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Montag, 28. Juni 2021

Nietzsche (23): Nietzsche nicht wahr?

Bis zu Nietzsche und für viele bis heute galt und gilt die Philosophie als eine Denkdisziplin mit Wahrheitsanspruch. Ohne diesen müsste sie ja auch sinnlos sein, oder?


Bild: Paul Flora


Im Rahmen unseres Kollegendisputs über Nietzsche habe ich eine Mail von W.S. erhalten, in der er auf meinen Beitrag Nietzsche (20) vom 1. Juni eingeht. Ich zitiere aus dieser Mail:

 

“In je bijdrage van 1 juni behandel je N. als onbetrouwbare verteller die dus uit de verhalende literatuur in de filosofie is verzeild. Je demonstreert dit aan de hand van een analyse van Der Fall Wagner, waarvan je een fragment citeert. (…) De kwestie lijkt me niet zo zeer of deze visie op N. als onbetrouwbare verteller juist of plausibel is, maar — dit even aangenomen — of zij als argument pro of contra N.s filosofie opgevat kan worden. Mijn indruk is dat jij deze 'postmoderne narratieve' interpretatie van N.s geschrift(en) als een kwaliteit ziet en waardeert, er in ieder geval een nieuwe visie op het hele oeuvre mee geeft. Ik vraag me echter af of N. daarmee dan niet een zg. categoriefout gemaakt heeft door juist deze literaire techniek voor een filosofisch betoog te gebruiken. Want niets tegen de literaire kwaliteit van een filosofisch geschrift, maar wel als onbetrouwbaarheid ervan het kenmerk en de bedoeling is, niet waar? Wat in de literatuur een narratieve kunstgreep is, kan in een filosofische uiteenzetting wel heel dysfunctioneel zijn. Het lijkt me dus zaaks om de meerwaarde van deze 'techniek' duidelijk te maken.”

 

Der “Kategoriefehler”, den W.S. hier Nietzsche anlastet, besteht in der Vermengung von Literatur als Kunst und Philosophie als Wahrheitssuche. Implizit steht hier also, dass diese Vermengung unzulässig ist. „Unzuverlässigkeit“ als literarische Technik hätte demnach in der Philosophie nichts zu suchen, ja sie wäre „dysfunktional“.


Des Weiteren gruppiert W.S. mich in diesem Beitrag als Anhänger der „postmodernen narrativen Interpretation“ von Nietzsches Werken ein, also einer vornehmlich französischen Philosophenschule der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber so verstehe ich den Standort nicht, den ich mir im Verlauf meiner Blogbeiträge erarbeitet habe. Ich habe im Gegenteil mehrfach darauf verwiesen, dass ich Nietzsche als Denker und Autor des 19. Jahrhunderts verstehen möchte und dass darin seine bewusste Nachfolge der deutschen Frühromantik eine große Rolle spielt, nicht eine beliebige Postmoderne, sondern die originäre Moderne in Nietzsches Überbietung von Friedrich Schlegel, Fichte und Novalis (vgl. meinen Beitrag Nietzsche 18 vom 26. November 2020).


Zu diesem Schluss kommt auch Karl-Heinz Bohrer in seinem Werk „Die Kritik der Romantik“ (1989). Er beendet sein Nietzsche-Kapitel in diesem Buch mit den Sätzen:

 

„Eine moderne Ästhetik in nuce lässt sich in Nietzsches fortschreitendem Romantikverständnis erkennen. Als zentrale Kategorie gegen den positivistischen Wirklichkeits-Begriff tauchen auf: Augenblick, Plötzlichkeit, Rätsel. Dabei ist die Strategie einer neuen Kulturkritik erkennbar: Das philosophische Paradigma wird ersetzt durch das ästhetische, das sich argumentativ unüberholbar gibt. Damit hat der Prozess des Ästhetischwerdens des Diskurses, der die romantische Revision des Wirklichkeits-Begriffs bedeutet, eine Beschleunigung erfahren.“ (Karl-Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik, Frankfurt am Main 1989, 94)

 

Es geht mir nicht um eine heutige Interpretation von Nietzsche im Rahmen von Postmodernismus und gefährlichem Populismus, sondern um sein Verständnis im Rahmen seiner Zeit. Und dort geschieht in den 70er/80er Jahren des 19. Jahrhunderts etwas radikal Neues. Nietzsche reduziert die Welt auf das, was sie für uns nur sein kann: kein Gott, kein An Sich, keine positivistische Wirklichkeit, sondern nur unsere denkende und kreativ schaffende Anschauung, unsere Kunst und unser Leben. Philosophie mit Hand und Fuß, mit Kopf und allen Sinnen.

