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Donnerstag, 29. Dezember 2022

„Verlangen Sie doch nicht Verstand von Frauen“ ( Franz Kafka)

Auf meiner Reise nach Den Haag im Dezember hatte ich mir Ard Posthumas Auswahl und Übersetzung der kurzen Geschichten aus Franz Kafkas Nachlass mitgenommen: „In het labyrint“ (Koppernik 2022; siehe meine Rezension in TZUM). Viele dieser in den unübersichtlichen Bänden „Nachgelassene Schriften und Fragmente I und II“ (New York 1992/1993) verborgenen Texte hatte ich auch auf Deutsch noch nie gelesen.

Einem der Texte hat Ard den Titel „Het Zinkgat“ gegeben. Das Wort war mir noch nie begegnet. Das machte mich neugierig auf den deutschen Text: Dort steht „Versenkung“, was auch wieder merkwürdig ist; ich hatte es noch nie in einer geologischen Bedeutung gesehen, nur im Sinne von „zum Versinken bringen“ und „Meditation“. Aber es handelt sich hier in der Tat um ein Loch mit Treibsand. 

Im Niederländischen gab es für den Übersetzer wohl keine Wahl: es musste „Zinkgat“ werden, im Englischen hat man „hollow“ gewählt. Kafka hat im Deutschen wohl mit den drei möglichen Bedeutungen gespielt, um seiner Parabel zur Sexualangst vor dem weiblichen Geschlechtsorgan Tiefe zu geben.

Im Kunstmuseum in Den Haag sahen wir die Ausstellung von Nicole Eisenman (geb. 1965). In ihrem/seinem riesigen Bild „Mining II“ fiel mir ein Detail auf, das mich an Kafkas Geschichte erinnerte:

Detail aus dem Bild „Mining II“ von Nicole Eisenman

Und nun die Geschichte von Kafka:


Atemlos kam ich an. Eine Stange war ein wenig schief in den Boden gerammt und trug eine Tafel mit der Aufschrift „Versenkung“. Ich dürfte am Ziel sein, sagte ich mir und blickte mich um. Nur ein paar Schritte weit war eine unscheinbare dicht mit Grün überwachsene Gartenlaube, aus der ich leichtes Tellerklappern hörte. Ich ging hin, steckte den Kopf durch die niedrige Öffnung, sah kaum etwas in dem dunklen Innern, grüßte aber doch und fragte:“Wissen Sie nicht wer die Versenkung besorgt?“ „Ich selbst, Ihnen zu dienen“, sagte eine freundliche Stimme, „ich komme sofort.“ Nun erkannte ich langsam die kleine Gesellschaft, es war ein junges Ehepaar, drei kleine Kinder, die mit der Stirn kaum die Tischplatte erreichten und ein Säugling, noch in den Armen der Mutter. Der Mann der in der Tiefe der Laube saß wollte gleich aufstehn und sich hinausdrängen, die Frau aber bat ihn herzlich, zuerst das Essen zu beenden, er jedoch zeigte auf mich, sie wiederum sagte, ich werde so freundlich sein und ein wenig warten und Ihnen die Ehre erweisen, an ihrem kargen Mittagessen teilzunehmen, ich schließlich, äußerst ärgerlich über mich selbst, der ich hier die Sonntagsfreude so häßlich störte, mußte sagen: „Leider leider, liebe Frau, kann ich der Einladung nicht entsprechen, denn ich muß mich augenblicklich, ja wirklich augenblicklich versenken lassen.“Ach“, sagte die Frau, „ gerade am Sonntag und noch beim Mittagessen. Ach die Launen der Leute. Die ewige Sklaverei.“ „Zanken Sie doch nicht so“, sagte ich, „ich verlange es ja von ihrem Mann nicht aus Mutwillen und wüßte ich wie man es macht, hätte ich es schon längst allein getan.“ „Hören Sie nicht auf die Frau“, sagte der Mann, der schon neben mir war und mich fortzog. „Verlangen Sie doch nicht Verstand von Frauen.“

 

(Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, New York 1992, 376-377)


Nicole Eisenman, Mining II


Schöner Stoff zu eindringlichen Gesprächen!

