Vor 25 Jahren habe ich das Unterrichtskonzept „Erfinde
einen Deutschen“ entwickelt. Vor 17 Jahren habe ich es in einer um die
Möglichkeiten der Computerdidaktik erweiterten Form für meine Dissertation „Land
in Sicht“ (aufgeschrieben. Ich halte es immer noch für ein modernes und
nützliches Instrument der Fremdsprachendidaktik, insbesondere, was die damals
noch teilweise utopischen Elemente der Computerdidaktik betrifft.
Hier ist das entsprechende Kapitel aus „Land in Sicht“
(Groningen 1997) ohne den computerdidaktischen Teil. Den bringe ich noch gesondert. Das Ganze
sprengt sowieso die Grenzen des Blogs, ist aber sicher für viele
niederländische Deutschlehrer interessant.
7.3 Das
Begegnungsspiel: "Erfinde eine(n) Deutsche(n)"[1]
"Jeder
Mensch trägt eineinhalb Stunden Programm mit sich herum. Lernt man jemanden
kennen, erfährt man zunächst vom Geburtsort und den Geburtsumständen des
Unbekannten, bekommt einige Eltern- und Geschwisterdetails zu hören, wird
ein wenig über Ausbildungs- und Vermögensverhältnisse des Betreffenden
informiert, danach über die Ehe oder das Scheitern der Ehe, oder das Aus-Gutem-Grund-Nie-Verheiratet-Gewesen-Sein,
schließlich folgt noch ein gewisses Maß an Mitteilung à propos der
beruflichen Situation und neuester Akquisitionen sowie dem Sieg über eine
schwere Krankheit. Im Idealfall werden auch noch Feinschmecker-, Film-,
Theater-, Literatur- und Musikvorlieben diskutiert. Nach neunzig Minuten ist
die Darbietung, tonbandkassettenähnlich, abgelaufen. Alles Spätere wird
Wiederholung oder Variation des bereits Erzählten sein."
(Peter
Stephan Jungk, Die Unruhe der Stella
Federspiel, 1996)
Bei der Vorstellung des folgenden
Unterrichtsmodells geht es uns um die Darstellung einiger Prinzipien, die die
Praxismöglichkeiten eines begegnungsorientierten, dialogischen und
partizipatorischen Landeskundeunterrichts illustrieren und den in Abschnitt
2.8.1 zusammengefaßten Anforderungen auf der Unterrichtsebene entsprechen.
Thematisiert werden die Teile des Konzepts, die in besonderem Maße alltagsästhetische
Schemata und Deutungsmuster und ihre sprachliche Repräsentation betreffen. Es
handelt sich also nicht um einen zeitlich und inhaltlich sequenzierten Unterrichtsentwurf.
Zugrunde liegt eine Unterrichtsreihe, die ich mit Studenten im ersten
Semester in der Lehrerausbildung einer niederländischen Hochschule durchgeführt
habe. Das Modell ist sehr flexibel und kann leicht auf verschiedene Niveaus und
Zeitrahmen zugeschnitten werden.
7.3.1 Das
Simulationsmodell
Ausgangspunkt bei der Entwicklung des hier
vorgeschlagenen Verfahrens ist die Idealvorstellung, die Lernenden während des
Kurses die Kommunikationsgemeinschaft der Zielkultur simulieren zu lassen.
Simulation ist Reduktion: In diesem Sinne möchten wir auch das einleitende
Zitat von Peter Stephan Jungk verstanden wissen, dessen inhärenten Zynismus wir
nicht unbedingt mit in die Didaktik transportieren wollen. Ein
Simulationsspiel reduziert die chaotische Vielfalt der Realität auf ein
überschaubares Maß, in dessen Rahmenordnung freies Spielhandeln möglich wird.
Jeder Lerner also erfindet eine Figur, die
einen Bürger der Bundesrepublik Deutschland (bzw. des jeweiligen Ziellandes)
repräsentieren soll. Die fiktive Biographie dieser Figur wird von Unterrichtsstunde
zu Unterrichtsstunde erweitert und ergänzt. Bereits in der ersten Unterrichtsstunde
werden einige Grundmerkmale festgelegt und vorgestellt: Vor- und Nachname,
dadurch auch das Geschlecht, Alter, Geburtsort, Wohnort und Beruf. Bis auf
eine einschränkende Regel - die Figur sollte nicht jünger als 18 Jahre alt
sein; das ist das Mindestalter der Gruppenteilnehmer - sind die
Kursteilnehmer dabei in ihren Entscheidungen frei. Damit verfügt die Gruppe
über eine nach relativem Zufallsprinzip gestreute Minipopulation der
Bundesrepublik Deutschland. Die Wohn- und Geburtsorte der Figuren werden von
ihren Erfindern auf der Landkarte gezeigt. Dabei werden auch die Bundesländer
ermittelt, in denen die Orte liegen. Die Wohnorte aller Figuren werden von den
Teilnehmern auf ein Arbeitsblatt mit den politischen Grenzen der Bundesrepublik
Deutschland eingezeichnet.
In der Anfangsphase äußern sich die jeweiligen
Erfinder beschreibend über ihre Figuren, die allmählich von "flat
characters" zu "round characters" werden. Sie sollten auch ihr
Äußeres und ihre Charaktereigenschaften beschreiben können. Langsam erhalten
die Figuren ein rudimentäres Alltagswissen über ihren Wohnort und seine
Umgebung, über ihre politische und/oder weltanschauliche Einstellung und einen
Überblick über ihren bisherigen Lebenslauf. Für diese Erweiterungen sind oft
Recherchen nötig, die im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten eingeplant
werden sollten. Optimal ist es, wenn diese Recherchen mit realen oder
simulierten Sprachhandlungen verbunden werden können: z.B werden Informationen
zum Wohnort über einen Brief an das zuständige Fremdenverkehrsamt eingeholt
und ggf. durch die Benutzung von Reiseführern und Nachschlagewerken ergänzt.
Die Verarbeitung soll nicht Referatscharakter haben, sondern in der Gesprächsform
erfolgen, die bei einem zufälligen Kontakt mit einem Stadtfremden realisiert
wird.