 

“Das – der Wahrheit Freier?

Nein! Nur Narr! Nur Dichter!

Nur Buntes redend.

Aus Narren-Larven bunt herausschreiend,

herumsteigend auf lügnerischen Wort-Brücken,

Auf buntem Regenbogen

Zwischen falschen Himmeln

Und falschen Erden,

Herumschweifend, herumschwebend, -

Nur Narr! Nur Dichter!“

 

(Dionysos-Dithyramben 6, 377f.)

 

Und insofern kann er keinen Kategoriefehler mehr machen zwischen Kunst und Philosophie, denn die Philosophie ist nur als Kunst übriggeblieben. Die Kunst ersetzt die Metaphysik, die Kategorien der Kunst sind die einzigen, mit der die menschliche Existenz zu ergreifen, begreifen und zu vermitteln ist:

 

„Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.“ (Nachgelassene Fragmente 13, 521)

 

Und darum kann auch die „Unzuverlässigkeit“ als literarisch-philosophische Technik ein Mehrwert in der Erkenntnis unserer Welt sein, denn Nietzsche ist „wahrer“ als alle Philosophie vor ihm. Er ist allerdings auch, wie Bohrer sagt, „argumentativ unüberholbar“.

 

 

Donnerstag, 24. Juni 2021

Robert Graves - der kämpfende Pazifist

Bisher habe ich jedem, der etwas Authentisches zum 1. Weltkrieg lesen wollte, zu Ernst Jünger geraten („In Stahlgewittern“, „Das Wäldchen 125“). Bei Jünger muss man allerdings seine Kriegsverherrlichung und Überhöhung des Kampfes in Kauf nehmen. Damit haben vor allem Niederländer ihre Probleme (Franzosen übrigens deutlich weniger). Anders als in Frankreich ist Jünger in den Niederlanden ein völlig ignorierter Schriftsteller.


Nun habe ich vor ein paar Wochen irgendwo einen Hinweis auf die Autobiografie des Engländers Robert Graves (1895-1985), „Good-Bye to All That“, bekommen. Schon merkwürdig, dass die mir bisher entgangen war, denn es handelt sich um eine der bemerkenswertesten englischen Autobiografien des 20. Jahrhunderts. Graves veröffentlichte sie mit 34 Jahren, hatte großen Erfolg damit und verließ mit dem Honorar auf immer England (daher der Titel), um auf Mallorca als freier Schriftsteller zu leben.




Die ersten Kapitel behandeln seine Kindheit und Schulzeit. Eine Besonderheit ist, dass seine Mutter aus der deutschen Familie von Ranke kam und einer ihrer Vorfahren der bekannte Historiker Leopold von Ranke war. Robert ist als Kind in den Ferien viele Male in Bayern in deutschen Adelsfamilien gewesen. Er nannte sich auch Von Ranke-Graves und hatte damit während des Krieges immer wieder Probleme, bis hin zum Vorwurf, ein deutscher Spion zu sein.


Der Leser erhält einen schonungslosen Blick auf das englische Upper-Class-Schulsystem, die Offiziersausbildung der britischen Armee und den Grabenkrieg in Frankreich, von dem der größte Teil des Buches handelt. Der Dichter und Pazifist Graves ging praktisch direkt von der Schule in den Krieg, an dem er jahrelang als Offizier teilgenommen und den er nur knapp und mit schweren Traumata überlebt hat. Gelebte Widersprüche in Kriegszeiten. Ich habe nirgendwo Intensiveres darüber gelesen als in diesem Buch.

 

Ein paar Bemerkungen zur Editions- und Übersetzungsgeschichte:

 

Die englische Erstausgabe erschien 1929 und hatte im selben Jahr mehrere Auflagen. Ich habe das Buch in dieser Fassung gelesen (ist in der UB Groningen vorhanden). 1959 erschien eine vom Autor überarbeitete Fassung, in der es heute und in den Übersetzungen meistens angeboten wird. Diese ist, nicht unbedingt zum Wohle des Buches, ein wenig bereinigt worden, unter anderem wohl auch von deutschen Elementen. Ich habe das nicht nachgeprüft. Die deutsche Übersetzung ist unter dem Titel „Strich drunter“ erschienen (Rowohlt Jahrhundert 1990); sie beruht auf der Version von 1959. Die niederländische Ausgabe unter dem Titel „Dat hebben we gehad“ erschien zuletzt 2014, wahrscheinlich auch in der Version von 1959.

