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Mittwoch, 29. Februar 2012

Poetologie des Blogs (2): Hilfe von Botho Strauß


Botho Strauß‘ Buch Vom Aufenthalt (2009) besteht aus kurzen reflektierenden Prosastücken von zwei Zeilen bis zwei Seiten Länge, manchmal kryptisch, manchmal klar, manchmal erzählend wie eine Szene aus einem Roman, manchmal autobiografische Splitter. Immer wieder wird deutlich, dass es ein Buch über das Altern ist, über das Vergehen von Zeit und den Umgang mit dem Faktum, dass der individuelle Vorrat von Zeit mit jedem Tag zu Neige geht oder anders herum gesagt, dass der individuelle Schatz an gelebter Zeit von Tag zu Tag wächst.

Die Form dieses Buches ähnelt der Form des Blogs: die kurzen Einträge, in denen der Schreibende eine persönliche Reflexion zu einer vergangenen oder gegenwärtigen Wahrnehmung, Überlegung, Erkenntnis in Bezug auf die Gesellschaft in der wir leben und das eigene Leben in ihr formuliert. Im Unterschied zum Blog geschieht dies oft programmatisch in gewählter, kryptischer, dunkler Sprache: ein gewollter Tribut an die Literarizität dieser Texte, ein romantischer Versuch, das Banale zu erhöhen.

Als ich vor einigen Jahren mit dem Bloggen anfing, habe ich es als einen Akt des Jungbleibens verstanden, als täglich vollzogene kleine Akte der wachen Wahrnehmung der Gesellschaft um uns herum, immer präsentiert aus einer persönlichen Perspektive heraus. Und so ganz falsch ist das ja auch nicht. Nur dass ich zunächst darauf bestanden habe, dass ich das sozusagen als Jugendlicher, als Junggebliebener tun wollte. Ich musste erst darauf hingewiesen werden, dass ich de facto aus einer Altmännerperspektive schreibe und das weder verbergen kann noch muss.

Es ist ein Fischen nach Zeit, ein Aussieben der Echtzeit, um an die kostbaren Zeitkörner heranzukommen, sie hin- und her zu wenden und in ihrem Glanz die Zeit doppelt und dreifach zu erleben, das Vergehen der Zeit auszubremsen, einen Aufenthalt im Prozess der Alterns zu erwirken: das ist auch der Sinn hinter dem Titel des Buches von Strauß.

Wahrscheinlich war Proust unter den Menschen einer der dankbarsten. Er hat das Gewesene nicht einfach unter Schluchzern begraben sein lassen. Er hat sich gesagt, ein solch wunderbares Geschenk, gelebt zu haben, lässt sich nicht stumm kassieren. Man muss es in allen Einzelheiten festhalten, Revue passieren lassen, es wiederum sichten, rekapitulieren, um sich erst richtig zu wundern. Er hat etwas getan, was jeder von uns tun müsste, um nicht am Einmaligen (des Lebens) zu krepieren.
Botho Strauß, Vom Aufenthalt, München 2009, 73

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: das Blog ist mein Fundbüro.

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