Zur Fortsetzung hier klicken:
Bei der Wahl einer eventuellen
parteipolitischen Einstellung der Figur wird im Vergleich mit der
Parteienlandschaft des eigenen Landes eine bundesrepublikanische Partei
ermittelt. Auch hier schreiben die Kursteilnehmer einen Brief an den
zuständigen Landes- oder Bezirksverband der Partei in dem Bundesland, in dem
sie ihre Figur angesiedelt haben. Das daraufhin zugesandte Material ergänzt
das Unterrichtsmaterial und kann für mehrere der folgenden Simulationsphasen
ausgewertet werden.
Der Lebenslauf der Figur soll zunächst den
persönlichen Werdegang einer Person umfassen, wie er bei einer Bewerbung um
eine Arbeitsstelle formuliert wird. Als Vorgaben sind hierzu notwendig:
Beispiele von Lebensläufen und Informationsmaterial zur Schul- und Berufsausbildung
(gut geeignet: Informationsblätter der Arbeitsämter). Die Verarbeitung des
Materials geschieht durch Anfertigung eines fiktiven Bewerbungsschreibens auf
eine (nach Möglichkeit) authentische Stellenanzeige.
Nach diesen noch weitgehend gelenkten Phasen
haben die Figuren so viel Leben gewonnen, daß sich komplexere, offene Simulationsphasen
ergeben können. Der Anfangsimpuls dazu wird durch Auslosung von
Zufallsbegegnungen zwischen je zwei erfundenen Figuren gegeben. Dem geht eine
Phase der Bewußtmachung der Möglichkeiten im Simulationsrahmen voraus: Die
Figuren treffen sich in einer bestimmten Situation und schließen eine
Zufallsbekanntschaft. Welche Situationen können das sein? (Beispiele von
Teilnehmern gewählter Situationen: Auffahrunfall, Zollkontrolle, Saunabesuch,
Demonstration gegen ein Treffen ehemaliger SS-Angehöriger, Besuch einer Modenschau,
Kneipengespräch, Pause während eines Fußballspiels; vgl. hierzu Abschnitt
7.3.5 zu den Situationsgeneratoren).
Die simulierten Kontaktgespräche dieser
Zufallsbekanntschaften werden - u. U. hörspielartig mit Hintergrundgeräuschen
- außerhalb der Unterrichtsstunden auf Kassette aufgenommen, in maximaler
Länge von fünf Minuten, da sie vorgeführt und transkribiert werden sollen.
Die Bewußtmachungsphase der Erfahrungsmuster
in der alltäglichen Lebenswelt beim Kennenlernen und Interagieren zweier oder
mehrerer Personen sollte in einem Gruppen-Brainstorming zu einem breiten
Spektrum an Möglichkeiten führen, die sich auch in unterschiedlicher Weise
dokumentieren lassen, also über verschiedene Medien in die Teilnehmergruppe
rückführbar sind.
Die individuellen Wege, die von den
Kursteilnehmern in wechselnden Kleingruppenzusammenstellungen jetzt gewählt
werden, werden in den Unterrichtsstunden in kurzer Form präsentiert. Die
lebensnahe Vielfalt von Situationen und Inhalten darf dabei durchaus auch zum
Einsatz illusionsunterstützender Mittel wie Spielzeugfigürchen etc. führen bzw.
durch szenisches Spiel der Teilnehmer dargestellt werden (vgl. Abschnitt
7.3.7.1).
Für die Lernenden können die hier
zusammengefaßten Aufträge wie folgt formuliert werden:
Einleitung: Wir gestalten den Unterricht mit
Hilfe eines methodischen Rahmens, der das Lernen für Euch interessanter und
lebensnäher machen soll. Jeder von Euch soll eine fiktive deutsche Person
erfinden: Du denkst Dir eine Figur aus, einen ganz normalen Menschen, der
aber Merkmale haben sollte, die ihn für Dich interessant machen. Du
entscheidest, ob diese Figur männlich oder weiblich ist, gibst ihr einen Namen,
bestimmst das Alter, legst Geburtsort, Wohnort und Beruf fest und machst Dir
ein paar Gedanken, was für ein Mensch (Charakter, Lebensumstände) Deine Figur
wohl ist. Die Figur lebt dann also irgendwo in der Bundesrepublik, und Du
wirst sie im Laufe unseres Kurses weiterentwickeln und sie besser kennenlernen.
Deine Figur wird auch den anderen Figuren begegnen, die die anderen Teilnehmer
der Gruppe erfunden haben. Sie werden miteinander sprechen und sich kennenlernen,
sich Briefe schreiben, sich befreunden und zerstreiten können. Da die Figur
aber nur in Deiner Phantasie existiert, ist sie in all ihren Eigenarten und
Fähigkeiten völlig davon abhängig, was Du aus ihr machst. Du schaffst die
Grundlagen für ihre Lebensumstände, und um das tun zu können, brauchst Du auch
eine Reihe von Informationen.
In
jeder Unterrichtsstunde wird es Aufträge geben, die die Entwicklung der Figuren
vervollständigen und das Verhältnis der Figuren untereinander koordinieren.
Auftrag
1: Erfinde eine fiktive deutsche Person. Lege folgende Merkmale fest:
-
Vor- und Nachname (männlich/weiblich)
-
Geburtsjahr
-
Geburtsort
-
Wohnort
-
Ausbildung/Beruf
-
politische/weltanschauliche Einstellung
Auftrag
2: Du brauchst Informationen über den Wohnort Deiner Figur und dessen nähere
Umgebung. Schreibe einen Brief an das Fremdenverkehrsamt oder ein Reisebüro
des Ortes bzw. eines größeren Ortes in der Umgebung und bitte um Informationsmaterial.
Zur Adressenbeschaffung verwende z.B.: G. Theato (ed.), Adreßbuch Deutschland 1995/96, München: Heyne 1995 oder Öckl, Taschenbuch des öffentlichen Lebens,
Bonn: Festland Verlag (jeweils die neueste Auflage).
