vorname Ruia bedeutet „ein Traum, der
irgendwann wahr wird“. Na, also!
Stichnote durchläuft im Roman drei Stadien, in
denen sein Leben immer wieder auf Äußerste gefährdet ist. Im ersten Stadium ist
er der technisch avancierte Funker, der die moderne, aber gewichtige und
belastende Apparatur auf dem Weg nach Afghanistan begleitet. In der zweiten
Phase ab Isfahan muss er die Funkanlage zurücklassen und nimmt an ihrer Stelle
230 Brieftauben mit: die Regression in eine frühere Phase der Nachrichtentechnik.
In den folgenden Monaten der Wüstenmärsche nehmen seine Gesundheit und seine
Kräfte ab. Wegen immer heftigerer Zahnschmerzen beginnt er, Opium zu rauchen.
Es schwindet auch die Zahl der Tauben, bis nur noch drei übrig sind. Sie locken
den Jagdfalken eines Paschtunen an, wodurch der halbtot in der Wüste Liegende
entdeckt und gerettet wird. Durch Ruias Pflege wird er gleichsam
paschtunisiert. Er bekommt den Falken als Geschenk und verfüttert die drei
letzten Tauben an ihn. Die dritte Phase ist angebrochen.
Stichnote hat mit dem weißen Falken ein
fürstliches Attribut bekommen (auch Wilhelm Meister erhält am Ende die
‚Königswürde’). Er wird tätig und versucht den Emir zu töten, was ihm nur durch
Eingreifen des Falken gelingt. Damit wird den Afghanen ermöglicht, die
Erkenntnisse, die er ihnen im Großen Spiel vermittelt hat, gegen die Engländer
in die Realität umzusetzen, die künstlichen Kolonialgrenzen aufzuheben und das
Land bis an die Küste zu befreien.
Und eigentlich hat Sebastian das alles nur
getan, um von Karachi aus nach London fahren und seine Geliebte wiedersehen zu
können!
Dieses dritte Stadium ist die einzige (und sehr
kurze) Phase in Kopetzkys Roman, die kontrahistorische Fakten enthält. Der
Autor lässt den afghanischen Emir Habibullah Khan drei Jahre früher einem
Attentat zum Opfer fallen als in der Realität, um seinen alternativhistorischen
Geschichtsentwurf am Ende des Romans umsetzen zu können. England ist dort schon
1916 zum Friedensschluss in Europa bereit. Im “Frieden von Verdun” werden – noch
vor dem grossen Sterben, das wir mit diesem Ort verbinden - die Grundlagen für
ein einiges Europa gelegt.
Der friedfertige bayerische Soldat Stichnote
rettet die Welt. Kehren wir zurück zu seinen Gedanken während des ersten
Einsatzes der “Breslau”:
“Wie verzweifelt war Deutschlands Ausgangslage,
wenn seine Kriegsschiffe Fischer und Frachter versenken müssten, um eine Chance
zu haben? Wenn es wirklich so schlecht stand, dass man nicht Englands Soldaten,
sondern seine Bevölkerung angreifen musste, dann war es mit dem Reich so oder
so vorbei. Und mit Bayern auch. Das mochte er nicht glauben. Konnte einfach
nicht wahr sein (Risiko, S. 146).”
Nein, das kann nicht wahr sein.
Der lesende Held: Steffen Kopetzkys Roman
„Risiko“ – Ein Leserblog (8)
Sebastian Stichnote, die Hauptfigur aus
„Risiko“, ist der Sohn eines bayerischen Handwerkers. Er hat die Realschule
besucht. Als junger Mann schleicht er sich in die Vorlesungen der Technischen
Universität in München, zu denen er eigentlich keinen Zugang hat. Er interessiert
sich für Physik, für Einsteins revolutionären Erkenntnisse und liest viel.
Seine Leseinteressen sind „technisch“ und „abenteuerlich“ (S.31). Und er ist
ein „Schnellleser“, der sich eine bestimmte Lesetechnik angeeignet hat.
