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Samstag, 29. September 2012

Entdeckungen (01): Die Affen des Gabriel Cornelius Ritter von Max

In dieser Serie stelle ich Kunstwerke, Bücher, Sachverhalte vor, auf die ich in den Medien oder in der Realität aufmerksam geworden bin und die mir bisher noch nie begegnet sind. Und es muss irgendetwas Besonderes daran sein, das mich fasziniert.

Heute das erste Beispiel: In einem Artikel über die Ausstellung zur Schwarzen Romantik im Frankfurter Staedel wurde Gabriel von Max (1840-1915) erwähnt. Ich habe im iPad nachgeschaut, wer das denn wohl ist und sah, dass dieser zu seiner Zeit sehr bekannte österreichische Maler neben esoterisch guckenden Frauenporträts außerordentlich viele Affenbilder gemalt hat.

 
 
 


Diese Affen haben’s mir angetan. Schaut man sie sich näher an, merkt man wie menschlich sie gemalt sind. Der Maler lässt sie in allerlei Situationen des menschlichen Alltags figurieren, aber ich glaube, es sind vor allem die Augen, die den Effekt erzeugen.
Gabriel von Max wohnte in einer Villa am Starnberger See und hielt sich dort eine ganze Affenherde. Was mögen wohl die Nachbarn gesagt haben? Er war auch Wissenschaftler, Sammler und Darwinist. Seine Liebe zu den Affen muss man offenbar von Darwins Theorien herleiten, die in der Aussage popularisiert (und dämonisiert) wurden, dass der Mensch vom Affen abstamme.

Im folgenden YouTube-Film sind Dutzende Bilder von Max zu sehen. Mindestens eines der Frauenporträts hat es in die Frankfurter Ausstellung zur Schwarzen Romantik geschafft. Kleines Gesellschaftsspiel: Ratet mal, welches!

Die Affen beginnen ab Minute 7:00:

 

Freitag, 28. September 2012

Hans Ulrich Gumbrecht

Die Stille der Welt nach Hitler: Hans Ulrich Gumbrechts Theorie der Gegenwart („Nach 1945“)


Die Stille der Welt nach Hitler
Überlegungen zu Hans Ulrich Gumbrechts Buch „Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart“[i]
für J.d.H.[ii]
Präludium: Im Getöse
Im August 1933 wurde der Volksempfänger VE 301 in Deutschland eingeführt, ein preiswertes Radio, das die Stimme Hitlers bis in den letzten deutschen Haushalt tragen sollte. In den darauf folgenden sechs Jahren bis zum Kriegsbeginn wurden mehrere Millionen Exemplare unters Volk gebracht, die für eine weltweit einzigartige Durchdringung des öffentlichen Raumes und aller privaten Räume des deutschen Reiches mit den Stimmen der Herrschenden und dem ihnen entgegengebrachten Jubel sorgte.

Die Typenbezeichnung VE 301 verweist auf den Tag der Machtergreifung, den 30. Januar 1933. Das schon bald als „Goebbels‘ Schnauze“ bezeichnete Gerät wurde zum Instrument der totalen Mobilmachung, bis die grellen Stimmen von Hitler und Goebbels im Getöse der Bomben, Kanonen und Stalinorgeln untergingen. Am 8. Mai 1945 begann schlagartig die Stille nach Hitler.
Zum Weiterlesen hier klicken:

Mittwoch, 26. September 2012

Anselm Kiefer

Anselm Kiefer, “Innenraum”: Altijd in het Stedelijk

Altijd? Das stimmt nicht ganz: Das Amsterdamer Stedelijk Museum war beinahe zehn Jahre wegen Renovierung geschlossen und ist nun endlich wieder für das Publikum geöffnet.

Anselm Kiefer, Innenraum

In der Sammlung des Stedelijk befindet sich auch eines der bedeutendsten Bilder von Anselm Kiefer: „Innenraum“ (1981). Das Bild ist Kiefers Vision des Mosaiksaals von Hitlers Reichskanzlei 1945. Der umfangreiche Gebäudekomplex wurde nach dem Krieg abgerissen, um keine Pilgerorte für Nazis zu schaffen. Zahlreiche Bilder von Kiefer beschäftigen sich mit deutscher Geschichte und deutscher Literatur.

