Am 24. Februar haben wir mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine eine Zeitenwende erlebt, die ich, jedenfalls für meine Lebensspanne, nicht mehr erwartet hatte. Die darauffolgenden Tage haben bei mir, auch mit Hilfe kluger Artikel aus internationalen Zeitungen, zu einer massiven Umbesinnung vieler politischer Einstellungen geführt. Grundtenor: Das System Putin ist faschistisch - und das nicht einfach mal so daher gesagt, sondern im eigentlichen Sinne.
Wer das in unserer Generation geltende „Nie wieder Faschismus“ ernst nimmt, sieht sich in diesen Wochen genötigt, die notwendigen Schlussfolgerungen zur Abwehr des Systems Putin zu ziehen. Auf institutioneller Ebene ist dies durch die in der NATO und der EU vereinten Staaten mit verblüffender Geschwindigkeit und Bandbreite geschehen, sogar durch Deutschland, auch wenn es natürlich Abgeordnete und Politiker gibt, die an diesem Strang nicht mitziehen wollen.
In der Bevölkerung und in Intellektuellen- und Künstlerkreisen gibt es – wie auch die Initiative Alice Schwarzers gezeigt hat – ein beträchtliches quasi-pazifistisches Potential.
(Oh Gott, wenn ich an das jahrelange Für und Wider zu bewaffneten Drohnen für die Bundeswehr denke und nun tagtäglich in der Berichterstattung sehe, wie effektiv dieses Waffensystem bei der Verteidigung gegen Panzerkolonnen ist...!)
Ich habe jetzt ein Buch von Karl Schlögel gelesen, dem Nestor der deutschen Osteuropaforschung: „Entscheidung in Kiew“ (2015). Die ersten achtzig Seiten lesen sich wie eine Analyse der Ereignisse der letzten drei Monate. Dabei hatte Schlögel es bereits 2015 nach der Besetzung der Krim veröffentlicht. Alle Einsichten, die heute kreuz und quer in den Medien als Neues Denken verkauft werden, sind bei ihm schon glänzend und überzeugend formuliert vorhanden: ich hätte es also schon sieben Jahre früher wissen können, mindestens!
In den ersten vier Kapiteln widmet er sich der Situation nach der Besetzung der Krim, des weiteren der allgemeinen westlichen Ahnungslosigkeit über die Ukraine, die auch im Westen den Boden für Putins Propaganda bereitet hat. Das wird von den Ursachen her erklärt. Er kommt zu einer Art Fazit:
"Nun ist der Ernstfall eingetreten, dass Europa auseinanderfallen kann, dass es den Erpressungen vielleicht nicht standhält, dass das Schlachtfeld, das die östliche Ukraine seit einem Jahr geworden ist, noch näher an uns heranrückt und dass die Destabilisierung, in die die Ukraine getrieben werden soll, auch Europa als Ganzes erfassen kann, ja: schon erfasst hat " (p. 75).
Die restlichen Kapitel geben eindrucksvolle Bilder der großen Städte und der Veränderung der ukrainischen Gesellschaft in der letzten Generation.
Viele junge Niederländer und Deutsche haben das in den letzten Jahren mit eigenen Augen gesehen. Ich war nie dort, und für meine Imagination war Lemberg/Lwiw noch immer eine verträumte Kleinstadt. Ich hatte keine Ahnung. Ich bedarf dringend der Nachhilfe durch einige Bücher und starte hiermit meine kleine Ukraine-Bibliothek. Dafür suche ich neben historischen Werken auch noch ein paar Romane aus.
Karl Schlögels „Entscheidung in Kiew“ wird in Deutschland als Buch der Stunde gesehen und liegt inzwischen als Fischer Taschenbuch in der achten Auflage vor (304 Seiten, 15€).
Hier kann man noch eine Rezension aus der Frankfurter Rundschau anklicken.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen