Ist das nun eine Trendwende in der Slam Poetry? Sind die
exzentrischen und effekthascherischen Jahre vorbei?
Die Gewinner im wichtigsten Slam-Event des Jahres 2012
zeichnen sich durch besinnliche und introvertierte Auto-Bio-Prosageschichten
aus, in denen nur noch in der Conclusio einige gereimte Rapzeilen auftauchen.
Da kann es auch kein Zufall sein, dass es sowohl im Beitrag
von Jule Weber (Siegerin in der Kategorie U 20) als auch in dem von Jarawan um “kleine
Brüste” ging. Ängste um die Weiblichkeit. Ängste um die Männlichkeit?
Nun, bei Jarawan geht es um die Brustwarzen, die Batman
(schon seit 1995) trotz seines dicken Körperpanzers sehen lässt. Sollte es sich
dabei um die Angst vor der Verweiblichung beziehungsweise Verweichlichung des
Mannes handeln? Das Thema ist in: Auch der letzte SPIEGEL im alten Jahr widmet
seine Titelgeschichte der “Männerdämmerung”.
“Es ist nicht notwendig, dass Du aus dem Haus gehst. Bleib
bei Deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte bis es Dich bedrängt.
Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich Dir die
Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor Dir
winden.”
»Ach«,
sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit,
daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts
und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell
aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht
die Falle, in die ich laufe.« – »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte
die Katze und fraß sie.
Bei all dem Fernsehelend zu Weihnachten habe ich mich
gefragt, was wohl der beste deutsche Weihnachtsfilm sein könnte. Dabei bin ich
bei Wikipedia auf eine Liste der Weihnachtsfilme aller Zeiten (also der letzten
hundert Jahre) gestoßen.
Was an dieser Liste sofort auffällt, ist die absolute
Vorherrschaft der US-Produktionen. Mehr als 90% aller Weihnachtsfilme stammen
aus Amerika, und sie verteilen sich über alle Genres: Es gibt
Weihnachts-Western, Weihnachts-Horrorfilme etc. etc. Aber beim Großteil handelt
es sich um Weihnachtskomödien für die ganze Familie. Ich will darüber nicht
mäkeln; es gibt vergnügliche und respektable Filme darunter.
Von der Handvoll deutscher Filme sind die meisten als
Kinderfilme gemacht und oft von erbärmlicher Albernheit. Ich wollte schon
aufgeben, aber da klickte ich diesen deutsch-österreichischen Film an: Das ewige Lied (1997) des bayerischen Regisseurs Franz Xaver Bogner. Nie gehört, nie
gesehen.
Es scheint sich um eine Art Weihnachtskrimi zu handeln, in
dem aber auch die Geschichte der Entstehung des bekanntesten deutschen
Weihnachtsliedes erzählt wird: Stille Nacht, heilige Nacht. Das Ganze spielt im
Jahre 1818 in Oberndorf bei Salzburg, einer Stadt, die kurz vorher nach der napoleonischen Zeit in
eine bayerische und eine österreichische Hälfte geteilt worden war.
Das folgende YouTube-Fragment zeigt nur das stimmungsvolle
(nicht: kitschige) Happy Ending des Films mit der Entstehung des Liedes; vorab
muss es allerlei Turbulenzen gegeben haben. Nach ein wenig Gegoogle bin ich zu
der Überzeugung gekommen, dass dies der beste deutsche Weihnachtsfilm sein
muss.
Leider ist er im diesjährigen TV-Programm nur bei entlegenen
Sendern und zu unmöglichen Spielzeiten zu sehen. Aber manche Leute verfügen ja
über eine Satellitenantenne und einen Rekorder.
Was die Wikipedia-Liste betrifft, bin ich etwas skeptisch.
Sollte es denn keine wunderbaren russischen, schwedischen, italienischen
oder südamerikanischen Weihnachtsfilme geben?
Dieser Film ist in den deutschen Fernsehprogrammen zwischen
dem 22. und 27. Dezember sage und schreibe sechzehn Mal zu sehen, öfter als
Sissi. Ich selber habe ihn auch schon mindestens ein halbes Dutzend Mal gesehen.
Er ist wirklich ganz süß. Das liegt an der liebenswerten tschechischen Märchenfilmästhetik.
In der ZEIT
dieser Woche steht in der Rubrik "Reisen" ein enthusiastischer Artikel des Schriftstellers Stefan Beuse, der sich als Junge in die Hauptdarstellerin Libuše Šafránková verliebt
hat, verständlich:
Durch den Artikel wurde mir zum ersten Mal klar, wo der Film gedreht
worden ist: u.a. bei Schloss Moritzburg in der Nähe von Dresden, seit Jahrzehnten
ein Kultort für die Liebhaber dieses Films. Das war mir als ignorantem Wessi
noch nicht aufgefallen, und ich muss da auch wohl mal hin.