 

In den heutigen Ausgaben fehlen die ersten beiden Seiten, die mir als Einleitung einer Autobiografie gerade viel Freude bereitet haben. Ich drucke sie hier als Foto ab:





Dienstag, 8. Juni 2021

Nietzsche (22): Nietzsche im Krieg von 1870 – Leichenfelder und Lazarette

Hätte Nietzsche nicht 1869 für seine Baseler Professur mit 25 Jahren seine preußische Staatsbürgerschaft aufgegeben, wäre sein Werk vielleicht nie entstanden: Nach der französischen Kriegserklärung an Preußen vom 19. Juli 1870 wollte er in patriotischer Hochstimmung seinen Beitrag leisten, wurde aber nicht zur kämpfenden Truppe zugelassen. Sonst wäre er als ausgebildeter Kanonier von Anfang an dabei gewesen. Ersatzweise konnte er Felddiakon werden.

 

Die Felddiakonie war eine noch ganz neue Institution zur Pflege von Verwundeten auf dem Schlachtfeld und in Lazaretten, gegründet von Johann Heinrich Wichern. Sie war unter dem Eindruck des massenhaften, tagelangen und grauenvollen Sterbens von Verwundeten in und nach der Schlacht von Solferino im Sardinischen Krieg 1859 entstanden. Die Ursache dafür waren die schrecklichen Verwundungen, die Soldaten seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts durch Verbesserungen der Waffentechnik erlitten. Die Opferzahlen in militärischen Konflikten stiegen rasant an (Krimkrieg 1853-1856, Sardinischer Krieg 1859, deutsch-dänischer Krieg 1864, deutscher Krieg 1866, deutsch-französischer Krieg 1870/71).

 

Die Aufgaben der Felddiakonie waren eine Mischung aus Pflege und Trostspendung. Zu Anfang des Krieges wurden die Anwärter für dieses Amt in zweiwöchigen Kursen auf ihre Aufgabe vorbereitet und mit einer Tasche mit Verbandsmaterial in die Schlacht geschickt. Da Nietzsche diesen Kurs noch in Erlangen absolvieren musste, kam er erst drei Wochen nach der großen Schlacht von Woerth vom 6. August zum Einsatz. Zusammen mit seinem Freund Mosengel hatte er u.a. die Aufgabe, Geld für bereits im Einsatz befindliche Felddiakone im elsässischen Kriegsgebiet zu verteilen. Dieser Einsatz dauerte vom 27. August bis zum 2. September. Er begann in Weißenburg, führte über das Woerther Schlachtfeld, dann nach Hagenau, Luneville, Nanzig, Metz bis Ars sur Moselle. Zwischen den Orten verkehrten Züge, aber viele Routen mussten in erschöpfenden Fußmärschen zurückgelegt werden, wobei die genauen Standorte der zu erreichenden Felddiakone oft nicht bekannt waren. Das Wetter war Ende August von andauerndem Regen bestimmt.

 

Insbesondere das Schlachtfeld von Woerth muss für Nietzsche eine furchtbare Erfahrung gewesen sein. Die Schlacht lag schon drei Wochen zurück, aber in Woerth und den umliegenden Dörfern und Feldern waren etwa zwanzigtausend Soldaten und Zivilisten gefallen und viele tausend Pferde umgekommen. Die Verwundeten waren im Laufe der Augusttage in Lazarette geschafft worden, aber Tausende zerrissener Leichen und Pferdekadaver lagen noch verwesend herum, und die Dörfer waren durch Artilleriebeschuss verwüstet.

 

Die Franzosen verfügten in diesem Krieg über das durchschlagkräftige und weittragende Chassepotgewehr, das große Wunden riss, die Preußen dagegen hatten die bessere Artillerie und teilweise modernere Gefechtstaktiken. Der Angriff der französischen Kürassierbrigade bei Woerth zum Beispiel, einer Elitetruppe, wurde von der preußischen Infanterie abgewehrt, ohne dass ein einziger säbelschwingender Kürassier die feindlichen Linien erreicht hätte. 800 von 1200 Reitern und fast alle Pferde kamen bei dieser Attacke um.

 

Der Kürassierangriff bei Wörth am 6. August 1870

In der kollektiven Erinnerung lebt diese Schlacht noch heute intensiv, und es sollte letztes Jahr im Elsass zahlreiche Gedenkveranstaltungen zum 150. Jahrestag geben, die aber größtenteils wegen Corona ausfallen mussten. Insgesamt lagen die Opferzahlen in diesem Krieg bei 190.000 Gefallenen und 230.000 Verwundeten.