Sonntag, 25. Dezember 2022

Frohe Weihnachten!

Groningen: Martiniturm mit Weihnachtsbaum. Foto: Nico van Loo


Der Zwerg im Weihnachtsbaum

 

Ein Zwerg erfüllte sich den größten Traum:

Er klomm in einen Weihnachtsbaum.

Dort schwang er sich von Ast zu Ast

- Tarzan wär‘ vor Neid erblasst -

Berauschte sich am Kugelglanz,

Bat die Engelchen zum Tanz,

Knabberte am Sternchenkeks,

Nahm was mit für unterwegs.

 

Er bestieg die höchsten Höhen,

Von unten kaum noch mehr zu sehen.

Doch dann erschrak er ungeheuer,

Denn plötzlich fing sein Mützchen Feuer!

Er fiel und sauste nun - hab Acht! hab Acht! -

Quer durch die ganze Weihnachtspracht.

 

Erst bei dem kleinen Schornsteinfeger

Verfängt am Zweige sich sein Hosenträger.

Dort hängt er nun, der arme Wicht,

Sein Gejammer hör’n wir nicht.

Keine Hilfe weit und breit.

Ist das die schöne Weihnachtszeit?

 

Das erbarmt den Schornsteinfeger,

Zum Glück ist er auch Krankenpfleger:

Er fegt den Ruß von seiner Mütze

Und macht sich hier und da zu nütze.

Der Kleine stöhnt: „Du bist mein Engel,“

Der schimpft ihn einen dummen Bengel.

 

Zum Schluss leiht er ihm seine Leiter

So kann der kleine Mann wohl weiter.

Er schaut voll Sehnsucht in den Baum…

Da kommt Schneewittchen: Aus der Traum!


(Aus: Peter Groenewold, Der Zwergenzyklus. 

Groningen 2021/22)

Samstag, 24. Dezember 2022

Heilige Nacht

 


Heilige Nacht

 

Mit den heiligen drei Königen

Kam auch ein Zwerg zur Krippen hin.

Auf Zehenspitzen stand er da

Und glaubte kaum, was er da sah.

Das liebe süße Jesulein:

“Was ist es klein! Es ist so klein!“


(Aus: Peter Groenewold, Der Zwergenzyklus, 

Groningen 2021/22)

Mittwoch, 7. Dezember 2022

Peter Handke 80 Jahre alt



Ich habe im Laufe der Jahre in Café Deutschland viele Beiträge zu Peter Handke geschrieben. (Guckt ruhig mal nach, indem ihr seinen Namen in die Suchzeile hier rechts schreibt!)

Zum Achtzigsten (6. Dezember) präsentiere ich noch einmal meinen kleinen Beitrag zu „Versuch über die Jukebox“, den ich vor zehn Jahren geschrieben habe:

https://cafe-deutschland.blogspot.com/2012/01/blog-post.html 

Sonntag, 13. November 2022

Wiener Volksoper: „Die Zauberflöte“ als Wimmelbild


Einmal in Wien in die Oper: Das habe ich schon lange gewollt. Und nun wurde es die „Zauberflöte“ in der Volksoper.

Natürlich war es schön! Das garantiert Mozarts Musik. Die Wiener Presse hat die Inszenierung hoch gelobt. Sie sei auch für Kinder sehr geeignet. Das stimmt: am Samstag sah man dann auch scharenweise Erwachsene mit ihren Kindern im Opernhaus.

Die Inszenierung kombiniert das große Bühnenspiel der realen Sänger mit einem auf Lebensgröße aufgeblasenen Puppentheater. Da braucht es pro Puppe schon zwei hinterdreinschleichende Spieler, die all die Märchentiere und leider (in der ersten Hälfte) auch die drei Knaben bewegen müssen. Das ergibt zwar einige rührende Szenen und ist auch gut gemacht, läßt die Bühne aber oft wie ein riesiges Wimmelbild erscheinen, auf dem sich viel zu viel tummelt, das mit der eigentlichen Oper nichts zu tun hat.