Hier ist der Beitrag aus der Fernsehserie „1000 Meisterwerke“ zu diesem Bild:
 
Der 1945 in einem Luftschutzkeller geborene Anselm Kiefer hält sich fern von öffentlichen Auftritten. Im Internet sind nur ganz wenige Fotos von ihm zu finden. 2008 hat er als erster bildender Künstler den angesehenen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen und bei der Verleihung in der Frankfurter Paulskirche eine Dankesrede gehalten. Auf dem folgenden Video spricht erst der Kunsthistoriker Werner Spies die Laudatio und nach 35 Minuten kommt Kiefer:


Dienstag, 25. September 2012

Clemens Setz, Indigo (06): Das Elend der Tiere

Das Elend der Tiere, insbesondere der Versuchstiere, spielt in Indigo eine große Rolle: die qualvollen Experimente mit  Affen, Ratten, ja sogar mit einem Regenwurm und insbesondere mit Hunden werden zum Teil ausführlich beschrieben, gleichzeitig die Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber dem Leiden der Tiere. Das lockt sogar einen Hund hinter dem Ofen hervor:



Die Spezies Hund erhält in einem Gespräch zwischen den Protagonisten Clemens Setz und seiner Freundin Julia besondere Aufmerksamkeit. Gibt es etwa auch Indigo-Hunde? Hier ein paar Gesprächsausschnitte:
“… was hat die langsame Heranzüchtung der Spezies Hund eigentlich für einen Zweck? Herausgekommen ist diese seltsame Liebesmaschine, die ihren Herrn anhimmelt … Vielleicht war’s auch so gedacht, ein Tier zu schaffen, mit dem man kommunizieren kann. Einen sentimentalen Gefährten, der die Einsamkeit der eigenen Spezies weniger vollkommen, weniger lückenlos und absolut erscheinen lässt … […]

Jedes Temparament, jede Herzform des Menschen spiegelt sich in einer bestimmten Hunderasse wider. Der Hund ist ein Wesen, das man tatsächlich anderen Menschen vorziehen kann, weißt du? […]
Aber schau dir dieses Leben an, das sie führen, sagte ich und deutete auf den kleinen, geschäftig zwischen den Büschen herumsausenden Hund. Man lebt mit großen, unverständliche Laute von sich gebenden Gestalten zusammen, die über das Essen, das Spielzeug und die Auslaufmöglichkeiten verfügen. Man wandert stundenlang allein mit ihnen durch die Landschaft, und plötzlich entdeckt man am Ende einer Allee oder auf der anderen Straßenseite jemanden, der die gleiche Sprache spricht, der einen Schwanz hat und Ohren, der sogar näher kommen und sich präsentieren möchte – und da wird man am Strick zurückgerissen, darf sich keinen Zentimeter auf den anderen zubewegen. Und mit der Zeit überträgt sich dieser kräftige Ruck auf die Gedanken, man spürt ihn innerlich, wenn man einen Artgenossen sieht, und irgendwann gibt es nur mehr Feinde, jeder mit seinem eigenen Sperrzonenradius um sich, und wenn sich … und wenn sich diese Radien dann, dann überschneiden, gerät man in Panik, zerrt und zerrt und bellt und muss beruhigt werden” (430ff.).

Opfer der Wissenschaft: Laika

Montag, 24. September 2012

Clemens Setz, Indigo (05): Das Wesen der Ferne – Ein trostloses Meisterwerk

Neben den zahllosen Gesprächen besteht der Roman Indigo aus vielen zwischendurch eingestreuten kurzen Texten, die reale oder fiktive Zitate aus literarischen Werken und Sachbüchern sind. Eine Haupt“quelle“ dieser Texte ist das von Setz erfundene Buch „Das Wesen der Ferne“ der „Kinderpsychologin und Pädagogin Monika Häusler-Zinnbret“. Gleich im ersten Kapitel besucht der Protagonist Setz Frau Häusler in ihrer Wohnung in Graz, um mit ihr über die Indigo-Kinder zu sprechen, ein Gespräch, nach dem der Leser so schlau ist wie zuvor.

Die Zitate aus „Das Wesen der Ferne“ betreffen (mit einer Ausnahme) real existierende Dinge, die auch jeweils mit einem Foto dokumentiert werden: die Leninbüste „auf dem sog. Südlichen Pol der Unzugänglichkeit, dem geographisch am weitesten von der Küstenlinie entfernten Punkt der Antarktis“ (62), den einsamsten Baum aller Zeiten in der Wüste Ténéré (167), die einsamste Telefonzelle aller Zeiten in der Mojave-Wüste (339), einen der letzten „Tatzelwürmer“ in Österreich (367), die kleine Keramikplatte mit Werken von sechs Künstlern, die als „Moon Museum“ am Landebein der Mondfähre von 1969 befestigt ist (443).