 

Nietzsche und Mosengel zogen durch diese Horrorlandschaften der Zerstörung und Verwesung hindurch, von Lazarett zu Lazarett, erschöpft, durchnässt, deprimiert. Direkten Kämpfen sind sie wohl nicht begegnet. In Ars sur Moselle bei Metz erhielten sie den Auftrag, schwerverwundete Soldaten im Güterzug nach Karlsruhe zu bringen. 

 

Zurück in Deutschland berichtete er Richard Wagner von seinen Erlebnissen:

 

Erlangen, Sonntag

[11. September 1870]

 

Lieber und verehrter Meister. (…) Meine Hilfstätigkeit hat einen einstweiligen Abschluss gefunden, leider durch Krankheit. Meine mannigfachen Aufträge und Verpflichtungen führten mich bis in die Nähe von Metz; es wurde mir und meinem – sehr bewährten – Freunde Mosengel möglich, den größten Teil unserer Aufgaben mit Glück zu erledigen. In Ars sur Moselle übernahmen wir die Pflege von Verwundeten und kehrten dann mit diesen nach Deutschland zurück. Dieses dreitägige und dreinächtige Zusammensein mit Schwerverwundeten war der Höhepunkt unserer Anstrengungen. Ich hatte einen elenden Viehwagen, in dem 6 Schwerleidende lagen, allein während jener Zeit zu besorgen, zu verbinden, zu verpflegen usw. Alle mit zerschossenen Knochen, mehrere mit 4 Wunden; dazu konstatierte ich bei zweien noch Wunddiphteritis. Dass ich es in diesen Pestdünsten aushielt, selbst zu schlafen und zu essen vermochte, erscheint mir jetzt wie ein Zauberwerk. Kaum aber hatte ich meinen Transport an ein Karlsruher Lazarett abgeliefert, stellten sich auch bei mir ernstliche Zeichen von Unwohlsein ein. Mit Mühe kam ich nach Erlangen, um meinem Vereine über verschiedenes Bericht zu erstatten. Dann legte ich mich zu Bett und liege bis jetzt. Ein tüchtiger Arzt erkannte als mein Leiden einmal eine sehr starke Ruhr und sodann Rachendiphteritis (…) sie haben so schwächend und entkräftigend auf mich in kurzer Zeit gewirkt, dass ich zunächst meine Hilfstätigkeit aufgeben muss (…). So bin ich nach einem kurzen Anlauf von 4 Wochen, ins allgemeinere zu wirken, bereits auf mich selbst wieder zurückgeworfen – recht elend!

Über die deutschen Siege möchte ich kein Wort sagen: das sind Feuerzeichen an der Wand, allen Völkern verständlich. (…)

Friedrich Nietzsche, Briefe, Berliner Ausgabe 2013, S.96f.

 

Nietzsche war gerade einmal zehn Tage im Einsatz gewesen. An eine Rückkehr an den Kriegsschauplatz war nicht zu denken. Er fuhr schließlich in seine Heimatstadt Naumburg und später zurück nach Basel. Der Krieg war für ihn aus, und das spätere Ergebnis, die allseits bejubelte Gründung des Deutschen Reichs, hat ihm in keiner Weise gefallen. Am 18. Januar 1871 wurde in Versailles der deutsche Kaiser proklamiert. Elsass und Lothringen wurden annektiert.

 

Bald darauf beschreiben ihn Freunde wieder als gesunden, kräftigen Mann. Bei aller Entsetzlichkeit des Gesehenen, konnte von einer nachwirkenden traumatischen Erfahrung keine Rede sein. Erst in den achtziger Jahren bekommt er neue ernsthafte gesundheitliche Probleme.

Montag, 7. Juni 2021

Nietzsche (21): Was will ich für Nietzsche sein: Anwalt, Arzt oder Ankläger? Aufgaben für die neue Lesergeneration im 21. Jahrhundert

Eine der besten Einführungen in Nietzsches Werk für heutige Leser ist Christian Niemeyers Buch „Nietzsche. Werk und Wirkung eines freien Geistes“ (Darmstadt 2013). Es bietet auf 200 Seiten in gut lesbarer Form einen Überblick zu den Hauptthemen und -problemen von Nietzsches Werken und ihren Nachwirkungen im 20. Jahrhundert.

