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Mittwoch, 5. Januar 2022

Novalis - Geht von dem Frühromantiker eine Gefahr aus?

In der ZEIT Nr. 1 vom 30. Dezember beginnt das Feuilleton mit einer Streitfrage über den deutschen Dichter Novalis, der im Jahr 2022 seinen 250. Geburtstag hat:




 

Die ZEIT: „Novalis. Wie kein anderer verkörpert der Dichter die deutsche Romantik. Ist er schuld am Irrationalismus der Gegenwart?“

 

Der uns allen wohlbekannte Kulturjournalist Volker Weidermann plädiert für das ‚Pro‘ : 


„Aber ja, er ist schuld! (…). Schuld an der deutschen Impflücke, schuld an der weitverbreiteten deutschen Liebe zum Irrationalismus. An Kügelchengläubigkeit. Übersteigertem Vertrauen in Ich-Gefühle statt Weltwissen.“

 

Nein, dies ist keine Parodie. Weidermann meint es offenbar ernst: Novalis, der Zauberjunge der deutschen Romantik, der im Großen und Ganzen ungelesen und unverstanden schon 1801 im zarten Alter von 29 Jahren dahingeschieden ist, wird hier zum Urheber des Urbösen in der deutschen Seelenwelt stilisiert, wie es sich über mehr als zweihundert Jahre entwickelt haben soll bis zu der teuflischen Querdenkerei in der neuesten deutschen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts!

 

Wie muss man gestrickt sein, um die gegenwärtigen Friktionen in unserer Gesellschaft auf diese Weise erklären zu wollen? Oder verbirgt sich hinter der Wahl dieser Erklärung die Gelegenheit zur Aufwertung des eigenen Arbeitsbereichs beziehungsweise zur interessanteren Repräsentation des Kulturfachmanns Weidermann? Vor allem Literatur hat ja in den letzten Jahren in der deutschen Medienwelt immer weniger Raum und Aufmerksamkeit bekommen. Darunter hat auch Weidermann leiden müssen, und er ist jetzt gerade erst seit einem Vierteljahr Leiter des Feuilletons der ZEIT. Da muss er schon was tun!

 

Wie dem auch sei: Dann war er es auch, der den öffentlich weniger bekannten Politikwissenschaftler Peter Neumann zur Formulierung der Kontraposition eingeladen hat: 


„Um Himmels willen, nein! (…). Das hat Novalis nicht verdient (…) Novalis muss sich die Angriffe auf sich und seine frühromantischen Jenaer Freunde nicht gefallen lassen: Der unermüdliche Bergbau- und Salinenbeamte (…) hätte sich längst kreuzweise boostern lassen. (…) Wenn in diesen Tagen wieder über Novalis sinniert wird, dann verrät sich darin womöglich weniger etwas über die deutsche Romantik als über eine erkenntnistheoretische Notlage, die am Beginn der fünften Corona-Welle eingetreten ist: Die Erklärungen sind am Ende.“

 

Peter Neumann war mir bisher nicht bekannt. Er gründete 2008 das „International Centre for the Study of Radicalisation“, dessen Direktor er bis 2018 war. Er ist ein Gegenwartsforscher mit neuen Ansätzen zur Terrorismusforschung, „insbesondere im Bereich der Radikalisierung und Rekrutierung über das Internet“ (Wikipedia).

 

Meines Erachtens müssen Erklärungen zur heutigen Querdenkerei dann auch in einem neuen und besonders eingreifenden „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas) gesucht werden, zu dem die Entstehung von zahllosen extrem selbstbezogenen Sozialräumen in den neuen Medien gehört. Hier tummeln sich Millionen, denen die angeblich rationale und aufgeklärte Welt vor allem der älteren Kulturgenerationen schnurz und schnuppe sind.

 

Aber: Das müssen nicht alles Idioten, Aufrührer und Neonazis sein. In diesen Gruppierungen sitzen sowohl Harmlose, Leichtgläubige und Ängstliche als auch brandgefährliche Gefährder der öffentlichen Ordnung, die auf Wirkung in größerem Maßstab aus sind und Gewalt nicht scheuen. Hier zu differenzieren und die Verantwortlichen zu identifizieren, dazu trägt die Arbeit Peter Neumanns bei. Auf ihn und auf Forschungen im hier angedeuteten Sinn sollten wir setzen. Und Volker Weidermann für diesen Beitrag danken.

 

P.S. Wenn Nietzsche 2022 auch irgendeine Art Jubiläumsjahr gehabt hätte, wäre er „dran“ gewesen.

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