Belka während des Flugs
Diese Texte stehen meist unkommentiert für sich (als Dokumente der beiden „Mappen“), manchmal wird in den Gesprächen ein Zusammenhang mit den Indigo-Kindern suggeriert. Dort kommen auch weitere, strukturähnliche kleine Geschichten aus der Realität vor, zum Beispiel die von den beiden Hunden Belka und Strelka, die 1960 mit dem Sputnik 5 ins All geflogen waren und lebend, aber verstört zur Erde zurückkehrten (155). An anderer Stelle ist die Rede von einer „Postkarte, die einen fröhlich lächelnden Hund in einer Raumkapsel zeigt“ (455). Dabei geht es um Laika, den ersten Hund im Weltraum, der allerdings nicht lebend zurückkam. Gemeinsam sind all diesen Geschichten der Eindruck von Trostlosigkeit und Angst, der von ihnen ausgeht – sowie die Vertuschungsversuche, die von allen Seiten unternommen werden.

Der Zusammenhang mit den Indigo-Kindern betrifft die Kategorien Einsamkeit und Entfernung. Auf abstrakter Ebene wird von Anfang des Romans an hierfür das Schema der Quincunx angeboten, das auf Seite 22 zum ersten Mal erwähnt wird und sogar ein eigenes Kapitel erhält (189-198). Die Urform der Quincunx ist die Äquidistanz der fünf Punkte auf dem Spielwürfel. Das Schema lässt sich auf beliebig viele Punkte ausweiten (Abbildung Seite 196), und es ist die Aufstellung, die die Indigo-Kinder von Helianau auf dem Schulhof im sogenannten „Zonenspiel“ (211-213) einnehmen.
 
Abbildung aus dem Roman
Kurz gesagt: Die Indigo-Kinder sind wir. Setz‘ Roman ist eine postmodern erscheinende Kompilation zum Phänomen der zunehmenden Einsamkeit des Menschen in der Gegenwart und seiner Entfernung vom Nächsten. Dies betrifft insbesondere die nach 1990 Geborenen. Ein Zusammenhang mit der gleichzeitig stattfindenden Kommunikationsrevolution von Internet und Mobiltelefonen liegt nahe (vgl. die häufig genannten „iBalls“ in Indigo). Insofern können wir auch vom Versuch einer Theorie der Gegenwart in Form eines Sprachkunstwerks reden. Von den spielerischen Romanen der Postmoderne unterscheidet sich Indigo durch seine Ernsthaftigkeit und Trostlosigkeit.

Clemens Setz, Indigo (04): „Indigo“ versus „Gegen die Welt“ (Jan Brandt)

Die Romane Indigo des Österreichers Clemens Setz und Gegen die Welt des Ostfriesen Jan Brandt sind unabhängig voneinander ungefähr zur gleichen Zeit entstanden (auch wenn Jan Brandt mit seinem 900-Seiten-Buch früher angefangen haben dürfte). Mir sind während der Lektüre von Indigo verblüffend viele inhaltliche und formale Parallelen aufgefallen.


Irgendwann gewöhnt man sich gegen alles (Motto aus Indigo)
Ein paar Beispiele von komplementären Mitteln, Motiven und Konzepten aus Gegen die Welt: der einleitende Brief, die Fiktion einer Dokumentensammlung zu einer Anzahl Personen inklusive Fotos, die verschiedenen Schriftarten, das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit, die scheinbar überirdischen Erscheinungen, die Rolle von Science-Fiction-Welten (Perry Rhodan), die tragischen Lebensläufe einer Gruppe junger Leute, der (zumindest von mir unterstellte) Anspruch, eine Art Theorie der gegenwärtigen Welt in Romanform zu sein.

Die rein intuitive Entscheidung, mein diesjähriges Leserblog Indigo zu widmen, so wie ich mich letztes Jahr für Gegen die Welt entschieden habe, hat sich für mich als richtig erwiesen.

Zwei kongeniale Gegenwartsromane also! Beide haben die Shortlist für den Deutschen Buchpreis erreicht: Brandt 2011, Setz 2012. Möge Setz ihn dieses Jahr gewinnen, auch wenn Brandt das lesbarere (bessere?) Buch geschrieben hat!