 

Niemeyers neuestes Buch über Nietzsche widmet sich den qualvollen Folgen der Syphilis, die sich Nietzsche schon 1865 im Bordell zugezogen haben soll, und dem kulturhistorischen Kontext dazu: „Nietzsches Syphilis und die der Anderen. Eine Spurensuche“ (2020, E-book UB Groningen 2021). Ihm geht es dabei um die jahrhundertelangen gravierenden kulturellen Folgen einer nicht behandelbaren Krankheit und eben um die konkreten Folgen für Nietzsches Leben, Werk und seine Beurteilung durch die Nachwelt. Es ist allerdings, soweit ich sehe, unter medizinischen Fachleuten unserer Zeit nicht nur nicht deutlich, sondern sogar eher zweifelhaft, ob Nietzsche wirklich Syphilis gehabt hat. Die Gründe für die Unzugänglichkeit vor allem einiger Spätwerke müssen wohl in den Texten und nicht in Krankheiten gesucht werden. Oder ist da noch etwas anderes?

 

Niemeyer plädiert jedenfalls entschieden für die Einbeziehung der biographischen Besonderheiten in die Analyse der Werke Nietzsches. Dazu müssten dann meines Erachtens auch die kurzen, aber dramatischen Erfahrungen Nietzsches als Krankenpfleger während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 gehören. In den mir bekannten Biographien gibt es darüber nur wenig Aufschlussreiches. Ich will versuchen, dem weiter nachzugehen (siehe den folgenden Beitrag).

 

Eine psychologische, historische und literarische Traumaforschung hat sich erst seit Kurzem entwickelt. Sie scheint noch nicht viel weiter gekommen zu sein als zur Benennung ihrer Themen und Beispiele (Günter H. Seidler und Wolfgang U. Eckart (Hg.), „Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung“ (Gießen 2005). Wenn man sich das Inhaltsverzeichnis dieses Buches ansieht, dessen Beiträge von Ärzten, Therapeuten, Medizinhistorikern und Literaturwissenschaftlern stammen, ergeben sich interessante Verbindungen zwischen literarischen Texten und traumatischen Lebenserfahrungen von Autoren. Es geht um Kriegserfahrungen, Katastrophen, Krankheiten, Unfälle, Gewaltverbrechen, Vergewaltigungen. Der Fall Nietzsche kommt darin nicht vor. Dagegen wird hier von Harald Weilnboeck vor allem an Ernst Jünger exemplifiziert, was traumatische Dissoziation in literarischen Werken seiner Meinung nach bedeuten kann. Er hat seine Habilitation dazu geschrieben: „Borderline literarische Interaktion am Beispiel der frühen Kriegsschriften Ernst Jüngers“, 2005. Das ist für mich sehr spannend, zumal er auch Karl Heinz Bohrer mit seiner „Plötzlichkeit“ sozusagen als Geschädigten in zweiter Generation darstellt. Intensiveres Nachlesen bei Weilnboeck hat mich allerdings inzwischen zu der Überzeugung gebracht, dass seine Methode hyperkomplex, theorielastig und in ihren Ergebnissen abstrus ist.

 

Abschließend und resümierend für heute: Nietzsches Lebensführung ist von Unstetigkeit, ständigem Leiden, Ortswechseln und Bindungsunfähigkeit bestimmt. Sein geniales Werk bringt er zeitweise unter Qualen hervor. Für mich ist es noch nicht deutlich, ob und welche inhaltlichen und formalen Qualitäten seines Werks in Bezug zu diesem Leiden gesetzt werden können. Aber dass es hier Verbindungen gibt, lässt sich jedenfalls nicht ausschließen. Auch in diesem Falle bedeutet das keineswegs, dass seine Ideen und Einsichten vor dem Hintergrund seines Leidens in irgendeiner Weise entwertet werden müssten. Schreiben geschieht immer aus Leiden-Schaft.




Anwalt, Arzt oder Ankläger? Naja: es gibt ja so eine Art Prozess gegen Nietzsche in der internationalen Forschung. Niemeyer plädiert dafür, Nietzsche vor den ideologischen Vereinnahmungen des 20. Jahrhunderts in Schutz zu nehmen und ihn den neuen Lesergenerationen des 21. Jahrhundert ans Herz zu legen, mit dem Aufruf, ihn sorgfältig zu lesen und als Anwalt für ihn aufzutreten. In der Tat: neue, junge Leser und Leserinnen könnten seine Anwälte in unserer Zeit sein! Gefahr geht von ihm nicht aus. Die Gefahren dieses Jahrhunderts kommen ganz anders zustande.