Auftrag
3: Deine Figur hat eine politische Einstellung (sie vertritt evtl. bestimmte
politische Meinungen, wählt, demonstriert u.ä.). Stelle fest, welche
politische Partei, Gewerkschaft, Vereinigung, Bürgerinitiative in
Deutschland am ehesten dieser Einstellung entspricht und schreibe einen Brief
an den Landes- oder einen Bezirksverband dieser Organisation (in dem
Bundesland bzw. Bezirk, in dem Deine Figur lebt) und bitte um
Informationsmaterial (zu den Adressen siehe Auftrag 2).
Auftrag
4: Bereite einen Kurzvortrag (ca. 3 Minuten) zum Wohnort Deiner Figur und
dessen näherer Umgebung vor. Benutze dazu das Material, das Dir vom Fremdenverkehrsamt
zugeschickt worden ist. Nötigenfalls kannst Du zusätzlich in einem größeren
deutschen Lexikon (Brockhaus, Meyer) oder in einem Reiseführer den Ort und die
Landschaft nachschlagen.
Auftrag
5: Deine Figur hat in der Zeitung eine interessante Stellenanzeige gesehen
und will sich darauf bewerben. Schreibe für Deine Figur eine kurze Bewerbung
und einen Lebenslauf (hierzu erhältst Du ein Muster). Du benötigst
Informationen zur Schul- und Berufsausbildung in Deutschland. Hierzu kannst Du
z.B. folgendes Material benutzen: eine aktuelle Auflage von Tatsachen über Deutschland, Frankfurt am
Main: Societätsverlag; Informationsblätter und Broschüren der Arbeitsämter).
Auftrag
6: Jeweils zwei der erfundenen Figuren machen eine Zufallsbekanntschaft
(Auslosung der Paare). Denkt Euch eine Situation aus, in der sich Eure beiden
Figuren zufällig begegnen könnten. Die Situation sollte so beschaffen sein, daß
die Figuren in ein Gespräch kommen, in dem sie etwas mehr über sich, ihre
Lebensumstände und ihre weltanschaulichen/politischen Einstellungen mitteilen
und evtl. auf aktuelle Ereignisse oder Themen in der Bundesrepublik
Deutschland eingehen.
Beachtet
dabei die eventuell vorhandenen sozialen sowie alters- und geschlechtsspezifischen
Unterschiede Eurer Figuren und macht adäquaten Gebrauch davon in psychologischer
bzw. inhaltlicher und situationsbezogener Hinsicht.
Bereitet
das inhaltliche Konzept des Gesprächs gemeinsam vor und spielt die Situation
dann durch. Nehmt das simulierte Gespräch mit dem Kassettenrekorder auf. Wenn
Ihr Spaß daran habt, könnt Ihr die Situation mit Hintergrundgeräuschen
realistischer gestalten. Dauer des Gesprächs: 3-5 Minuten.
In den reflektierenden Auswertungsphasen
findet unter der Leitkategorie des interkulturellen Lernens eine
Resystematisierung der Inhalte statt. Das Bedürfnis nach systematischem Wissen
kann auch von den Kursteilnehmern selbst im Simulationsmodell umgesetzt
werden. So kommen Kursteilnehmer, die eine besonders junge Figur erfunden
haben, ohne weiteres auf die Idee, die Eltern dieser Figur hinzuzuerfinden
oder die Figur mit älteren Personen zu konfrontieren. Auf diese Weise kann in
den Gesprächen auch historisches Wissen zum Zuge kommen.
7.3.2 Ouvertüre:
"What's in a name"?
Gleich die erste kreative Aktion, die Erfindung
bzw. die Wahl eines Namens, bietet reichlichen Stoff für Begegnungslernen und
Begegnungsanalysen. Die Lernenden machen nämlich Gebrauch von verschiedenen
Möglichkeiten der Namengebung: Manche greifen auf die Namen konkreter Personen
zurück, die sie einmal kennengelernt haben oder die zum Bekanntenkreis ihrer
Familie gehören; andere wählen Namen, die ihnen aus den Medien geläufig sind,
vor allem die Namen von Sportlern und Figuren aus populären Fernsehserien; wieder
andere entscheiden sich für Namen, die für ihr Gefühl deutsch klingen, ohne
daß sie bewußt ein bestimmtes Vorbild dafür benennen könnten; und schließlich
werden auch sprechende Namen erfunden, die ganz bewußt bereits ein Fremdbild
transportieren.
Im Anschluß an die Vorstellungsphase lassen
sich zu diesen Kategorien reflektierende Gespräche führen, in denen bereits
die ganze Methodik und Zielabsicht des Begegnungsspiels zum Tragen kommt.
Wir geben im
folgenden eine Reihe von Beispielen: deutsche Namen, die im Studienjahr 1992/93
in einer Gruppe 18jähriger niederländischer Deutschstudenten erfunden wurden:
Steffi
Werner
Helga
von Klinkenhoffen
Brigitte
Matthäus
Wilhelm
Högel
Dieter
Tannenbaum
Heiko
Huber
Stefan
Spethmann
Mathias
Helfrich
Heinrich
Krankenstein
Fritz
Bradwurst
Wilhelm
Scholz
Walter
Buchholz
Jürgen
Klinsmann
Otto
Dohrenbusch
Marcus
Frankenstein
Edmund
Hasse
Klaus
Sämmler
Dieter
Läufer
Wilhelm
Flick
Heinrich
Bradwürst
In der Analyse der Namengebung sind die
Lernenden kompetenter als der Dozent: sie überblicken generationsbedingt ganz
andere Bereiche des Alltags, des Sports, der Fernsehserien, Zeitschriften und
Computerspiele, die hier zum Teil Pate gestanden haben. Viele traditionelle
Realienkategorien sind hier berührt: Geschichte, Literatur, Film, Sport,
Wirtschaft etc. Die Aufgabe des Dozenten ist es, dieses Spektrum für die Lerngruppe
offenzulegen und zu besprechen.
7.3.3 Zwischenspiel:
Interaktion und Reflexion
Es ist leicht nachzuvollziehen, daß in solch
einem Modell alle (fremd)sprachlichen Fähigkeiten und -fertigkeiten integriert
und differenziert geübt werden können. Wir gehen im Rahmen dieser Arbeit nur
auf ausgewählte Aspekte ein, die in besonderem Maße mit unseren dialogischen
und interkulturell-partizipatorischen Zielsetzungen verbunden sind.