Sonntag, 23. September 2012

Clemens Setz. Indigo (03): Indigo-Kinder – Kotz, kotz

Der Roman wird von den Nachforschungen des Ich-Erzählers zum Phänomen der “Indigo-Kinder” beherrscht. Dabei handelt es sich um Kinder, die bei allen Personen, die sich ihnen nähern, heftige Übelkeit, Schmerzen und Bewusstlosigkeit erzeugen. Dieser unerklärliche Effekt reicht circa zehn Meter weit. Das hat es scheint’s schon immer gegeben, aber zu Anfang des neuen Jahrtausends kam es zu einer signifikanten Zunahme des Phänomens. In Österreich ist daraufhin das Helianau-Internat gegründet worden, in dem diese Kinder unterrichtet und betreut werden. Sie sitzen dort in kleinen Klassen in zehn Meter Abstand voneinander.

Der Ich-Erzähler Christoph Setz unterrichtet für kurze Zeit Mathematik an dieser Schule und wird nach einer Schlägerei mit dem Direktor entlassen. Er will dem Indigo-Phänomen auf die Spur kommen und auch den rätselhaften “Relokationen”, bei denen manche Kinder aus der Schule entfernt werden und verschwinden. Der Roman besteht zum Großteil aus den zahlreichen Gesprächen, die Clemens Setz mit betroffenen Kindern und Fachleuten führt, und aus dem Material, das er dazu in einer Mappe gesammelt hat. Eine weitere Mappe mit Berichten über Robert Tätzel und andere Indigo-Kinder erhält er von einem Oliver Baumherr.
Auch die Passagen, die angeblich im Jahr 2021 spielen, stammen vom Ich-Erzähler des Jahres 2006. Er schreibt sie auf Empfehlung seiner Freundin Julia und erfindet darin die mögliche Zukunft eines der I-Kinder (wie sie im Buch auch heißen), nämlich Robert Tätzels. Diese Information bekommt der Leser erst auf Seite 234, nachdem er sich hinreichend über die Science-Fiction-Elemente hat wundern können. Letztere sind übrigens nur ganz sparsam eingestreut: So gibt es in der Welt von 2021 offenbar in allen Räumen einen sogenannten iBall (der mich sehr an den “telescreen” in Orwells “1984” erinnert), ohne dass wir erfahren, was es damit auf sich hat. Auch ein iSocket wird erwähnt, eine Art intelligenter und sozial kompetenter Cloud. Und Zeitungen heißen zwar so, sind aber nicht aus Papier; es scheint sich um eine Art hyperdünnes iPad zu handeln.

Science Fiction spielt auch in den vielen Gesprächen von Setz eine Rolle: vor allem die frühen Staffeln von Star Trek. Clemens Setz scheint ein richtiger Trekkie zu sein.

Soweit das Buch, von dem ich zu diesem Zeitpunkt zwei Drittel gelesen habe. Noch immer hege ich die Vermutung, dass der geduldige Leser keine befriedigende Aufklärung über das Indigo-Phänomen erhalten wird. Setz geht sogar soweit, in seiner Kurzbiographie vor dem Anfang des Romans zu vermelden, dass er als Mathematiklehrer im Helianau-Internat gearbeitet habe und seit 2008 bei ihm die Spätfolgen der Indigo-Belastung aufträten. Helianau gibt es nicht; Setz vermischt hier ganz bewusst die Ebenen zwischen Fiktion und Wirklichkeit.
Esoterische Vorstellung eines Indigo-Kindes
 
Die Bezeichnung “Indigo” hat er nicht erfunden: Hierbei geht es um eine esoterische Theorie, dass seit einiger Zeit Kinder geboren werden, die quasi eine neue Stufe der Menschheitsgeschichte darstellen. Die sektarischen Vertreter dieser Theorie bestreiten vehement, dass hier eine Verbindung  mit dem ADHS-Syndrom (ndl. ADHD) bestehe, aber der Zusammenhang bietet sich an, und der reale Clemens J. Setz treibt in seinem Roman ein Spiel mit diesen Dingen, ein Spiel, das als eine ganz eigene und eigenartige Theorie der Gegenwart konzipiert zu sein scheint. Es ist auch ein literarisches Spiel, in dem die Werke und Motive von Kafka, Sebald und Robert Walser verwendet werden.

Ich muss noch ein wenig weiterlesen. Aber woran erinnert mich dies alles wohl? Da war doch was!?