Dienstag, 1. Juni 2021

Nietzsche (20): Textperspektiven bei Nietzsche - ein kleines Experiment

Ich schlage einen Perspektivenwechsel vor: Lasst uns Nietzsches Werke nicht aus philosophischer, historischer oder gegenwartskritischer Sicht lesen. Machen wir ein kleines Experiment: Lesen wir Nietzsche einmal als Germanisten und Literaturwissenschaftler…



Was stellen wir mit unserer langjährigen Schulung in der Analyse von Form und Inhalt von Texten dann schon sehr bald fest? Ja, genau: Nietzsche ist eine Art unzuverlässiger Erzähler. Er schreibt mal aus dieser, mal aus jener Perspektive, und wir wissen nicht, was er denn nun für richtig oder falsch hält. Bei Romanen geraten wir in solch einem Fall in professionelle Erregung mit dem Ziel, Form und Inhalt - je komplexer, desto besser - miteinander in Einklang zu bringen, auf weniger Gelungenes hinzuweisen und Vorgänger und Verwandtes in der Literatur zu identifizieren. 

Bei Nietzsche aber haben wir immer den Philosophen gesucht, seine eindeutig ideologische Systematik und die mutmaßlichen Folgen für das deutsche und internationale Unheilskontinuum! 

Die geniale Konstruktion, die Multiperspektivität und die sprachliche Brillianz, die wir bei der „schönen“ Literatur so preisen, muss beim „hässlichen“ Nietzsche außen vor bleiben. Was aber, wenn dort sich der „wahre“ Nietzsche befindet?

Also noch einmal: Betrachten wir Nietzsche versuchsweise mal als Erzähler! Wie macht er seine Texte? Was will er damit? Welche formalen Mittel benutzt er, und wie entwickeln sie sich? Wo hat er sie her? Was zeigt und was verbirgt er von seinen Vorbildern? Was ist neu bei ihm? Wieso kann man ihm nicht so begegnen wie den Philosophen vor ihm?

Ich probiere das heute an einem ganz kleinen Textbeispiel zu zeigen: dem Vorwort zu „Der Fall Wagner“. Neben „Götzendämmerung“ war „Der Fall Wagner“ eines der letzten beiden Werke, die Nietzsche 1888 in Turin noch bei klarem Verstand geschrieben und herausgegeben hat. Ihm war in dem Jahr klar, dass er sein angestrebtes Hauptwerk nicht mehr würde schreiben können. Seine Schwester hat es dann nach ihrem Gutdünken später unter dem Titel „Der Wille zur Macht“ aus seinem Nachlass zusammengestellt. Dabei handelte es sich um ihre eigene verzerrende und verfälschende Zusammenstellung seiner Texte, die das Bild Nietzsches in der Öffentlichkeit auf Jahrzehnte bestimmen sollte. 

Aber die beiden kleinen authentischen Schriften aus dem Jahr 1888 enthalten die Essenz von Nietzsches Denken und geben einen Eindruck von seiner Methode im Denken, Schreiben und Empfinden.

Nietzsche hatte sich zunächst jahrelang zutiefst mit der Ideenwelt und Musik Richard Wagners verbunden und auch persönlich mit Wagner und seinem Kreis verkehrt, um dann schließlich radikal mit ihm und seiner Welt zu brechen. In „Der Fall Wagner“ (KSA 6, 9-53) gibt er fünf Jahre nach Wagners Tod einen Rückblick auf dieses Verhältnis und stellt es in den größeren kulturellen Zusammenhang seiner Zeit, den er als „Dekadenz“ interpretierte.

Das Vorwort ist kurz genug, um es hier vollständig abzudrucken und mit Blick auf die „Erzählperspektive“, um die es mir hier geht, nachzuerzählen. Hier ist der Text:

Ich mache mir eine kleine Erleichterung. Es ist nicht nur die reine Bosheit, wenn ich in dieser Schrift Bizet auf Kosten Wagners lobe. Ich bringe unter vielen Späßen eine Sache vor, mit der nicht zu spaßen ist. Wagner den Rücken zu kehren, war für mich ein Schicksal; irgend etwas nachher wieder gernzuhaben, ein Sieg. Niemand war vielleicht gefährlicher mit der Wagnerei verwachsen, niemand hat sich härter gegen sie gewehrt, niemand sich mehr gefreut, von ihr los zu sein. Eine lange Geschichte! – Will man ein Wort dafür? – Wenn ich Moralist wäre, wer weiß, wie ich's nennen würde! Vielleicht Selbstüberwindung. – Aber der Philosoph liebt die Moralisten nicht... er liebt auch die schönen Worte nicht...

Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich? Seine Zeit in sich zu überwinden, »zeitlos« zu werden. Womit also hat er seinen härtesten Strauß zu bestehn? Mit dem, worin gerade er das Kind seiner Zeit ist. Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent: nur daß ich das begriff, nur daß ich mich dagegen wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen.

Was mich am tiefsten beschäftigt hat, das ist in der Tat das Problem der décadence – ich habe Gründe dazu gehabt. »Gut und Böse« ist nur eine Spielart jenes Problems. Hat man sich für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man auch die Moral – man versteht, was sich unter ihren heiligsten Namen und Wertformeln versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die große Müdigkeit. Moral verneint das Leben... Zu einer solchen Aufgabe war mir eine Selbstdisziplin vonnöten – Partei zu nehmen gegen alles Kranke an mir, eingerechnet Wagner, eingerechnet Schopenhauer, eingerechnet die ganze moderne »Menschlichkeit«. – Eine tiefe Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche, Zeitgemäße: und als höchsten Wunsch das Auge Zarathustras, ein Auge, das die ganze Tatsache Mensch aus ungeheurer Ferne übersieht – unter sich sieht... Einem solchen Ziele – welches Opfer wäre ihm nicht gemäß? welche »Selbst-Überwindung«! welche »Selbst-Verleugnung«!

Mein größtes Erlebnis war eine Genesung. Wagner gehört bloß zu meinen Krankheiten.

Nicht daß ich gegen diese Krankheit undankbar sein möchte. Wenn ich mit dieser Schrift den Satz aufrechterhalte, daß Wagner schädlich ist, so will ich nicht weniger  aufrechthalten, wem er trotzdem unentbehrlich ist – dem Philosophen. Sonst kann man vielleicht ohne Wagner auskommen: dem Philosophen aber steht es nicht frei, Wagners zu entraten. Er hat das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein – dazu muß er deren bestes Wissen haben. Aber wo fände er für das Labyrinth der modernen Seele einen eingeweihteren Führer, einen beredteren Seelenkündiger als Wagner? Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt: man hat beinahe eine Abrechnung über den Wert des Modernen gemacht, wenn man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im klaren ist. – Ich verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt: »ich hasse Wagner, aber ich halte keine andere Musik mehr aus«. Ich würde aber auch einen Philosophen verstehn, der erklärte: »Wagner resümiert die Modernität. Es hilft nichts, man muß erst Wagnerianer sein...« 

 

Der Text beginnt unvermittelt mit dem „Ich“ des schreibenden Autors, der eine scheinbar unerhebliche und in ihrer Kontextlosigkeit zunächst unverständliche Aussage trifft: „Ich mache mir eine kleine Erleichterung.“ In den nächsten beiden Sätzen bringt er „Bosheit“ und „Späße” ins Spiel, kündigt aber an, dennoch über eine ernsthafte Sache schreiben zu wollen, mit der „nicht zu spaßen“ sei. Erst dann nennt er sein Thema: Wagner und sein Verhältnis zu ihm, „eine lange Geschichte“, (die in seiner Zeit dem gebildeten Publikum wohlbekannt war).

Auf der Suche nach einer treffenden Charakterisierung dieser Geschichte in einem Wort spaltet das Ich sich in einen imaginierten Moralisten und den Philosophen auf: der Moralist käme auf das Wort „Selbstüberwindung“, der Philosoph in ihm mag das Wort jedoch nicht.

 

Nach dem ersten Absatz haben wir also drei sich teilweise überschneidende und widersprechende Textperspektiven des „Ich“ vor uns sowie das Thema, um das es gehen soll.

 

Im zweiten Absatz wird das Verhältnis zwischen dem Ich und dem Philosophen, der Teil dieses Ichs ist, problematisiert: Der Philosoph will „zeitlos“ werden (ewig Gültiges sagen?). Dabei steht ihm das Ich im Wege, das – ebenso wie der thematisierte Wagner – ein „Kind dieser Zeit“ ist, ein – mit den Worten des Ich – décadent. Allerdings verfügt das Ich über Selbstreflexion und hat dieses erkannt und will es bekämpfen. Der Philosoph ist sein Mittel dazu.