Das Ungeheuer ist sehr groß
Hinzu kommt in der Sarastrowelt ein himmelschreiendes Tohuwabohou von gemischt-kolonialen Elementen wie Tropenhelmen, Federbüschen, Eingeborenenexotik, Maschinenpistolen (!), Fezen, Stiefelschäften usw.: Wimmelbild hoch zwei!

Und die Botschaft, ach die Botschaft dieses Tages an die Kinder ist: schützet die Natur! Versinnbildlicht durch einen älteren Herrn in langem Gewande, der, in jeder Hand eine Gießkanne, durch den Garten schreitet und die Pflanzen wässert. Oh mein Gott!!!

Die Sänger und Sängerinnen waren gut. Ich habe hier und heute nicht die Zeit, dazu etwas zu schreiben, denn ich muss mir ja noch Wien ansehen.

Eine ganz blöde Empfindung noch zum Schluss: die Volksoper liegt direkt an der Hochbahn, und die vorbeifahrenden Züge verursachen im Opernsaal dumpf grummelnde Vibrationen, an die man sich nicht gewöhnen kann.

Samstag, 22. Oktober 2022

Meine kleine Ukraine-Bibliothek (24): Friedenspreis für Zhadan




Sonntag erhält der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die Veranstaltung wird von 10:45 - 12:00 in der ARD übertragen.

Vor zehn Tagen ist Zhadans Kriegstagebuch „Himmel über Charkiw“ auf Deutsch erschienen. Seine drastische Art, über die Russen zu schreiben hat in der Presse zu Auseinandersetzungen über seine Preiswürdigkeit geführt.


D


Gleichzeitig ist Andrej Kurkows Kiewer „Tagebuch einer Invasion“ erschienen (Haymon Verlag, 320 Seiten, € 19,90). Hiervon gibt es auch eine niederländische Ausgabe: Andrej Koerkov „Dagboek van een invasie“ (Balans, € 21,99).

Andrej Koerkov wird am 5. November während der Veranstaltung „Crossing Borders“ in Den Haag von Michel Krielaars interviewt (Theater aan het Spui, 14-15 Uhr).

Samstag, 1. Oktober 2022

Meine kleine Ukraine-Bibliothek (23): Timothy Snyder und die deutsche Geschichtspolitik

 



Timothy Snyder ist der Verfasser mehrerer wichtiger Werke zur blutigen Geschichte Mitteleuropas unter den Sowjets und den Nationalsozialisten. In der aktuellen Debatte zu Putins Krieg gegen die Ukraine und Deutschlands Haltung hierzu hat er sich mehrfach in den deutschen Medien geäußert.

Hier ist der Artikel „Falsche Erinnerungen“ vom 28.5.2022 im „Spiegel“, der für mich persönlich ein ungewöhnlicher Wendepunkt gewesen ist und zur Entstehung meiner kleinen Ukraine-Bibliothek wesentlich beigetragen hat:



Mittwoch, 28. September 2022

Meine kleine Ukraine-Bibliothek (22): Rose Ausländer und das Viersprachenland


Bukowina

 

Grüne Mutter

Bukowina

Schmetterlinge im Haar

 

Trink

Sagt die Sonne

Rote Melonenmilch

Weiße Kukuruzmilch

Ich mache sie süß

 

Violette Föhrenzapfen

Luftflügel Vögel und Laub

 

Der Karpatenrücken

Väterlich

Lädt dich ein

Dich zu tragen

 

Vier Sprachen

Viersprachenlieder

 

Menschen

Die sich verstehn

 

Rose Ausländer, geboren 1901 in Czernowitz, gestorben 1988 in Düsseldorf


Andreas Kilcher hat am 25.9.2022 in der Neuen Zürcher Zeitung einen schönen Artikel über Rose Ausländer geschrieben.

(Die NZZ ist frei zugänglich, wenn man sich registrieren lässt.)