Der Unterricht nach dem hier vorgestellten
Modell vollzieht sich im ständigen Wechsel dreier Phasen: Vorbereitung,
Durchführung und Dokumentation sowie Auswertung einer Simulationsphase. In
jeweils zwei aufeinander folgenden Unterrichtsstunden sollten alle drei Phasen
einmal durchlaufen werden. Zeitaufwendige Teile einer Phase können aus dem
Unterricht ausgelagert werden, es sei es handelt sich um besonders gruppenattraktive
Teile. Die Notwendigkeit dieses raschen Wechsels liegt auf der Hand: Da es
nicht um ein Spiel mit wenigen festen Regeln geht, das dann stundenlang
gespielt werden kann, sondern um ein Lernspiel, das von den Beteiligten mit
ständig wechselnden Inhalten gefüllt wird, muß die Vergewisserung dieser
Inhalte durch Kontroll- und Reflexionsphasen gewährleistet werden.
Der Auswertungs- und Reflexionsphase kommt
besondere Bedeutung zu, da in ihr die Interaktions- und Lernvorgänge der
beiden vorangegangenen Phasen bewußt gemacht werden, was idealerweise mit
interkulturellen Lerneffekten verbunden ist.
Die in der Simulationsphase auf Band
festgehaltenen Dialogtexte der Kursteilnehmer werden in der Evaluationsphase
zu Unterrichtsmaterial. Je nach Gewichtung einer Simulationsphase empfiehlt
es sich dabei, die Texte (evtl. in Auszügen) transkribieren zu lassen und
allen Mitgliedern der Gruppe auszuhändigen.
Im folgenden werden Evaluationskriterien für
Lernerdialoge von 3-5 Minuten Länge vorgeschlagen, die hörspielartig auf
Kassette gesprochen wurden. Die Kassette wird in der Teilnehmergruppe
vorgespielt und mit der Gruppe nach drei Kategorien ausgewertet: Situationsadäquanz,
sprachliche Adäquanz und Zielkulturadäquanz.
- Situationsadäquanz: Die Teilnehmer können ihre
Meinung zur Angemessenheit der im Dialog realisierten Situation äußern. Ist
sie als Ganzes realistisch? Ist sie in einzelnen Teilen unrealistisch? Ist sie
psychologisch glaubwürdig? Was gefällt daran, was nicht? Die Dialogpartner
selbst erhalten Gelegenheit, ihren Text und seine Entstehung zu kommentieren
und sich gegen eventuelle Kritik zur Wehr zu setzen.
Situation und thematisierte Inhalte des
realisierten Dialogs werden sich bei diesem Gespräch nicht trennen lassen. Letztere
können angesprochen werden, sollten aber für eine systematische Auswertung in
der dritten Phase der Evaluation aufgehoben werden.
Diese erste Phase hat vor allem auch die
psychologische Funktion, das Bedürfnis nach Kommentar, Lob, Spannungsentladung
und Heiterkeit in der Teilnehmergruppe zu befriedigen.
- Sprachliche Adäquanz: Zu Beginn dieser Phase
wird ggf. die Transkription des Dialogtextes den Kursteilnemern ausgehändigt.
Sprachliche Korrekturen sollten von Beginn des Evaluationsgesprächs an
explizit eingebracht werden, damit niemand gezwungen ist, eventuell Textteile
in fehlerhafter Form zu zitieren. In dieser zweiten Phase werden auffällige
Fehler gesammelt und kurz besprochen. Dabei wird auch die idiomatische und
rhetorische Angemessenheit in sozialem und psychologischem Bezug auf die
sprechenden Figuren beurteilt.
- Zielkulturadäquanz: Bereits bei der
Besprechung der Situationsadäquanz können Punkte genannt worden sein, deren
systematische Behandlung für diese Phase aufgehoben wird, in der bewußtes
interkulturelles Lernen stimuliert werden soll.
Der Text wird auf Fehlinformationen,
Informationslücken, Vorurteilsinterferenzen und Eigenkulturinterferenzen hin
untersucht.
Die Beurteilung, ob ein Text in all seinen
Einzelheiten die Zielkultur angemessen vertritt, bildet methodisch das
schwierigste Problem des vorgestellten Verfahrens. Ziel der Beurteilung kann
jedoch nicht eine gesellschaftswissenschaftliche Analyse des Lernerdialogs
sein, sondern die punktweise Bewußtmachung, Thematisierung, Problematisierung
und Diskussion inhaltlicher Besonderheiten sowie von Fall zu Fall die Korrektur
falscher Informationen und die Erteilung fehlender Informationen.
Das methodische und didaktische Problem
liegt zum einen in der beschränkten Kompetenz der Lernenden, zielkulturadäquate
Situationen darzustellen. Diese Kompetenz sollte jedoch auch nicht unterschätzt
werden, denn die Lernenden schöpfen - jedenfalls wenn sie einem benachbarten
Kulturraum angehören - aus einem beträchtlichen Informations- und
Erfahrungspotential. Die fiktiven Lernerdialoge sind jedoch von den
alltagsästhetischen Schemata und Deutungsmustern sowie von auf die Zielkultur
bezogenen Vorurteilen, begegnungsgeschichtlichen Fossilien und verzerrtem
Wissen durchwirkt.
Zum anderen liegt das Problem in der
gleichfalls beschränkten Kompetenz des Lehrers, der - auch wenn er ein native speaker sein sollte - natürlich
ebenfalls nicht in der Lage sein kann, die denkbare Vielfalt der von den
Lernenden erfundenen Situationen auf ihre zielkulturelle Adäquanz hin sicher
zu beurteilen. Wir haben das Problem der kulturellen Doppelkompetenz des
Fremdsprachenlehrers bereits am Anfang dieses Kapitels angesprochen.