Samstag, 22. September 2012

Clemens Setz, Indigo (02): Deze nummer is niet in gebruik

Beim Aufschlagen des Buches entdeckt der Leser sofort eine Reihe formaler und inhaltlicher Auffälligkeiten: Nach dem in Blasslila gehaltenen Vorsatzblatt und dem üblichen Vorwerk präsentiert sich das doppelseitige Inhaltsverzeichnis in nur mühsam lesbaren handschriftlichen Großbuchstaben  (und ohne Seitenangaben).

Am Romananfang steht ein computertypographischer Brief vom 1. November 2006, geschrieben von einer gewissen Marianne Tätzel an einen gewissen Clemens J. Setz, in dem sie ihn darüber informiert, was geschehen ist, nachdem er bei seinem Besuch in ihrem Hause das Bewusstsein verloren hatte, gefolgt von einem medizinischen Bericht über die Notaufnahme von Clemens Setz ins Grazer Universitätsklinikum. Erst danach beginnt der Ich-Erzähler, der denselben Namen trägt wie der Autor, mit seiner Geschichte, immer wieder abgewechselt von Kapiteln, die im Jahr 2021 spielen und in denen ein gewisser Robert, der Sohn von Marianne Tätzel, figuriert.
Der Schmetterlingsmann vom Cover
Beim Hineinblättern in das 480-Seiten-Buch fällt der häufige Wechsel zwischen verschiedenen Schriftarten auf. Immer wieder werden Texte aus einer “rotkarierten”und einer “grünen Mappe” dokumentartig präsentiert;  die rotkarierte Mappe enthält Kopien aus Büchern verschiedener Autoren und Zeiten; einer der Texte, laut Literaturangabe eine Geschichte von Johann Peter Hebel, ist sogar in Fraktur gesetzt. Die grüne Mappe enthält Aufzeichnungen von Gesprächen, die Robert Tätzel mit verschiedenen Personen geführt hat.
Außerdem gibt es eine Reihe kleiner Schwarzweißfotos mäßiger Qualität wie wir sie von den Büchern W.G. Sebalds kennen. Die Mappen befinden sich offenbar im Besitz von Robert, der ihren Inhalt am Ende verbrennt. Ganz am Ende steht eine Seite mit einer handschriftlichen Notiz:

“2.7. 2007 Ferenc Mobilnr.  angerufen. Computerstimme, weiblich: Deze nummer is niet in gebruik.”
Echt auf Niederländisch! Da freut sich der Leser, der das Buch noch nicht begonnen hat, auf die Lösung dieses Rätsels. Aber wird es die wohl geben?

Dahinter folgt noch ein doppelseitiges verschwommenes Foto eines dichtbewachsenen Blumenfeldes ohne irgendwelche Hinweise auf Sinn und Zweck desselben.
Judith Schalansky, die Gestalterin des Buches, hat sich hier richtig austoben können. Was soll das wohl alles bedeuten?

Donnerstag, 20. September 2012

Clemens Setz

Clemens Setz, Indigo (01): Ein schönes Buch!

So, er ist angekommen, Clemens Setz’ neuer Roman Indigo: Was für ein schönes Buch! Das Äußerliche ist für mich sonst nur ein Aufhänger, aber in diesem Fall muss etwas mehr dazu gesagt werden.

Der starke Pappeinband ist mit schwarzgrau meliertem Marmorwolkenpapier beklebt, der Titel  INDIGO mit dicken weißen Großbuchstaben in einer leicht unregelmäßigen Schriftart in Buchdeckel und –rücken eingeprägt.  Im oberen Drittel des Buchdeckels befindet sich ein eingeprägtes Quadrat mit einem hineingeklebten Papierfoto, das den Blick auf den nackten Rücken eines gebeugt sitzenden jungen Mannes zeigt, auf und über dem sich Dutzende bunter Schmetterlinge tummeln.
Das Ganze strahlt eine zugleich kostbare und schlichte Schönheit aus, die sich nicht nur optisch, sondern auch taktil den Fingerspitzen vermittelt und das Buch neben all den traditionell gestalteten Konkurrenten hervorstechen lässt: Ganz offenbar ist es das Flaggschiff des Suhrkamp Verlages in der diesjährigen Herbstkonkurrenz.

Die Faszination des Einbands
Entsprechend ist der vielfältige Werbeaufwand. Schon seit einiger Zeit werden Romane, lange bevor sie erscheinen mit einem vorbereitenden Making Of lanciert und von blogartigen Websites begleitet. Was ich hier aus eigenem Vergnügen mache, hätte ich auch dem Verlag als erweiterte PR anbieten können.