Viel mehr dazu (und zu anderen Autoren aus der Bukowina) im

Bukowinaportal

und in der Dissertation der Ukrainerin

Natalia Shchyhlevska, Deutschsprachige Autoren aus der Bukowina, Frankfurt am Main 2004



Meine kleine Ukraine-Bibliothek (21): Joseph Roth und die "Weltaufteiler"

 


Joseph Roth, geboren 1894 in Brodsky/Galizien, gestorben 1939 in Paris


Joseph Roth zur Situation in Mitteleuropa nach der Pariser Friedenskonferenz von 1919:


“In diesem Europa, in dem die möglichst große Selbständigkeit der Nationen das oberste Prinzip der Friedensschlüsse, Gebietsteilungen und Staatengründungen war, hätte es de europäischen und amerikanischen Kennern der Geographie nicht passieren dürfen, dass ein großes 

V o l k  v o n  30 M i l l i o n e n  in mehrere nationale Minderheiten zerschlagen, in verschiedenen Staaten weiterlebe. Zwingt man sich (wider sein besseres Wissen) zu jener naiven Anschauung, dass die Nationen von Europa in säuberlich voneinander getrennten Gebieten leben, wie auf Schachbrettern, so ist nicht einzusehen, weshalb man ein großes Volk einfach vergaß und weshalb man das Gebiet, auf dem es lebt, nicht zusammenzuschließen versuchte, sondern neuerlich aufteilte. Die Ukrainer, die in Russland, in Polen, in der Tschechoslowakei, in Rumänien vorhanden sind, verdienten gewiss einen eigenen Staat, wie jedes ihrer Wirtsvölker. Aber sie kommen in den Lehrbüchern, aus denen die Weltaufteiler ihre Kenntnisse beziehen, weniger ausführlich vor als in der Natur – und das ist ihr Verhängnis.“

 

(aus: Joseph Roth, „Die ukrainische Minderheit“, Frankfurter Zeitung, 12. August 1928)

Samstag, 24. September 2022

Kasperletheater



With thanks to Doris en Deb


Zum ersten Mal seit vielen Jahren sind die hand-geschnitzten Kasperlepuppen meines Onkels wieder in meinem Haus zusammen: Großmutter, der Teufel, Gretchen, Kasper, das junge Königspaar, der Räuber-hauptmann, der Seemann und der Gendarm (mit der grünen Uniform; die anderen Kostüme sind leider ver-loren gegangen). Nur der Tod fehlt, aber der hat ja auch immer viel zu tun.

Mittwoch, 21. September 2022

Meine kleine Ukraine-Bibliothek (20): Taras Schewtschenko, Der Kobsar

 

Taras Tschewtschenko, Selbstbildnis, 1858

Taras Schewtschenko (1814-1861) gilt als ukrainischer Nationaldichter. In der Hauptstadt Kiew wurden 1939 die Universität und die Oper nach ihm benannt. Während der Orangenen Revolution (2004) und des Euromaidan 2013/2014 zeigte sich auch die aktuelle Popularität des Dichters.

 

Das Hauptwerk Schewtschenkos erschien 1840 unter dem Titel „Der Kobsar“ und enthielt nur acht romantische Gedichte. Er hatte großen Erfolg damit, und hat es in den folgenden Jahren um ein Vielfaches erweitert.


Die deutsche zweibändige Ausgabe von 1951 umfasst 1000 Seiten und wurde von Alfred Kurella Im „Verlag für fremdsprachige Literatur“ in Moskau herausgegeben. Die acht Gedichte der ersten Ausgabe finden sich dort auf den Seiten 71-134 (ohne dass sie besonders gekennzeichnet wären). Kurella hat auch die meisten der Gedichte übersetzt.

 

Am Anfang der 40seitigen von Alexander Deutsch verfassten biographischen Skizze, die diese Ausgabe des Kobsar einleitet, stehen folgende Zeilen, die uns heute wie eine bittere Ironie anmuten:

 

„Frei und ungebunden lebt heute in den weiten Gefilden der Sowjetukraine das ukrainische Volk, von den Karpaten bis zum Donez, vom Pripet-Tal bis zum Schwarzen Meer in einem einzigen sozialistischen Staat vereinigt. Tausende Kilometer weit dehnen sich golden die Kolchosfelder, und über der endlosen Steppe flammt der rosenrote Widerschein der Hochöfen, ragen riesige Getreidespeicher auf, und die schwarzen Pyramiden der Abraumhalden im Grubengebiet des Donezbeckens wechseln ab mit gewaltigen, auch zur Nachtzeit Feuer strahlenden Werkhallen von Stahlgießereien, Maschinenbau- und Traktorenwerken.