Steffen Kopetzky gestaltet seinen Helden als
modernes Gegenbild zum (Shakespeare lesenden) Wilhelm Meister. Sebastian gehört
ins frühe zwanzigste Jahrhundert, das Zeitalter der
technisch-wissenschaftlichen Bildung und der Ingenieure. Als Techniker und
Soldat trägt er nicht die Taschenuhr des Bürgers, sondern frönt der neuen Mode
der viel praktischeren Armbanduhr (seine Schweizer „Movado“ - die sich
Bewegende - wird immer wieder genannt.)
Und so liest er auch nur seitlings die Werke der
bürgerlichen Bohème; viel mehr interessieren ihn die technischen Utopien seiner
Zeit.
Fünf Romane verschlingt und kommentiert er in
den Monaten der Handlung 1914/15:
Bernd Kellermann, Der Tunnel
Jules Verne, Zwanzigtausend Meilen unter dem
Meer
Thomas Mann, Tod in Venedig
Waldemar Bonsels, Die Biene Maja
Kurd Laßwitz, Auf zwei Planeten
Insbesondere Laßwitz’ damals weit bekannter
utopischer Roman hat es ihm angetan. Liebevoll betrachtet er den
ungewöhnlich schön gestalteten Einband des Buches:
„Links von ‚Kurd’ stand ein silberner Halbmond
und unter diesem (...) die Erde, er erkannte Eurasien und Afrika zentral auf
der silbernen Scheibe, sogar der Schlitz des Mittelmeers war zu sehen mitsamt
den Dardanellen. Unter der silbernen, Millionen Kilometer entfernten Erde
spannte sich die Milchstraße und darunter, in braun geprägt, der Saturn. Doch
rechts von der Erde, gab es, viel kleiner, wie ein neuer Mond um den
Heimatplaneten kreisend, eine dritte silberne Scheibe. Das musste, dachte Stichnote,
der Mars sein. Gott des Krieges” (S. 183).
Immer wieder wird Sebastian im Laufe der
Handlung dieses Buch in die Hand nehmen und sich sich in den geprägten
Buchdeckel mit seinen dreidimensional leuchtenden Planeten- und Sternenwelten
versenken. Die Fragen von Krieg und Frieden, Technik und Energie verbinden
Sebastians Leben und Denken mit Laßwitz’ Utopie vom irdischen Frieden und
solarer Energieerzeugung. Sie werden dann ja auch zum Thema des Großen Spiels,
in dem die fossilen Brennstoffe Kohle und Erdöl eine wichtige Rolle spielen.
(Für Interessenten: der Roman ist im Gutenbergprojekt
frei zugänglich.)
Der lesende Held: Er steht in der Tradition
des deutschen Bildungsromans. Er begegnet uns in Karl Philipp
Moritz’ “Anton Reiser” und in Goethes “Wilhelm Meister”. Und auch Steffen
Kopetzkys Sebastian Stichnote liest, was zu ihm passt.
Aber, wird der kritische Leser einwenden, der
Autor präsentiert uns hier einen Helden von 1915 - nur leben wir im einundzwanzigsten
Jahrhundert, belastet von der Bürde der Schrecken, die das Zwanzigste noch
bereithielt. Was also sollen wir im Jahre 2015 damit anfangen?
Nun, ich glaube dass Kopetzky das bedacht und in
seinem Roman eine Reihe von Bojen ausgelegt hat, die den Leser auf den Kurs in
unsere eigene Zeit bringen sollen.
Erdöl! – Teil 9 meines Leserblogs zu Kopetzkys
„Risiko“
“Noch nie in der Geschichte der Menschheit war
so viel Petroleum auf einmal verbrannt worden. Ein Tank nach dem anderen
explodierte und entzündete mit seiner Detonation weitere Tanks. (…)
Jedermann an Bord begriff das Unheimliche dieser
Feuersbrunst, insbesondere Stichnote, der nach Wachablösung und dem Ende des
Beschusses an Deck stand, den gelblich-dunklen Himmel studierte und an das Buch
Auf zwei Planeten denken musste, in welchem das Verbrennen fossiler
Energieträger als Frevelei und Schandtat bezeichnet wurde“ (Risiko, S. 354).
Es handelt sich hier um die Beschießung der Erdöltanks von
Noworossijsk am 29. Oktober 1914 durch den osmanisch-deutschen
Kreuzer “Midilli’ (‘Breslau’) im Schwarzen Meer: Der Leser von Kopetzkys
“Risiko” wird an dieser Stelle ein wenig sehr direkt mit der Nase auf die
verborgene - wenngleich überdachende - Thematik des Romans gestubst, nämlich
die geostrategische Rolle des Erdöls und die damit verbundenen Gefahren für
Mensch und Umwelt.