 

Der dritte Absatz erklärt, was alles an der „décadence“ falsch ist und dass es dabei nicht nur um Wagner, sondern um „die ganze moderne Menschlichkeit“ gehe. Das Ich müsse die Selbstdisziplin finden, gegen dieses gehäufte „Kranke“ in seiner Zeit und also auch in sich selbst vorzugehen. Das höchste Mittel hierzu ist ihm „das Auge Zarathustras“, das „die ganze Tatsache Mensch“ aus höchster Höhe unter sich sieht. Diese Perspektive möchte das Ich erreichen, und da kommt noch einmal „die Selbst-Überwindung“ und „Selbst-Verleugnung“ des ungeliebten, weil auch zu überwindenden Moralisten ins Spiel. Die Genesung von all dem Kranken der Gegenwart, von dem die „Wagnerei“ ja nur ein Teil ist, scheint dem Ich gelungen zu sein. Der Philosoph in ihm kann allerdings noch nicht auf Wagner verzichten, denn Wagner ist der Kern der Modernität. Ohne Wagner ist sie nicht zugänglich. Er muss erst überwunden werden, um sie überwinden zu können.

 

Die Haupttextperspektive ist das „Ich“ Friedrich Nietzsche. Im Vorwort spaltet sich dieses Ich in mehrere sich widersprechende Teilmengen auf, deren Widersprüchlichkeit und Notwendigkeit vom Ich ausdrücklich bestätigt wird: das Ich, den Moralisten, den Philosophen, den zeitgebundenen Erzähler, den gleichfalls zeitgebundenen Philosophen, den über der Zeit stehenden Philosophen, Zarathustra, dem Auge von ganz oben, den kranken und den genesenen Erzähler.

 

Es ist deutlich, dass es aus jeder dieser Perspektiven eine andere Erzählung geben muss und dass all diese Erzählungen ihr Recht haben, das ihnen vom „Ich“ auch ausdrücklich zugestanden wird. Dies ist die Methode Nietzsche. Da dies das Vorwort für den darauf folgenden, formal und inhaltlich multiplen Text „Der Fall Wagner“ ist, darf man erwarten, dass die angekündigte Vielfalt dort wiederkehrt.

 

Das zu zeigen mache ich hier und heute noch nicht zu meiner Aufgabe.

Christian Krachts "Eurotrash", ein wunderbarer Roman

Man könnte diesen Roman ein Roadmovie nennen, und zur Verfilmung eignet er sich auch ganz ausgezeichnet. Die Ich-Figur heißt Christian Kracht. Inwieweit sie identisch ist mit dem Autor, ist eine ergiebige Frage, die man sich durchaus stellen darf. Genauso, inwieweit es sich hier um ein autobiografisches Buch handelt oder nicht. Alle vorkommenden Namen, die der neugierige Leser googelt, führen zu real existierenden Personen und Umständen. Wir tauchen auch empfindlich tief in die deutsche Nachkriegsgeschichte ein. Und in die schweizerische. Das vorgeschaltete Motto von Jorge Luis Borges macht auch etwas deutlich: “Wenn du Deutschland liebst, dann besuche es lieber nicht.“

 


Christian Kracht erzählt von einem Ausflug „Christian Krachts“ mit seiner dementen (?) 80jährigen Mutter im Taxi durch die Schweiz. Das Buch ist ausgesprochen unterhaltsam, schräg und voller Überraschungen und der konzeptionell interessanteste Roman, den ich seit Jahren gelesen habe. 


„Die Mutter ist die exzentrischste, witzigste, wunderbarste Figur, von der Christian Kracht bislang erzählt hat“ urteilt Tobias Rüther in seiner Rezension vom 28.2.2021 in der FAZ. Aber es ist ganz offenbar auch ein Buch, in dem es um mehr als um eine Mutter-Sohn-Beziehung geht. Der tote Vater, Top-Manager im Axel-Springer-Verlag, geistert ausführlich herum. Und das Leben und Schreiben des Autors Christian Kracht ist letztlich das Hauptthema.

 

In seiner Rezension gibt Rüther auch einen guten analytischen Ansatz zur Erzählmethode von Kracht, zu der sich weiteres Nachdenken lohnt:

 

“Man liest in diesem Buch von der Geschichte eines Mannes, der sich eine andere Geschichte in einem anderen Buch ausgedacht hat. Und der sich permanent neue Geschichten ausdenkt. Was hier passiert, zwischen den beiden Romanen, ist die perfekte Trennung von Autor und Autor. Das erzeugt einen Zwischenraum, in dem die erzählerischen Dimensionen ausgehebelt sind. Und in diesem Dazwischen bewegt sich dieses phänomenale Buch“.

 

Warum erinnert mich das irgendwie an Nietzsche?


Christian Kracht, Eurotrash, 3. Auflage 2021, Kiepenheuer&Witsch, 224 Seiten, 22 Euro