Hand in Hand mit dem großen russischen Volk und den anderen Völkern der Sowjetunion schreitet das freiheitsliebende und begabte ukrainische Volk an der Spitze der fortschrittlichen Völker der Welt, die für einen dauerhaften Frieden und die fruchtbare Entwicklung ihrer nationalen Kultur kämpfen.

Über die weite Ukraine hin erklingen die frohen Lieder, in denen das Volk die schöpferische Arbeit, die errungene Freiheit seiner Kultur und die Genien der sozialistischen Revolution, Lenin und Stalin, besingt“ (Der Kobsar, S. 2f.).

 

(Wenn man bedenkt, dass 1951 der Holodomor noch keine zwanzig Jahre zurücklag und der Herausgeber Alfred Kurella ein widerlicher deutscher Stalinist war, muss dieser Text für redliche Leser auch damals schon unerträglich gewesen sein.)

Im Internet ist der komplette Text der Biographie von Anton Alfred Jensen: "Taras Schewtschenko, ein ukrainisches Dichterleben" (Wien 1916), frei zugänglich.


Dienstag, 13. September 2022

Meine kleine Ukraine-Bibliothek (19): Der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko

 Taras Schewtschenko (1814-1861)


Das Vermächtnis

Sterb ich, so begrabt auf einem
Kurhan 1) mein Gebeine
Mitten in der weiten Steppe

Meines Lands Ukraine,
Dass ich Felder schau, des Dnjepr
Steile Uferrande,
Dass ich höre, wie der Wilde
Braust durch Steppenlande!

Wie er stolz aus der Ukraine
Fern ins Meer, ins blaue,
Wälzen wird das Blut der Feinde —
Felder, Berg und Aue,
Alles will ich froh dann lassen,
Nur zu Gott, dem Einen,
Betend fliegen. Doch bis dahin —
Freunde, kenn ich keinen!

Senkt mich ein — doch dann erhebt euch,
Ketten sprenget, harte,
Feindesblut, es röte eurer
Freiheit Siegsstandarte!
Und im neuen freien Bunde,
In der Brüder Kreise,
Denkt auch meiner dann mit einem
Wörtchen lieb und leise!

Perjaslaw, 25. Dez. 1845.


*) Vgl. „Schewtschenkos Leben und Dichten“ Seite 23.
1) Grabhügel (vgl. Seite 31, Anm.)

Taras Schewtschenko (1814-1861)

Osip Fedjkowytsch (1834-1888)

In Kiew an der Lawra,1)

Da saß ein Sängergreis,

Sein Bart war weiß wie Silber,

die Locken silberweiß.

 

Der sang viel alte Lieder, 

Sang manchen Seherspruch

Und manchem Teufel Segen

Und manchem Engel Fluch.

 

Und manchem Helden Schande

Und manchem Weisen Hohn

Und manches Schwert in Stücke,

in Stücke manchen Thron.

 

Da riss sich eine Quader

Vom alten Dome los

Und stürzt zu seinen Füßen

Und sprang in seinen Schoß.


“O Sänger, du furchtbarer Sänger,

lass solch ein Singen sein,

Sonst stürzt zu deinen Füßen

Das ganze Russland ein.”