In der Anfangsphase des Simulationsmodells
konzentriert sich das Gesprächstraining auf die Form des Kontaktgesprächs. Im
Laufe des Kurses kann jedoch eine große Palette von Gesprächsformen trainiert
werden. Eine Fülle von alltäglichen Dialogtypen sind dafür geeignet:
"Plauderei, Unterhaltung, Talk-Show, Befragung, Beratung, Verhör, Examen,
Interview, Kolloquium, Streit, Zank, Klatsch, Diskussion, Disput, Debatte,
Diskurs, Verhandlung usw." (Hess-Lüttich 1993: 233; vgl. auch
Hundsnurscher 1994).
7.3.4 Gruppenanalyse
eines Kontaktgesprächs
Der folgende Beispieldialog ist ein Produkt
des Auftrags zur Herstellung von Zufallsbekanntschaften zwischen jeweils zwei
erfundenen Figuren (siehe oben). Wir haben für die Präsentation im Zusammenhang
dieser Arbeit aus ca. sechzig auf Kassette vorliegenden Dialogen mit Absicht
ein im Hinblick auf die Aufgabendurchführung nicht besonders positives und
reichhaltiges Beispiel ausgewählt. Die Autoren des Dialogs haben sich nur
global an den Vorgaben orientiert, nur sehr wenig Zeit in das Vorbereitungsgespräch
zur Inszenierung des Dialogs investiert und die performative und inhaltliche
Abwicklung mit allerlei Albernheiten durchsetzt, mit denen man im schulischen
Alltag rechnen muß. Unsere Absicht ist zu zeigen, daß auch mit solchen
Dialogen die Lernziele einer begegnungsorientierten Landeskunde erreichbar
sind.
Wir präsentieren den Text mit den originalen
grammatischen Fehlern der auf Kassette gesprochenen Version. In Abschnitt
7.3.4.1 - 7.3.4.2 geben wir einen Bericht von der Gruppenanalyse dieses Dialogs.
Szene: Nach einer Modenschau. Ort: Bremen
(Marcus:
ein Kellner von der Insel Sylt; Brigitte: ein Model aus Bremen)
Sprecher: So,
herzlichen Dank für Ihr Interesse. (Beifall)
Marcus: Sie waren ja wunderbar. Darf ich mir
vorstellen: mein Name ist Marcus Bücher.
Brigitte: Ach, ich bin Brigitte.
Marcus: Wollen Sie vielleicht etwas trinken
mit mir?
Brigitte: Ja, gern. Ein Pisang-Ambon, bitte.
Marcus: Können Sie mir etwas erzählen von
Ihrem Beruf?
Brigitte: Ich bin in die Branche gekommen,
weil ich eine sehr gute Figur habe. Finden Sie auch nicht?
Marcus: Ja, das finde ich auch, ja. Ja, sehr
hübsch. Müssen Sie auch viel tun, um die gute Figur zu haben?
Brigitte: Ja, natürlich soll man das. Man muß
am ersten gesund essen, viel Training doen ... tun, so als Fitness. Ich, äh,
jeden Morgen mache ich das. Machen Sie auch Fitness? Sie sehen so gut aus.
Marcus: Ja, ich mache auch zwei Stunden in
der Woche Fitness und sonst spiele ich noch ein bißchen Fußball. Aber die
Möglichkeiten auf der Insel, woher ich kommen, sind da nicht so gut zu.
Brigitte: Wo kommen Sie denn her?
Marcus: Ich wohne auf Sylt in Norddeutschland, wissen Sie?
Brigitte: Nein,
ich kenne den Ort nicht.
Marcus: Das ist eine Insel ganz oben in
Deutschland. Die liegt fast an der Grenze mit Dänemark.
Brigitte: Ach so. Bist Du dort auch geboren?
Marcus: Nee, ich bin in Essen geboren, aber
ich wohne da schon seit zehn Jahren. Und woher kommen Sie?
Brigitte: Ich komme aus dem schönen Ort
Heidelberg. Das kennen Sie vielleicht, oder nicht? Goethe spricht auch immer in seinen Büchern über Heidelberg, oder
lesen Sie nie Goethe?
Marcus: Ich lese immer die Fabelchenzeitung. Aber ich interessiere
mich auch für Mode.
Brigitte: Ich interessiere mich schon lange
für die Mode. Ich arbeite für die Zeitschrift
Burda. Das ist eine Zeitschrift für Mode, und ab und zu mache ich auch noch
einige Modeshows für das Geld, wissen Sie? Und was machen Sie?
Marcus: Ich arbeite in einem
Hotelrestaurant, und da verdiene ich mein Brot mit. Ich habe drei Monate im
Jahr frei. Haben Sie viel Freizeit? Oder was machen Sie mit Ihrer Freizeit?
Brigitte: Ich gehe oft aus, weil die Männer
mich lieben, und ich mache oft Ferien, natürlich, zum Beispiel im Östenreich
im Winter, und im Sommer gehe ich immer nach Frankreich, weil das Klima dort
sehr gut ist, und dann kann ich natürlich braun werden. Das ist sehr wichtig
für meinen Beruf.
Marcus: Ja, das verstehe ich. Ja, und
interessieren Sie sich jetzt auch für Politik oder so oder haben Sie da kein Interesse
mehr für?
Brigitte: Ich finde Politik immer sehr
langweilig. ich kann mich nicht so lange konzentrieren, denn die reden immer
zu langweilig und auch sehr schwierig. ich verstehe keine Politik, aber ich
wähle FDP, und Sie?
Marcus: Ja, ich wähle SPD. Aber ich
interessiere mich auch nicht soviel für die Politik, aber ich finde es
wichtig, daß ich mich doch hören lassen kann in Deutschland, daß meine Stimme
gehört wird.
Brigitte: Darf ich Marcus sagen?
Marcus: Ja, natürlich. Dann sage ich auch
Brigitte!
Brigitte: Ja, das ist gut. Ich wohne in der
Nähe. Werden wir jetzt gehen? Wir können mit dem Auto fahren. Ich habe ein sehr
schönes Auto. Ich hab' einen Ferrari.
Marcus: Ja, dann wollen wir jetzt mal
fahren! Ist Ihr Mann nicht zuhause? Sind Sie nicht verheiratet?
Brigitte: Nein, ich bin nicht verheiratet. Ich
bin nur 19 Jahre alt, und ich finde das zu jung, um zu heiraten. Finden Sie
auch nicht?