Der Film beruht
auf einer Variante des Grimmschen Märchens der tschechischen Schriftstellerin Božena Němcová (Barbara Pankel, 1820-1862),
die den Stoff mit dem Motiv der drei Haselnüsse verbindet. So, jetzt muss ich aufhören. Der Film fängt in einer Viertelstunde an
(14:55 Uhr im ersten Programm).
Es war ein
junger Hirt, der wollte gern heiraten und kannte drei Schwestern, davon war eine
so schön wie die andere, dass ihm die Wahl schwer wurde und er sich nicht
entschließen konnte, einer davon den Vorzug zu geben. Da fragte er seine Mutter
um Rat, die sprach: »Lad alle drei ein und setz ihnen Käs vor, und hab acht,
wie sie ihn anschneiden.« Das tat der Jüngling, die erste aber verschlang den
Käs mit der Rinde: die zweite schnitt in der Hast die Rinde vom Käs ab, weil
sie aber so hastig war, ließ sie noch viel Gutes daran und warf das mit weg: die
dritte schälte ordentlich die Rinde ab, nicht zu viel und nicht zu wenig. Der
Hirt erzählte das alles seiner Mutter, da sprach sie: »Nimm die dritte zu
deiner Frau.« Das tat er und lebte zufrieden und glücklich mit ihr.
Ich liebe ja
kleine Geschichten. Sie sind vielleicht weniger simpel als es scheint.
Jedenfalls stellt sich mir die Frage, wie das Leben des jungen Hirten verlaufen
wäre, hätte er sich – nicht dem Rat
seiner Mutter folgend – für die erste oder zweite Schwester entschieden. Beide
scheinen auch ihre Qualitäten zu haben, und die dritte wirkt doch ein wenig
langweilig, oder?
Drei völlig verschiedene Zauberflöten, die gleichzeitig
laufen. Was für Bilderwelten! Hier nur ein paar kurze Fragmente, die die
unterschiedlichen Inszenierungen und Interpretationen andeuten:
-Amsterdam, Muziektheater. Hierzu gab es bereits
einen Beitrag in Café Deutschland, da ich die Oper selbst gesehen habe. Ich
habe aber einen neuen Youtube-Film gefunden. Diese Inszenierung scheint mir die
interessanteste und avancierteste der drei zu sein.
Die schönste Graphic Novel, die ein Thema der deutschen
Geschichte und Literaturgeschichte mit Bildern erzählt, ist “Die letzten Tage von Stefan Zweig” (2012) von Guillaume Sorel und Laurent Seksik. Sie beruht auf
dem in Frankreich sehr erfolgreichen Roman “Vorgefühl der nahen Nacht” und ist
von dem französischen Autor Seksik selbst in ein Graphic-Novel-Szenario
umgesetzt worden.
Stefan Zweigs Exil verlief über die Stationen London (1934) ,
New York, Paraguay, Argentinien, Brasilien (1940), wo er sich 1942 zusammen mit
seiner zweiten Frau, der 30 Jahre jüngeren Charlotte Altmann, das Leben nahm.
Diese letzte Phase seines Lebens ist das Thema der Graphic Novel.
Der Zeichner Guillaume Sorel war bisher mehr für
fantasy-artige Comics bekannt und hat jetzt für diesen außerordentlich schönen
großformatigen Band einen neuen realistischen Aquarellstil entwickelt. Mit
einer Mischung aus düsteren und hellen Farbenfängt er die triste Atmosphäre von Zweigs Exilaufenthalt im lebensfrohen
und naturschönen Brasilien bis zum gemeinsamen Selbstmord mit Lotte ein.
Die deutsche Ausgabe kostet 24 Euro, die niederländische
(Casterman Verlag) 17,50. Dieses Buch ist ein Kunstwerk, aber es ist zu
befürchten, dass deutsche Leser und Intellektuelle , die sich für Zweig
interessieren, es nicht kaufen werden, weil sie die Gattung Graphic Novel für minderwertig
halten. Dies ist die Gelegenheit, das Vorurteil zu überwinden. Wer noch ein schönes
Weihnachtsgeschenk sucht: Dies ist mein Tipp.
Auf der Website StoryCorps werden kleine Geschichten
erzählt, die sich wirklich zugetragen haben:
“StoryCorps is an
independent nonprofit whose mission is to provide Americans of all backgrounds
and beliefs with the opportunity to record, share, and preserve the stories of
our lives. Since 2003, StoryCorps has collected and archived more than 40,000 interviews
from nearly 80,000 participants. Each conversation is recorded on a free CD to
share, and is preserved at the American Folklife Center at the Library of
Congress. StoryCorps is one of the largest oral history projects of its kind,
and millions listen to our weekly broadcasts on NPR’s Morning Edition and on our Listen
pages.”