 

1)      Das berühmte Höhlenkloster

 

(Gedicht auf Taras Schewtschenko aus: “Nationalpoesie der Ruthenen”, 1865, im Original Deutsch)

Mittwoch, 7. September 2022

Meine kleine Ukraine-Bibliothek (18): Das Lyrik-Festival Meridian Czernowitz

 



 

Bisher habe ich auf einzelne Bücher hingewiesen, aber auch die Frage nach der Möglichkeit einer ukrainischen Literaturgeschichte in Geschichte und Gegenwart gestellt (Beitrag 8)

 

Das seit 2009 stattfindende Lyrikfestival „Meridian Czernowitz“ gibt durch seine Teilnehmer und Programmatik viele Hinweise zur Beantwortung dieser Frage und vermittelt uns Einblicke in die komplexe vielsprachige ukrainische Literatur und ihre gegenwärtigen Trends.

 

Wer die Festivalberichte in der deutschsprachigen und internationalen Presse über die Jahre hin verfolgt, bekommt einen spannenden Überblick über die Herausbildung einer eigenständigen ukrainischen Identität gegenüber bzw. jetzt auch gegen Russland. Das diesjährige Festival steht im Zeichen des Krieges.

 

Hier ist der Bericht der Süddeutschen Zeitung zum aktuellen 13. Festival vom 2.- 4. September 2022.

Sonntag, 28. August 2022

Angriff auf Winnetou: Der Meulenhoff Verlag streicht Karl May aus dem Programm

Die niederländische NRC lässt in ihrer Ausgabe vom 27/28. August den Philosophen Ger Groot als Verteidiger von Karl Mays Winnetou zu Worte kommen. Der Titel des - leider etwas naiven - Artikels ist „Winnetou is de ideale mens“ (Seite 06 der Rubrik „Opinie & Debat“). Herzlichen Dank, Ger Groot!

Anlass des Plädoyers ist der Umstand, dass der niederländische Verleger von Karl May, der ehrwürdige Meulenhoff Verlag in Amsterdam, alle Karl May-Titel aus dem Programm genommen hat. Er kapituliert damit leider vor den Versuchen kleiner Gruppen selbsternannter Sprach- und Kulturpolizisten, die Vielfalt unserer Medienwelt zu zensieren und ideologisch zu beherrschen. Es ist eine Schande, dass Meulenhoff sich darauf einlässt.

 

Ger Groot und mit ihm eine ganze Reihe weiterer niederländischer Kommentatoren sind allerdings über die entsprechende Situation bei deutschen Verlagen völlig falsch informiert. Die deutschen Karl-May-Ausgaben erscheinen weiterhin unbehindert. Der Ravensburger Verlag, den er anführt, ist nicht der deutsche Verleger von Karl May. Bei dem Buch, dass in diesem Verlag gerade tatsächlich gecancelt wurde, handelt es sich um ein unbedeutendes Begleitbuch zu dem Film „Der junge Häuptling Winnetou“, der gerade in Deutschland anläuft. Schon das hat eine heiße Debatte in Deutschland ausgelöst.

 

Die Werke Karl Mays erscheinen seit 1913 im Karl-May-Verlag Radebeul/Bamberg, der niemals auf die Idee käme, die Winnetou-Titel zu streichen. Würde er dazu gezwungen, gäbe es einen kollektiven Wutausbruch in der deutschen Bevölkerung.


Die Winnetou-Bücher sind die erfolgreichste Fantasyroman-Trilogie der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Man muss sie nicht mögen, aber allen Zensurversuchen sollte entschieden entgegengetreten werden, und härter als Ger Groot es tut.


Ich habe meine Exemplare aus dem Regal geholt und werde sie in stillem Protest noch einmal lesen. Härteres folgt später.




Donnerstag, 25. August 2022

Meine kleine Ukraine-Bibliothek (17): Das Ukraine-Feuilleton der ZEIT vom 25.8.2022

 


Die ZEIT dieser Woche hat ihr gesamtes Feuilleton in die Hände von zwei ukrainischen Kuratoren gegeben: zahlreiche Berichte, Fotos, Texte von ukrainischen Schriftstellern, Künstlern und Fotografen. Und über die Druckausgabe hinaus findet sich noch manches auf Zeit Online.

Soweit ich mich erinnere, hat es so etwas in all den Jahrzehnten, die ich mit der ZEIT verbracht habe, noch nicht gegeben.

Dienstag, 23. August 2022

Deutscher Buchpreis 2022. - Die Longlist ist da!