Mit der Thematisierung des Öls verbindet
Kopetzky sehr geschickt den Anfang des zwanzigsten mit dem Anfang des
einundzwanzigsten Jahrhunderts und zaubert damit aus seinem historischen
Abenteuerroman einen höchst aktuellen Gegenwartsroman. Die Bedeutung von Kohle
und Öl für Industrie und Kriegsführung wird uns in der Handlung fortwährend
vorgeführt. Zur theoretischen Untermauerung erteilt der Autor noch über 25
Seiten hinweg einer hochinteressanten historischen Nebenfigur das Wort: Alexander Parvus. Dessen
Ausführungen gipfeln in einer Prophezeiung:
“Aber nun ist ein neuer Stoff aufgetaucht, der
die Kohle in den Schatten stellen wird. (…) Petroleum. Es gibt viel davon in
Amerika, aber die größten Quellen liegen in Baku und gehören dem Zaren. Dann
sind da die persischen Quellen, die heute schon von größter Bedeutung für das
Britische Empire sind. Aber wir wissen, dass Petroleum in Mesopotamien von
selbst zu Tage tritt. Die Quellen dort müssen unendlich sein. (…)
Das internationale Kapital (wird) das Osmanische
Reich in tausend Stücke reißen und all seine Völker versklaven, um an das
Petroleum zu kommen, das auf seinem Gebiet liegt“ (Risiko, S. 340).
Das "Große Spiel": Es ist viel
konkreter gemeint, als es erst den Anschein hatte. Es geht nicht um ein
abstraktes Strategiespiel, sondern um die Realitäten, die sich – dem Erdöl
geschuldet - in den letzten hundert Jahren in dem riesigen Territorium zwischen
der Türkei und Afghanistan beziehungsweise auf den fünftausend Kilometern der
Niedermayer-Expedition zwischen Konstantinopel und Kabul, entwickelt haben.
Und eine Ironie hat die Geschichte auch: Damals
sollte eine deutsche Expertentruppe den Dschihad nach Kabul tragen. Heute kommt
der Dschihad aus der Region zu uns.
Nachtrag 2016: Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ – die Taschenbuchausgabe ist da
Nachtrag 2016: Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ – die Taschenbuchausgabe ist da
Gut geschriebene und recherchierte historische
Abenteuerromane gibt es in der deutschen Gegenwartsliteratur selten. Steffen
Kopetzkys großartiger Roman „Risiko“ (2015) über die deutsche Afghanistan-Expedition
am Anfang des Ersten Weltkriegs hat deshalb alle Aufmerksamkeit verdient.
Im September ist die Taschenbuchausgabe im Heyne-Verlag
erschienen (736 Seiten, € 12,99). Wer noch ein schnelles Weihnachtsgeschenk
sucht: das ist mein Tipp!
Ich habe letztes Jahr ein Leserblog in 9 Beiträgen zu diesem
Roman geschrieben, das ich heute komplett noch einmal ins Blog setze.
Einen Beitrag hatte ich damals vergessen: Die Hauptquelle zu
der
Expedition und damit auch für Kopetzkys Roman ist der Bericht von Oskar von
Niedermayer, dem Expeditionsleiter, erschienen 1925 unter dem Titel „Unter der
Glutsonne Irans“. Wer den Roman schon
kennt und immer mal wieder gedacht hat, dass der Kopetzky eine blühende
Phantasie hat, wird verblüfft feststellen: fast alle schwer zu glaubenden
Ereignisse hat es tatsächlich gegeben. Dass Oskar von Niedermayer kein deutscher
Lawrence von Arabien geworden ist, liegt am weiteren Verlauf der deutschen
Geschichte und an der Tatsache, dass er kein begabter Schriftsteller war.
Steffen Kopetzky ist da deutlich besser. Er nutzt die Quelle
gewissenhaft, ohne die Formulierungen Niedermayers zu übernehmen.
Trotzdem ist es spannend, sich das Buch Niedermayers
anzusehen. Es steht leicht zugänglich komplett im Netz.
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