Marcus: Ja, das finde ich auch. Nicht so
früh heiraten!
Brigitte: Sind Sie verheiratet?
Marcus: Nein, ich wohne alleine in einer
Wohnung.
Brigitte: Ist das nicht sehr langweilig?
Marcus: Ja, manchmal fehlt da eine Frau,
aber es hat auch einige Vorteile. Finden Sie auch nicht?
Brigitte: Finde ich auch, aber jetzt gehen
wir.
Marcus: Herr Ober, können wir zahlen?
Ober: Ich
komme gleich!
Marcus: Wieviel bekommen Sie von mir?
Ober: Mal erst sehen, mal rechnen: 10 Mark,
20, das alles 40 Mark.
Marcus: So, bitte. Den Rest können Sie
behalten.
Ober: Ah, danke!!
Marcus: Wiedersehen!
Ober: Wiedersehen!
7.3.4.1 Situationsadäquanz
Die Gesamtsituation und ihre Durchführung
wird von der Gruppe in ihren ersten Reaktionen negativ beurteilt. Vor allem mit
der sexuellen Anzüglichkeit, die das Gespräch durchzieht und die sich auch
expressiv in der Präsentation ausdrückt, haben die weiblichen und ein paar
männliche Gruppenteilnehmer Probleme. Der Erfinder des Models Brigitte muß
erleben, daß er sich in eine unangenehme Lage gebracht hat und wird im
weiteren Verlauf des Kurses versuchen, seine Figur mit seriöseren Merkmalen
auszustatten. Daß er sie für die Zeitschrift Burda arbeiten läßt, war übrigens
seinerseits bereits eine Vorsichtsmaßnahme zur Abschwächung des sexuellen
Elements, das von ihm vor Kenntnis dieses Gesprächsauftrags noch stärker
geplant war: Brigitte sollte ursprünglich für Pornozeitschriften arbeiten.
Auch die Punkte, an denen die Kongruenz von
Rolle und "performance" durchbrochen wird durch
"Albernheiten" wie z.B. "Lesen Sie nie Goethe?" und
"Ich lese immer die Fabelchenzeitung", werden von der Gruppe eher
negativ bewertet, obwohl sie sich zunächst darüber amüsiert hat.
Der Eignung des Textes für interkulturelles
Lernen tun derartige Albernheiten jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil: Die
hier angeführten Beispiele werden in der dritten Evaluationsphase ausdrücklich
zu Unterrichtsstoff, da sie in ihrem jeweiligen Kontext typische interkulturelle
Fehlleistungen darstellen. Aufgabe des Dozenten muß im vorliegenden Fall also
sein, den Text für die Gruppe und für den Unterricht zu retten, indem er
darauf hinweist, daß die dargestellte Situation so unrealistisch nun auch
wieder nicht ist, daß die ärgerlichen bzw. befangenen Reaktionen der Gruppe
auf den Text den durchaus vorhandenen sachlichen Gehalt überdecken und die
beiden Autoren sich doch letztlich völlig an den Auftrag gehalten haben.
7.3.4.2 Zielkulturadäquanz
Im obigen Abdruck des Beispieltextes sind
die zu thematisierenden Anschauungsformen und Deutungsmuster durch Kursivdruck
hervorgehoben. Es handelt sich um verschiedene Typen:
- Kontraste
- Interferenzen (Pisang-Ambon,
Fabelchenzeitung)
- Deutungsmuster (Goethe, Heidelberg)
- nicht adäquat eingesetztes Sachwissen (Sylt)
- Vorurteilsstrukturen (hohes Trinkgeld)
Ausgangspunkt bei der Behandlung dieser
Kontraststellen sollten - das wurde bereits festgestellt - den Lernenden
besonders ins Auge springende Kontrastelemente sein. Ihr Vorhandensein ist
Voraussetzung für die erstmalige Konfrontation mit diesem Verfahren in einer
Gruppe. Diese Qualität der Kontraststellen ist allerdings nicht immer sicher
vorhersagbar.
Ist das Verfahren erst einmal als solches
bekannt, entwickelt die Lernergruppe auch die Fähigkeit, zunächst nicht
erkannte Kontraststellen zu ermitteln, zumindest aber eine Treffsicherheit in
der Äußerung von Vermutungen über das Vorhandensein von Kontrasten und
Interferenzen.
Die Qualität des In-die-Augen-Springens
stellt sich häufig bei falsch oder übertrieben dargestellten Textteilen ein,
die aus Unwissen, Unsicherheit, Übermut oder Heiterkeits- und Ironiebedürfnis
entstehen. Eine der oben bereits erwähnten "Albernheiten" besitzt
diese Qualität, die von der Gruppe ohne weitere Lenkung sofort erläutert werden
konnte: "Ich lese nur die Fabelchenzeitung". Die Eindeutschung des
jedem Niederländer bekannten Begriffs "Fabeltjeskrant", einer
Gute-Nacht-Sendung des niederländischen Fernsehens für Kinder, verstärkte für
die Lernergruppe den komischen Effekt, der gerade aus der für jeden deutlichen
Nicht-Existenz des spontan übersetzt-erfundenen Wortes in der Zielkultur
hervorging.
Niemand aus der Gruppe kannte eine deutsche
Gute-Nacht-Sendung für Kinder, obwohl über 80% der Teilnehmer das deutsche
Fernsehen empfangen konnten. Dieses Kultursegment paßt offenbar nicht in das Blickfeld
von Achtzehnjährigen. Aber in dem Zusammenhang, der sich hier ergeben hat,
waren alle überzeugt, daß das eigentlich ein landeskundliches Manko der Gruppe
sei, das sich noch am gleichen Abend beheben ließe.
Eine zweite Eigenkulturinterferenz im
Beispieltext ist für die niederländischen Lernenden etwas verborgener, aber
nach dem ersten Beispiel der "Fabelchenzeitung" doch selbsttätig zu
erschließen gewesen: die junge Frau trinkt einen "Pisang-Ambon".