Hier kommt also auch die Einbandgestaltung dazu, die einer selbstbewussten jungen Frau übergeben wurde und den Verlag gewiss deutlich mehr gekostet hat als all die langweiligen Schutzumschläge. Einband und Typographie wurden von Judith Schalansky bestimmt, die dieses Jahr mit der Gestaltung ihres eigenen Romans Der Hals der Giraffe den Preis für das schönste deutsche Buch des Jahres gewonnen hat.
Clemens Setz und Judith Schalansky kennen und mögen sich. Das zeigt das folgende Gespräch, das ganz von Frau Schalansky beherrscht wird:



Tut er nur so schüchtern? Ich weiß nicht. Und bis hierhin haben wir das Buch noch nicht einmal aufgeschlagen!

International Book Week Game bringt deutsche Teilnehmer in die Bredouille

It's international book week. The rules: Grab the closest book to you, turn to page 52, post the 5th sentence as your status. Don't mention the title. Copy the rules as part of your status.

Die Erfinder dieses hübschen Spiels, das auf Facebook verbreitet wird, können keine Kenner der deutschen Literatur gewesen sein. In dem Buch, das mir gerade am nächsten lag, weil ich demnächst einen Vortrag darüber halten soll, gibt es auf Seite 52 keine fünf Sätze, sondern nur vier, und das auch nur, wenn ich den halben Satz am Seitenanfang mitzähle. Ich habe mich dann entschlossen, einfach den letzten Satz auf der Seite auszuwählen, der sich dann gar noch bis auf die folgende Seite erstreckt und es in sich hat. So ist deutsche Literatur:

„Er hatte eine Wachsplatte auf den Grammophonteller gelegt, die Nadel an seine Lieblingsstelle gesetzt, und während die ersten blechernen Takte von Wagners Ritt der Walküren durch den Salon gepurzelt waren, hatte er ein paarmal geniest, sich in die Serviette geschneuzt, dann die Glieder ausgestreckt und seine Krawatte gelockert, und just in diesem Moment war das Insekt durch den Türrahmen herangesummt, und, vom intensiven Geruch der aus den Hahlschen Poren austretenden Milchsäure (deren Ausdünstung durch den warmen Riesling begünstigt und verstärkt wurde) ganz kirre geworden, hatte die Mücke noch im Anflug die Proboscis ausgefahren, um, blind vor Gier, an des Gouverneurs sauber ausrasiertem Nacken anzulanden und ihn mit einem karthatischen, crescendohaften Biß zu penetrieren, bevor sie die erlösende Götterdämmerung der Hahlschen Handfläche erfahren hatte.“

Mittwoch, 19. September 2012

Reinhard Kleist: Graphic Novel über einen Boxer in Auschwitz


Eine der unglaublichsten Geschichten aus Auschwitz ist die des jüdischen Boxers Hertzko Haft, der im Lager Schaukämpfe auf Leben und Tod führen musste. Haft wurde später Profiboxer in den USA. Zum historischen Hintergrund gibt es auf einestages Informationen. Der Zeichner Reinhard Kleist hat diese Geschichte jetzt in einem Graphic Novel dargestellt.

Kleist kenne ich von seinem international erfolgreichen Graphic Novel zum Leben von Johnny Cash. Sein neues Werk ist 2011 in Fortsetzungen in der FAZ erschienen und liegt nun in Buchform vor: Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft (Carlsen Verlag, 2012).

Hier eine kurze Vorstellung des Buches bei ARTE:
 


Sonntag, 16. September 2012

Lilijahne Breitstein / Luba Brajsztajn

Lily Brett und die displaced persons


Longlists, shortlists, Preise hier, Preise da: Ein Blick zur Seite kann auch nicht schaden, und da fiel mir gestern in der ZEIT eine kleine Verlagsanzeige auf, in der ein neuer Roman von Lily Brett angekündigt wurde. Lily Brett? Es war wohl der Name, der mich ansprach. Ich griff zu meinem “Brett” (so heißt bei uns mein iPad) und begann zu googeln.

Wer ist Lily Brett? Sie wurde als Kind jüdischer Eltern nach dem Krieg in einem Lager für sogenannte displaced persons in Bayern geboren. Die Eltern waren getrennt in Auschwitz gewesen und haben nach der Befreiung des Lagers ein halbes Jahr suchen müssen, bis sie sich in einem Lager wiederfanden, das die Amerikaner für displaced persons eingerichtet hatten. Das waren die Baracken eines ehemaligen Außenlagers des Konzentrationslagers  Dachau im bayerischen Feldafing.  Am 5. September 1946 wurde dort ihre Tochter Lilijahne Breitstein (auch: Luba Brajsztajn) geboren. 

