Das Gedicht „Dichters Berufung“ (siehe meinen Beitrag Nietzsche 15) kommt heutigen Lesern heiter, spielerisch, ja sogar etwas absurdistisch vor. Ich glaubte, nach dem zweiten Lesen die Aussage im Prinzip so einigermaßen zu verstehen, aber es blieben irritierende Elemente.
So war es mir ein Rätsel, was das vom (Reim?-)Pfeil getroffene „Lacerten-Leibchen“ in der vierten Strophe bedeuten sollte: „Wie das zappelt, zittert, springt,/Wenn der Pfeil in edle Theile/Des Lacerten-Leibchens dringt!“.
„Lacerte“ ist ein selten gebrauchtes Wort für „Eidechse“. Mit ein wenig Gegoogel lässt sich natürlich eine Reihe möglicher Bedeutungen mit Bezug auf Nietzsche hervorzaubern, aber der eigentliche Zusammenhang wird daraus noch nicht klar:
- Die Eidechse ist auf antiken Statuen ein Attribut des Sonnengottes Apoll, der sie mit einem Pfeil bedroht (Apoll hat die Pythonschlange besiegt).
- Apollinisch-dionysisch ist ein Begriffspaar, das Nietzsche seit 1872 verwendet.
- Die reglose Eidechse ist ein Symbol für die Sonnenhitze des hohen Mittags.
- Der "Hohe Mittag" ist der Augenblick, in dem Zarathustra erscheint: „Der Mittags-Freund (…)/Um Mittag war’s, da wurde Eins zu Zwei…“ (siehe meinen Beitrag Nietzsche 13).
- Die sich schlängelnd bewegende Eidechse ist ein Symbol für den Penis.
- Der jugendliche, mit der Eidechse spielende Apollo ist ein sexuelles Bild für Knabenliebe und Onanie (über Nietzsches Sexualität gibt es ganze Bibliotheken).
- Lacerten finden sich auch in Goethes „Venezianischen Epigrammen“.
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Apollon Sauroktonos (Praxiteles)
Ich fand das alles sehr spannend, kam aber – auch mangels hinreichender Bildung in klassischer Mythologie und Philologie – nicht wirklich weiter.
Überwältigende Hilfe fand ich in dem Artikel der Schweizer Literaturwissenschaftlerin Giulia Baldelli: „Von Spechten und Lacerten: Nietzsches Auseinandersetzung mit der Epigrammtradition in ‚Dichters Berufung‘“ (20). Baldelli analysiert darin den Zusammenhang des Gedichts mit der Epigrammtradition des 19. Jahrhunderts und der Antike, insbesondere mit Goethes „Venezianischen Epigrammen“. Auch der Specht findet darin seine Erklärung, denn den hat Goethe schon für sein „spechtisches Wesen“ benutzt. Das Gedicht erweist sich als inhaltlich und formal hochkomplexe Abarbeitung Nietzsches an der Tradition, was auch darauf hinweist, welche Bedeutung er noch 1887 seinen Wurzeln in der Klassischen Philologie bei der Ausarbeitung seiner philosophischen Poetologie gegeben hat. Vor allem war er bemüht, sich gegen Goethe, den er durchaus bewunderte, abzusetzen. Darum fängt der Zyklus „Lieder des Prinzen Vogelfrei“ ja auch mit der kleinen Parodie „An Goethe“ an: Das Unvergängliche Ist nur dein Gleichniss! Gott der Verfängliche Ist Dichters Erschleichniss … Welt-Rad, das rollende, Streift Ziel auf Ziel: Noth – nennt’s der Grollende, Der Narr nennt’s – Spiel … Welt-Spiel, das herrische, Mischt Sein und Schein: - Das Ewig-Närrische Mischt uns – hinein! ... Es geht hier jetzt nicht darum, das alles nachzuvollziehen. Aber Baldelli hat mir sehr geholfen, das Nietzsche-Bild, das sich bei mir seit einigen Wochen ausformt, mit Argumenten zu untermauern. Es gibt dazu noch viele weitere Autoren, aber dass es ihr gelingt, an einem einzigen Gedicht so viel zu zeigen, hat meine Bewunderung: Giulia Baldelli, „Von Spechten und Lacerten: Nietzsches Auseinandersetzung mit der Epigrammtradition in ‚Dichters Berufung‘“, in: Christian Benne und Claus Zittel (Hg.), Nietzsche und die Lyrik. Ein Kompendium, Stuttgart 2017, 173-190.
Der Artikel ist in ACADEMIA abrufbar. |