In der Rubrik Animated Shorts werden die Geschichten mit
einem Trickfilm verbunden. Hier habe ich die folgende traurige kleine
Geschichte gefunden:
Beim Betreten des Saales eine Enttäuschung: die Bühne war öd
und leer. Kein Vorhang, keine Kulissen. Nur eine graue, tiefe Fläche, ganz wie
die eintönige Polderlandschaft, die wir gerade im Zug am Tage der Eröffnung der
neuen Hanse-Linie (9. Dezember) durchquert hatten.
Was uns erwartete, war aber ein Wunderwerk aus einfachster
und modernster Bühnentechnik (Regie: Simon McBurney), eine Zauberflöte des 21. Jahrhunderts.
Die hymnische Rezension in der gestrigen NRC beschreibt viele dieser schönen
kleinen und großen Wunder, vergisst aber das wichtigste: Im Zentrum der Bühne
hängt an vier Stahlseilen ein quadratisches Podium von ca. acht mal acht
Metern, eine Bühne auf der Bühne, die sich in beliebige Stellungen und Höhen
bringen lässt. Sie dient der Darstellung der verschiedenen Handlungsorte. Mal
ist sie Berghang, Abgrund, Kellergewölbe, Himmel, mal Bondage-Wand (Anklänge an
Fifty Shades of Grey), mal riesiger Verhandlungstisch von Sarastros
Eingeweihten. Und durchgehend zeigt sie, leicht schwankend, den unsicheren
Boden, auf dem die Figuren sich bewegen.
Das schwebende Podium
Dieses überaus einfache Bühnenelement bringt mit seinem Auf
und Ab und in Kombination mit digital avancierter Kulissentechnik eine Dynamik und
handlungsadäquate Bedrohlichkeit in die Aufführung, wie ich es bei der
Zauberflöte noch nie erlebt habe.
Die Wasser-Probe
Der Verzicht auf sichtbare Freimaurersymbolik
und Eingeweihtenmystik, auch bei der Kleidung, die einheitlich und jetztzeitlich
ist, befreit die Oper bei fast völliger Texttreue von Kitsch und
Unzeitgemäßheit. Das ist absolut verblüffend!
Sarastro hält seine Rede an die Eingeweihten mit dem Mikrophon in der Hand vom Pult des
Dirigenten aus, und er richtet sie an das gesamte Opernpublikum. Die Priester,
der Chor und die Statisten sitzen auf einmal gleichfalls in bühnenfüllenden
Stuhlreihen auf der Bühne, und der ganze Saal wird zu der Versammlung, die
“eine der wichtigsten unserer Zeit” ist. Ein kleiner Eingriff in den Text lässt
das Publikum verstehen und erheitert es: “Wir alle leben in Zeiten der Krise”.
Anlässe zur Heiterkeit gibt es in dieser Inszenierung mehr als sonst, nicht nur bei den
Auftritten von Papageno.
Alle Beteiligten, die sonst bei einer Oper versteckt werden:
die Musiker, die Bild- und Tontechniker, die Bühnenarbeiter sind jederzeit
sichtbar und es wird gezeigt, was sie tun. Taminos Flöte wird aus dem Orchester
heraufgereicht und nicht Tamino spielt sie, sondern der Flötist kommt herauf.
Ein Hauch von epischem Theater dient sich an, aber all das ist irgendwie
wärmer als bei Brecht.
Die Mitarbeiter, ob Solo- oder Chorsänger, ob Tänzer, ob
Statist, bringen ein gemeinsames Produkt zur Aufführung und sind darin
gleichberechtigt: eine geniale Umsetzung des niederländischen Poldermodells in die künstlerische Welt der Oper.
Was die Sänger betrifft: Christina Landshamer war eine
großartige Pamina, Brindley Sherrat ein guter Sarastro und Marc Albrecht ein
flotter Dirigent. Mehr kann ich hier und heute nicht schreiben.
Zu den vielen Wundern dieser Aufführung lese man die
Rezension in der NRC oder diese Rezension bei Dradio, deren Kritik ich im
übrigen nicht teile. Der innovative Regisseur Simon McBurney gibt auf Youtube
Auskunft zum Making Of:
Der große Fußgänger Peter Handke ist heute 70 Jahre alt
geworden. Er geht durch die Welt und schreibt. Ich lese ihn gerne.
Im Literarischen Quartett vom 12.10.1989 wurde heftig über
seinen “Versuch über die Müdigkeit” gestritten. Auf welche Seite würden Sie
sich schlagen? (Das Gespräch über Handke beginnt in Minute 23:22 und dauert
eine Viertelstunde.)
Wer Interesse und mehr Zeit hat, kann sich das einstündige Gespräch
Volker Panzers mit Handke aus dem Jahr 2008 anhören, bei dem Handke nach jahrelangem
Schweigen bzw. Poltern sehr gelöst ins Reden kommt.
Für Handke-Anfänger empfiehlt der Autor in dem Gespräch seinen Roman “Die morawische Nacht” (2008).
Mein Lieblingsbuch von ihm ist “Mein Jahr in der Niemandsbucht”
(1994). Mein Lieblingsstück nach wie vor: “Publikumsbeschimpfung” (1966).