Die Longlist für den Deutschen Buchpreis ist da.
Der Preis wird am 17. Oktober bekannt gegeben.

Hier klicken: Longlist

Von den zwanzig Titeln habe ich noch keinen einzigen gelesen. Das hat's auch noch nie gegeben.
Ich melde mich beizeiten mit Empfehlungen.

Montag, 22. August 2022

Nietzsche (31): Karl Lagerfelds Nietzsche

 



In meinem vorletzten Beitrag habe ich von zwei geplanten Gesamtausgaben Nietzsches berichtet. Eine der beiden, die im Stroemfeld-Verlag erscheinen sollte, wird es definitiv nicht geben: Nach dem Frankfurter Teil ist kürzlich auch der Baseler Teil des Verlags pleite gegangen, und so sind von der Basler Ausgabe nur die beiden ersten Bände mit dem Zarathustra erschienen.

In den letzten Jahren haben viele kleinere Verlage Probleme bekommen, da die Universitätsbibliotheken deutschland-, europa- und wohl auch weltweit als Abnehmer gedruckter Editionen immer mehr ausfallen und nur noch elektronische Ausgaben in ihre Bestände aufnehmen.

Bleibt noch die Ausgabe im L.S.D.-Verlag Karl Lagerfelds. Nun ist Lagerfeld 2019 gestorben. Dieses Jahr wurde ein Teil seines Besitzes bei Sotheby in Köln versteigert. Möglicherweise wird es sich Jahre hinziehen, bis die Situation im L.S.D.-Verlag geklärt ist, ob eine so aufwändige Werkausgabe noch erscheinen kann. Es war ja sowieso schon fraglich!

Der vorgesehene Herausgeber Rüdiger Schmidt-Grépály hat am Ende des wunderschön herausgegebenen Bändchens "Friedrich Nietzsche. Lernt mich gut lesen -" einen detaillierten Überblick über die geplante Ausgabe in 19 Bänden (plus Supplement plus Kommentarband) gegeben. Außerdem sollen, als Teil 1, Nietzsches handschriftliche Druckmanuskripte faksimiliert und in Originalgrösse auf unterschiedliche Schreibpapiere, wie Nietzsche sie verwendet hat, gedruckt und in Archivschachteln präsentiert werden.

Das ist vielleicht zu schön, um wahr zu werden.



Der L.S.D.-Verlag ist übrigens eine seriöse Angelegenheit. Lagerfeld arbeitete schon lange mit Gerhard Steidl zusammen (der übrigens die Werke von Günter Grass verlegt hat). Unter dem Imprint LSD (Lagerfeld, Steidl, Druckerei) sind seit 2010 etwa vierzig schön gestaltete und gar nicht mal so teure Leinenbände erschienen, mit Texten von u.a. Virginia Woolf, die Karl Lagerfeld vorgeschlagen hatte. Wer will, kann sich auch für 15 € ein Blanco-Tagebuch (365 Seiten!) in der gleichen schönen Ausstattung bestellen. Karl Lagerfeld war ein Büchernarr. Seine Privatbibliotheken in den verschiedenen Domizilen umfassten 300.000 Bücher. Das ist, vermute ich, die weltweit größte Privatbibliothek. Sowas muss man wollen.

                            Karl Lagerfeld (1933-2019)


Mittwoch, 17. August 2022

Nietzsche (30): Ist Nietzsche nur ein schäbiger Plagiator?


Kurz vor dem Bau der Mauer tauchten 1961 zwei Italiener aus Lucca in Weimar auf und wollten im Nietzsche-Archiv arbeiten. Ziel der Aktion: eine neue Nietzsche-Gesamtausgabe einschließlich der im Nachlass verborgenen Texte. Dabei gab es das Nietzsche-Archiv sozusagen offiziell gar nicht: Nietzsche war in der DDR von Anfang bis Ende verpönt. 