Beim ersten Abspielen der Kassette wurde auch an dieser Stelle gelacht,
allerdings nicht, weil das Getränk als unpassende Interferenz erkannt wurde,
sondern weil es sich dabei nach Meinung der Studenten eher um einen Standardlikör
der kleinbürgerlichen niederländischen Hausfrau handelte. Daß Pisang-Ambon
als Getränk, das aus einem ehemaligen niederländischen Kolonialgebiet
stammt, in Deutschland relativ unbekannt sein könnte, darauf kam die Gruppe
erst nach Einübung des Denkschemas am erstgenannten Beispiel.
Beim anschließenden Gespräch über ein
adäquates Getränk aus dem deutschen Kulturkreis ergab sich die Möglichkeit, das
Problem der sozialen Adäquanz einzuführen. Ein Likör (Kirschlikör?) wäre bei
kleinbürgerlichem Hintergrund der Frau durchaus angemessen, ebensogut hätte
sie aber einen Schickeria-Cocktail zu sich nehmen können. Der didaktische Zweck
des Gesprächs war, die Kategorie schichtenspezifisch verschiedener Lebensweisen
im Alltag in den weiteren Prozeß der Figurenentwicklung einzuführen.
Ein Beispiel für ein verzerrtes Wissen, das
sich aus der Addition zweier klischeehafter Wissensbrocken ergibt, ist das
betonte Zusammenbringen von "Heidelberg" und "Goethe":
"Goethe spricht auch immer in seinen Büchern über Heidelberg".
Heidelberg war für den betreffenden Lerner nur ein völlig isolierter Gleichsetzungsbegriff
für "Deutsche Kultur". Keine einzige weitergehende Information stand
dahinter (außer "Süddeutschland"). Über "Goethe" als
weiteren Begriff der deutschen Kultur waren zwar mehr Informationen
vorhanden, aber doch nicht genug, um die in ihrer Formulierung falsche Verallgemeinerung
zu verhindern. Daß Goethe wirklich einige Male in Heidelberg war, ändert
nichts an dem hier analysierten Wahrnehmungsmuster. Da Heidelberg der
Geburtsort der von dem Lernenden erfundenen Figur war, ergab sich der
Anschlußauftrag für ihn, sich über die Bedeutung von Heidelberg im deutschen
Kulturkontext zu informieren und diese Informationen in einer späteren
Simulationsphase seiner Figur zu verarbeiten.
Ein Beispiel dafür, wie eine richtige
Information im Kontext der erfundenen Situation diesen für einen deutschen
Rezipienten unglaubwürdig macht, ergibt sich aus dem Umstand, daß das Bremer
Fotomodell die Insel Sylt nicht kennt. Natürlich hätte der Lerner, der den Sylter
Kellner zu betreuen hatte, diese Panne bei ausreichender Vorbereitung der
Arbeitsaufträge verhindern können. Seine Information, daß die Insel im Norden
Deutschlands liege, wirkt - in Bremen ausgesprochen - besonders grotesk. Daß
die Panne trotzdem auftritt, macht sie zu einer schönen Möglichkeit
interkulturellen Lernes. Die niederländischen Nordseeinseln entbehren
jeglichen mondänen und neureichen Elements. Das gilt auch für das
niederländische Bürgertum und Kleinbürgertum unter Einschluß der Intellektuellen,
das auf diesen Inseln Urlaub macht. Jegliche Information über eine teure
deutsche Jet-Set- und FKK-Insel Sylt wird in den Niederlanden lieber verdrängt.
"Sylt" enthält zuviel, was Niederländer an Deutschen nicht gerne sehen.
Dieses Beispiel ließe sich hervorragend als
Ausgangspunkt einer vergleichenden soziologischen und sozialpsychologischen
Betrachtung verwenden, und Ansätze dazu sind in dem Gespräch mit der niederländischen
Lernergruppe auch zu verwirklichen gewesen. Zum Abschluß noch das Beispiel
eines unbewußt zutreffenden eingebrachten Kulturelement: Was bei
"Pisang-Ambon nicht funktionierte, funktionierte bei der Modezeitschrift
"Burda" sehr wohl. Burda ist im niederländischen Zeitschriftenhandel
(in niederländischen Ausgaben) sehr breit vertreten, nur ist das Bewußtsein,
daß es sich um einen deutschen Verlag handelt, nicht vorhanden. Der Student
sprach auf dem Band das Wort "Burda" auch niederländisch aus, also
"ü" statt "u". Für sein Gefühl hatte er eine niederländische
Zeitschrift genannt.
7.3.5 Zum
Vergleich: ein Lehrwerkdialog
Der folgende Dialog stammt aus einem
Lehrwerk der neuesten Schulbuchgeneration in den Niederlanden. Wir haben
keine systematische Untersuchung zur Qualität der Dialoge in niederländischen
Lehrwerken durchgeführt und können dazu deshalb auch keine objektiven
Aussagen machen. Dennoch möchten wir feststellen, daß es sich bei dem hier
präsentierten Dialog nicht um ein ausgesuchtes Negativbeispiel handelt,
sondern daß er in der Art und Weise seiner Konstruiertheit eher ein typisches
Beispiel für die derzeit gebräuchlichen niederländischen Deutschlehrwerke
darstellt.
Eine
Austauschschülerin kommt nach Dresden und geht mit ihrer 'Gastschwester' durch
die Stadt.
Esther: Das ist also meine erste Bekanntschaft mit
Dresden. Wo gehen wir zuerst hin?
Käthe: Wir laufen vom Bahnhof erst mal Richtung
Stadt, in Elbrichtung.
Esther: Das sieht hier ja alles ganz neu und gar
nicht schön aus. Ich dachte immer, Dresden wird das Elbflorenz des Nordens
genannt.
Käthe: Das muß früher auch so gewesen sein, aber
kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Stadt völlig von Bomben
zerstört worden.
Esther: Ja, wir haben in der Schule bei Geschichte
einen Film darüber gesehen. Das war ja furchtbar. Und was geschah nach dem
Krieg?
Käthe: Nun, nach dem Krieg, in der Zeit der DDR,
hat man ganz schnell Häuser gebaut, aber man hatte damals nicht viel Geld,
also ist das entstanden.
Esther: Da kann man nur Mitleid haben mit den
Leuten, die darin wohnen. Was ist das denn für eine Ruine?