Die Brajsztajns zogen 1948 nach Australien, später nach New York. Der Vater lebt noch, 96jährig. Lilijahne/Luba führt das traumatisch behaftete Leben eines Kindes von Holocaust-Überlebenden. In den achtziger Jahren beginnt sie unter dem Namen Lily Brett Gedichte zu veröffentlichen, Auschwitz-Gedichte, später folgen Romane. Ihr bislang letzter Roman Lola Bensky ist gerade auf Deutsch erschienen: das war die Anzeige.


Es ist eine merkwürdige Koinzidenz, dass ich mich gerade mit dem Phänomen der displaced persons beschäftigt habe. Unter dem Begriff wurden von den Amerikanern die Personen geführt, die ab 1944 auf dem Territorium des Deutschen Reiches und in den von den Nazis besetzten Gebieten durch die Alliierten befreit wurden: KZ-Insassen, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Flüchtlinge, circa 11 Millionen Menschen, die in einer gigantischen logistischen Operation zunächst in Lagern gesammelt und dann entweder in ihre Heimatorte zurückgeführt wurden oder auf eigene Faust loszogen oder eine Chance zur Emigration bekamen. Wohlgemerkt: Dies waren nicht die 15 Millionen deutschen Vertriebenen, die zu gleicher Zeit über ganz Deutschland verteilt wurden. Und auch nicht die Millionen demobilisierter und kriegsgefangener deutscher Soldaten. Und, und und… Unvorstellbare Zustände!

In den Romanen von Lily Brett spielt dieser Hintergrund nur indirekt eine Rolle. Leser berichten bei Amazon über den großen Humor, mit dem sie das Leben jüdischer Familien in New York beschreibt, auch wenn der Holocaust wie ein Spuk und Fluch darüberschwebt. Eine Interviewerin betonte, die reale Luba Brajsztajn habe nichts von dieser Fröhlichkeit an sich.

Noch habe ich nichts von ihr gelesen. Offenbar wäre der Roman  Just Like That (deutsch: Einfach so) von 1994 ein guter Anfang.

Freitag, 14. September 2012

Die Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2012: Wer hat den Preis verdient?


Ich habe nicht die Zeit und Lust, alle sechs Romane der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2012 zu lesen. Der einzige, den ich schon kenne, ist Herrndorfs Sand, auf den wir in Café Deutschland bereits ausführlich hingewiesen haben.

Was die anderen Titel betrifft, bestimme ich meine Vorliebe teils auf der Grundlage der Rezensionen, teils von meiner Kenntnis anderer Werke der Autoren her, teils aufgrund von Intuition. Genau wie im letzten Jahr mit Jan Brandts Gegen die Welt (der dann den Preis ja leider nicht bekommen hat), werde ich auch dieses Jahr ein Leserblog zu meinem gekürten Kandidaten schreiben, und das ist diesmal der junge Österreicher Clemens Setz mit seinem Roman Indigo.

Demnächst in diesem Theater.

Im übrigen habe ich die sechs Titel mit anklickbaren Rezensionen versehen:

• Ernst Augustin: Robinsons blaues Haus (C.H.Beck, Januar 2012)

• Wolfgang Herrndorf: Sand (Rowohlt.Berlin, November 2011)

• Ursula Krechel: Landgericht (Jung und Jung, August 2012)

• Clemens J. Setz: Indigo (Suhrkamp, September 2012)

• Stephan Thome: Fliehkräfte (Suhrkamp, September 2012)

• Ulf Erdmann Ziegler: Nichts Weißes (Suhrkamp, August 2012)

Donnerstag, 13. September 2012

Das grottenschlechte Bayern-Spiel

Nein, hier geht’s nicht über Fußball.

Von allen Seiten wird Hohn und Spott über das grottenschlechte Online-Computerspiel “Aufbruch Bayern” verbreitet, das von der bayerischen Staatskanzlei finanziert worden ist. Bilden Sie sich Ihre eigene Meinung und spielen Sie es (jedenfalls einmal!).