 

Alles an dieser Geschichte ist unwahrscheinlich, aber sie ist in all ihrer vielgliedrigen Exotik wahr geworden: Die Gesamtausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari wurde Wirklichkeit und ist jedem Nietzsche-Interessierten seit 1980 sogar für wenig Geld in einer Taschenbuchausgabe zugänglich; Mazzino Montinari lebte zehn Jahre in Weimar, transkribierte Tag für Tag für Tag die fast unleserlichen Nietzsche-Manuskripte, wurde ein geachteter Bürger der Stadt, liebte und heiratete eine DDR-Deutsche und hatte mit ihr viele Kinder. Die Familie erhielt 1970 eine Ausreisegenehmigung und ließ sich in der Nähe von Florenz nieder.

 

         Mazzino und Sigrid Montinari mit ihren Kindern

Gut, es hat natürlich geholfen, dass er Kommunist war und den DDR-Funktionären schöne Kontakte nach Italien vermitteln konnte. Leider starb Montinari schon mit 58 an einem Herzinfarkt beim Aufräumen seiner Bibliothek. Muss man wohl nicht machen. Aber alles in allem ist dies eine unglaubliche Geschichte, die der Potsdamer Kulturwissenschaftler Philipp Felsch in einem philologisch-politischen Spannungsbogen verarbeitet und mit einem passenden Titel versehen hat: „Wie Nietzsche aus der Kälte kam“ (München 2022, 287 S., 26 €).

 

Eine Sache hat mich besonders interessiert, ja geradezu aufgeregt: Philipp Felsch nennt eines seiner Kapitel „Nietzsches schmutziges Geheimnis“ (S. 175-178). Montinari fällt im Laufe der Jahre sowohl in Nietzsches veröffentlichten als auch in den unveröffentlichten Texten eine große Zahl nicht kenntlich gemachter Zitate auf. Er berichtet darüber seinem Freund in Italien: „Nietzsches Anleihen bei Büchern, die er las, übertreffen alle Vorhersagen.“ War Nietzsche etwa ein Plagiator? Diese Feststellung wird auch von anderen Seiten unterstützt: zwei französische Philosophen wiesen 1971 nach, „dass Nietzsche seine Thesen zum figurativen Charakter der Sprache bis in die Formulierungen hinein den Werken längst vergessener zeitgenössischer Sprachwissenschaftler entlehnt hat“ (S. 185).

 

Es gibt also allen Anlass zu Bedenklichkeit, sollte man meinen. Felsch geht auf sein hartes Urteil in seiner Überschrift allerdings nicht weiter ein; er lässt es so stehen, beharrt auf dem „schmutzigen“ Geheimnis. Das ist das Einzige, was ich ihm in diesem Buch übel anrechne, denn so geht das nicht.

 

Ich habe in meinem Beitrag Nietzsche (18) vom 26. November 2020 auch festgestellt, dass Nietzsche nicht zur Kenntlichmachung von Zitaten neigt: „Er selbst sieht sich nicht in der Tradition der Romantik, sondern als originellen, schöpferischen Denker. Deshalb trifft man bei ihm auch selten die philologische Tugend, die Entwicklung seines Denkens mit Zitaten von Vorgängern zu belegen.“ Nun muss ich zugeben, dass ich erst bei Felsch vom Ausmaß dieser Anleihen erfahren habe. 


Die Franzosen der siebziger Jahre haben der Intertextualität, dem „Tod des Autors“ und der „Geburt des Lesers“ (Roland Barthes) gehuldigt. Sie standen hierin auf ihre Weise Nietzsche sehr nahe, der die romantische Universalpoesie auf eine neue Ebene bringen wollte. Niemand hat ein Recht, Nietzsche jetzt als Plagiator mit einem schmutzigen Geheimnis zu verunglimpfen. "Lernt mich gut lesen", hat Nietzsche geschrieben. Felsch hat es offenbar nicht gelernt.

 

In meinem Beitrag (20) „Textperspektiven bei Nietzsche – ein kleines Experiment“ vom 1. Juni 2021 habe ich versucht zu erklären, worum es hierbei geht: Es ist Nietzsches Methode des Perspektivismus, und das ist beileibe kein Betrug, sondern eine grundsätzlich neue Art zu schreiben.