Im ersten Absatz ihres neuen Romans „Kirio“ lädt Anne Weber
– beziehungsweise ihr geheimnisvoller Erzähler – den Leser zu einem Spielchen
ein:
„Wer ich bin? Vielleicht wird es sich im Laufe dieser
Geschichte herausstellen. Im Moment wüsste ich es selbst nicht mit Gewissheit
zu sagen. Aber ich habe die Hoffnung, einem Detektiv in die Hände gefallen zu
sein. Einem Leser mit detektivischem Gespür. Und am besten einem ebensolchen
Autor. Wenn ich Glück habe und sie es darauf anlegen, werden sie mir auf die
Spur kommen. Und am Ende werden wir alle wissen, mit wem oder was wir es zu tun
haben.“
Der Roman hat viele positive Rezensionen bekommen und stand
sogar auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis. Keiner der Rezensenten hat
Anne Webers Spielchen ernst genommen, und keiner hat sich etwas zum
wunderlichen Titelnamen einfallen lassen. Gewiss, das Buch lässt sich offenbar
auch so mit Gewinn und Vergnügen lesen. Aber die Geschichte vom sympathischen Sonderling
Kirio, der am liebsten auf den Händen läuft und sich Rad schlagend fortbewegt mit
der Klassifizierung als „modernes Märchen“
oder „Anknüpfung an die Tradition der Heiligenlegende“ ad acta zu legen,
greift dann doch zu kurz.
Ich gebe zu, es hat auch bei mir eine Weile gedauert, bis
der Groschen gefallen ist. Auf halbem Wege hatte ich eine Vermutung, aber da
sie meinen antiken Lieblingsgott betraf, der noch vor kurzem in meiner
Besprechung von Ann Cottens Versepos „Verbannt“ eine wichtige Rolle gespielt
hat, dachte ich nur: „Sie wird doch wohl nicht...?“
Doch, sie hat! Auf Seite 173/74 gibt der merkwürdige
Erzähler, der zwischendurch die Erzählrolle wiederholt auch an menschliche
Figuren abgegeben hat, den
soundsovielten Hinweis auf seine Identität. Immer wieder im Verlauf des Romans hat er
darauf verwiesen, dass er nicht menschlich sei. Es gebe ihn seit vielen tausend
Jahren. „Es könnte sein, dass ich ein Botschafter bin.“ Das steht schon auf
Seite 7. Und nun: Es gebe da einen
Verwandten, einen entfernten Vetter, und dann spricht er vom Planeten Jupiter.
Na also: Es geht tatsächlich um Merkur, den die griechisch-römische Antike zum
Götterboten gemacht hat.
Anne Weber benutzt den Hermes/Merkur-Mythos in einer
raffinierten Dopplung: Die Geschichte von Kirio ist ihre eigenzeitliche
Neuerzählung der antiken Sage (die am ausführlichsten in Homers „Hymnos an
Hermes“ dargestellt ist). Sie benutzt viele der Merkmale und Eigenschaften von
Hermes, verfremdet sie aber und das oft auf kuriose Weise. Sie schreibt sich
frei. Das muss großen Spaß gemacht
haben. “Die Welt nach links zu drehen, das wäre eine Beschäftigung, an der ich
dauerhaft Freude haben könnte” schrieb sie am Anfang ihres Buches “Besuch bei
Zerberus”. “Kirio” ist die auf links umgestülpte Geschichte von Hermes.
Für Zweifler hier
eine Reihe paralleler Elemente bei Homer und Weber:
Homer Weber
Geburt in einer
Höhle Geburt
im Autobahntunnel (16f.)
geflügelte Füße Handstand/Radschlagen (passim)
Hirtenflöte Flöte
(92ff.)
Heroldsstab Angelrute (27f.)
Geldbeutel Münzen
(149)
Rinderherde läuft rückwärts Umkehrung Hauseinsturz (182f)
Aber das Neuerzählen
allein genügt Anne Weber nicht. Sie hat in all ihren Romanen gezeigt, dass sie
ein besonderes Verhältnis zur Theorie hat: Literaturtheorie, Geschichtstheorie.
Ihre mysteriöse Erzählerfigur ist in gewisser Weise ebenfalls der Gott Merkur,
aber gleichzeitig auch die Personifikation des Mythos in seiner Funktion des
Umgangs mit der Wirklichkeit, also mehr ein abstraktes Prinzip. Dazu hat die
Autorin ihrem Erzähler einiges mitgegeben. Spielerisch! Amüsant!
Am Ende des
Romans fragt der Erzähler:
“Wie war es also
in Wirklichkeit? Ich erwäge kurz, als letzte Erzählerin die Wirklichkeit zu
befragen, doch wird mir schnell klar, dass sie die Einzige unter meinen
zahlreichen Bekannten ist, die über keinerlei Sprache verfügt. Nicht nur, dass
ihr keines der menschlichen Idiome zu eigen ist; sie verfügt auch nicht über
eine andere arteigene Sprache, wie etwa die Bienen […] Wie könnte sie da das
letzte Wort haben?” (S. 216).
Und dann bekommt
die Wirklichkeit doch das letzte Wort, nur dass es kein Wort ist, sondern ein
Vorgang in der Realität: Der Planet Merkur steht am nächsten zur Sonne. Er ist
am Abendhimmel nur schwer zu sehen und verschwindet schnell wieder. Der antike
Mythos ist eine Verbildlichung dieser astronomischen Wirklichkeit.
Kirio wird am
Ende vor dem Brüder-Grimm-Denkmal (!) auf dem Marktplatz in Hanau von sieben
Jugendlichen bedroht (apropos: das sind die sieben anderen Planeten). Ein alter
kleiner Mann mit rundem Kopf stellt sich schützend vor ihn:
“Es gibt ein
altes Kinderspiel, bei dem ein Turm aus Händen entsteht, von denen immer wieder
die unterste weggezogen und obenauf gelegt wird, schnell und schneller, und in
diesem Turm, der gleichermaßen
wächst und schwindet, liegt die Andeutung einer Unendlichkeit.
Der kleine Tänzer
stellte sich vor Kirio, Kirio stellte sich vor den kleinen Tänzer, der kleine…
Dann war der Kreis, in dem die beiden eben noch gefangen gewesen waren, leer.
Mind the gap!”
(S.216f.).
Der kleine Tänzer
ist die Sonne, um die sich der Merkur in hohem Tempo dreht. Merkur verschwindet im Schutz der Sonne.
Last but not
least: “Kirion” ist griechisch und heißt “Herr” in der Anrede einer Gottheit.
"Kirio" ist auf deutsch bei S. Fischer (Frankfurt am Main 2017, 217 Seiten, 20 Euro) und gleichzeitig auf französisch bei den Editions Seuil erschienen.
"Kirio" ist auf deutsch bei S. Fischer (Frankfurt am Main 2017, 217 Seiten, 20 Euro) und gleichzeitig auf französisch bei den Editions Seuil erschienen.
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