Café Deutschland gibt auch den Bürgern des brettflachen Königreichs der Niederlande die Möglichkeit, die bayerischen Gipfel zu stürmen und zum Helden des Freistaates ernannt zu werden:

Dienstag, 11. September 2012

Stalingrad in de Duitse herinnering


Am 8. Mai dieses Jahres hatte ich in Café Deutschland einen Beitrag zum Kapitulationsmusum in Berlin-Karlshorst gebracht. Es handelte sich um einen kleinen Auszug aus einem Artikel, den ich unter dem Titel „Stalingrad in de Duitse herinnering“ für die Groninger historische Zeitschrift „Groniek“ geschrieben hatte (Groniek nr. 184, 2010, p. 299-312).

Hier ist der komplette Text:

‘Stalingrad’ in de Duitse herinnering

Peter Groenewold

Op 10 mei 1995, vijftig jaar na het einde van de oorlog, werd in Berlijn een gemeenschappelijk oorlogsmuseum van de voormalige tegenstanders Duitsland en Rusland geopend. Het Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst is ontstaan uit een afspraak tussen de Duitse en de Sovjet regering na de gesprekken over de Duitse hereniging in 1990. [i]
Der Kapitulationssaal

Die Hüte(r) der Nation


Montag, 10. September 2012

Bettina Wulff oder Die Kunst, sich teuer zu verkaufen


In den letzten drei Tagen hat sich die Zahl der Klicks bei Café Deutschland stark erhöht. Der Wochendurchschnitt verdoppelte sich auf 1400 Klicks. Als ich erfreut auf die Suche ging, an welchem meiner tollen Beiträge das wohl liegt, folgte Ernüchterung: Verantwortlich ist meine zurückhaltend-subtile Betrachtung der Bedeutung des Tattos von Bettina Wulff, der Frau des zurückgetretenen Bundespräsidenten, für die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Worin die liegt, das sage ich da gar nicht: Das war ja gerade meine Subtilität.

Seit Freitag letzter Woche hat Bettina Wulff eine Reihe von Persönlichkeiten der Medienwelt, die ihre Person ganz unsubtil mit einem vorgeblichen Vorleben in der Bordell- und Escortwelt in Verbindung gebracht haben, mit Unterlassungsklagen überzogen. Die interessanteste Klage richtet sich gegen Google, dessen Autovervollständigungsfunktion bei Suchbegriffen jedem Bettina-Wulff-Sucher sofort die Kombination ihres Namens mit “Prostituierte” und “Escort” anbietet.

Blogbeiträge, die sich mit diesen Vorwürfen beschäftigen, haben in den letzten Tagen zum Teil zigtausend Klicks erhalten. In Café Deutschland ging es nur um die Kombination des Namens mit “Tattoo”, und auch das sorgt in diesen Tagen für hunderte von Extraklicks.

Bleibt nur die Frage, warum Bettina Wulff solange mit ihrer Klage gewartet hat? Nun, die Antwort ist einfach: Die Veröffentlichung ihres Buches “Jenseits des Protokolls” steht unmittelbar bevor, und Frau Wulff sorgt pr-bewusst für ein Rauschen im Blätterwald und ein Klickkonzert im Internet, um das geile Interesse des Publikums für ihre unspektakulären und wohl ziemlich uninteressanten Memoiren anzuturnen.

 Bettina Wulff ist zwar keine Prostituierte, aber sie kann sich gut verkaufen. Da hoffen wir mal, dass Google diesen Rechtsstreit gewinnt.

Sonntag, 9. September 2012

“Wave and Smile”, ein deutscher Graphic Novel zur Bundeswehr in Afghanistan

Der erste Graphic Novel des Zeichners Arne Jysch versucht, möglichst vielen Aspekten des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan gerecht zu werden. Abgesehen von der ziemlich böswilligen Bemerkung des Rezensenten der Frankfurter Rundschau, dieses Buch würde ihn an die Landserhefte erinnern, hat Jysch in diesem Sommer vorwiegend positive Kritiken und viel Medienaufmerksamkeit bekommen, zum Beispiel auf ZDF-Kultur. Hier sind die Rezension im Berliner Tagesspiegel und der ausführliche Bericht auf comic-report.de .

In den Dialogen kommen realitätsgetreu auch Gespräche auf Englisch vor, und auch für den Buchtitel hat Jysch – und das ist dann doch etwas irritierend – das englische “Wave and Smile” gewählt. Es handelt sich aber um einen deutschsprachigen Graphic Novel. Das Buch ist im Carlsen Verlag erschienen, dem neben dem Reprodukt Verlag wichtigsten deutschen Herausgeber von Graphic Novels.