Käthe: Das war eine berühmte Kirche, die
'Frauenkirche'. Man will sie jetzt wieder aufbauen, aber viele Leute meinen,
man sollte die Ruine als Mahnmal stehen lassen.
Esther: Man hat doch aber schon viel aufgebaut,
habe ich gehört?
Käthe: Ja, das ist auch so. Komm, wir gehen mal
weiter zu den Brühlschen Terrassen, da kannst du sehen, was man alles
aufgebaut hat und wie schön die Stadt eigentlich war und wieder wird.
Esther: Das sieht ja wirklich toll aus! Was ist das
denn für ein Baustil?
Käthe: Das ist Barock, darum nannte man die Stadt
'Elbflorenz', Florenz an der Elbe also.
Esther: Und das Gebäude da drüben?
Käthe: Das sind alte Schlösser, jetzt aber schon
lange Museen. Das berühmteste ist der 'Zwinger', da gehen wir gleich hin, wenn
du willst.
Esther: Ja gern. Eigentlich mag ich Museen nicht
so, aber dieses scheint mir 'was Besonderes. Du, Käthe, die Kirche da, die
finde ich schön. War die auch kaputt?
Käthe: Ja, die auch. Das ist die Hofkirche und
dahinter ist die Residenz. Du mußt nämlich wissen, Sachsen war früher ein
Fürstentum. August der Starke wurde im 17. Jahrhundert König von Polen. Er war
ein mächtiger Herrscher, der Dresden als seine Hauptstadt besonders prachtvoll
haben wollte.
Esther: Hieß er 'der Starke', weil er so kräftig
war?
Käthe: Ja, und nicht nur deswegen. Er soll auch
mehr als hundert Kinder verweckt [sic!] haben. Außereheliche und bei mehreren
Frauen, versteht sich.
Esther: Nanu, daß der noch Zeit zum Regieren übrig
hatte!
Käthe: Vielleicht brauchte man damals weniger
Zeit dazu. Siehst du jenes Gebäude? Das ist die Semperoper.
Esther: Was für eine Oper?
Käthe: Die Semperoper. So hieß der Architekt. Es
ist wirklich ein berühmtes Opernhaus. Die Karten für die Vorstellung sind kaum
zu haben.
Esther: Ich mach' mir nichts aus Opern, aber das
Gebäude möchte ich doch mal sehen.
Käthe: Gut, das machen wir. Und danach können wir
mit dem Dampfer die Elbe rauffahren.
Esther: Prima, das würde mir tollen Spaß machen.
(Der Text wurde folgendem Lehrwerk
entnommen: Ruud Grundeken, Ingeborg Doornbos-Heinzgen, Henri Pieper, Regenbogen
4 Vwo. Totaalmethode Duits, Baarn: BKE 1996, 36f. Er steht im Lehrwerk in
gedruckter und gesprochener Version zur Verfügung.)
Der Grundfehler dieses synthetischen Dialogs
ist der gutgemeinte Versuch, verschiedene Kategorien landeskundlichen
Realienwissens (architektonische, stadt-, landes- und kulturgeschichtliche
Informationen) in einen "natürlichen" Dialog zweier Schülerinnen zu
pressen. Was dabei herauskommt, ist in jeder denkbaren Hinsicht kontraproduktiv:
Die Versuche der Autoren, den lebensweltlichen Hintergrund und die
Wahrnehmungsperspektive der Mädchen einzubeziehen, sind entweder hilflos
("Eigentlich mag ich Museen nicht so, aber dieses scheint mir 'was
Besonderes" und "Ich mach' mir nichts aus Opern, aber das Gebäude
möchte ich doch mal sehen") oder zynisch ("Da kann man nur Mitleid
haben mit den Leuten, die darin wohnen").
Die Autoren nehmen keinerlei Rücksicht auf
die Realität und Erlebniswelt des deutschen und niederländischen Mädchens.
Schon bei der Namensgebung verfallen sie in eine falsche Klischeehaftigkeit,
in der "Käthe" als typisch deutscher und "Esther" als niederländischer
Mädchenname erscheint. Es wird kein Versuch gemacht, die Situation in ihren
alltagsspezifischen Implikationen zu erfassen. Die von nichtprofessionellen
Sprecherinnen auf Kassette gesprochene Version verstärkt die Künstlichkeit
des Dialogs bis ins Groteske.
Als Resultat eines Auftrags zur Dialogerstellung
im oben beschriebenen Begegnungsspiel wäre dieser Text eine zwar akzeptable,
aber eher eine schlechtere Leistung als unser oben präsentiertes, bewußt
mäßiges Beispiel. Dazu würde sogar der für ein Lehrbuch unakzeptable idiomatische
Interferenzfehler passen ("Er soll auch mehr als hundert Kinder verweckt haben").[2]
Die sprunghafte Informationshäufung wäre
zu kritisieren und vor allem die inszenatorischen Mängel und Unbeholfenheiten,
zu denen auch der einzige Versuch im Text gehört, ein alltagssituatives Element
des Nicht-Verstehens einzubauen: "Das ist die Semper-Oper"/"Was
für eine Oper?"/"Die Semper-Oper".
Als Lehrbuchtext jedenfalls ist dieser
Dialog ungeeignet und abschreckend. Auch die dazugehörigen Übungen sind nur
reproduktiv und nicht produktiv.
7.3.6 Situationsgeneratoren
Die von Schewe (1993) geforderten
"dramatischen Dialoge" sind in der Fremdsprachenwelt nur äußerst
spärlich vertreten. Insbesondere Lehrwerkdialoge bzw. Lehrwerktexte im
allgemeinen werden zumeist auf der Grundlage einer (oft zweifelhaften)
grammatischen Progression, eines systematischen Aufbaus des Wortschatzes nach
Frequenzkriterien und/oder einer mehr oder minder intuitiven Auswahl
"typischer" Situationen synthetisch erstellt.
Die Professionalisierung im Umgang mit
diesen Kriterien ist in den achtziger Jahren ein wichtiges Thema in der
Lehrwerkforschung gewesen (vgl. Krumm 1982, Neuner 1989). In unserem Zusammenhang
interessieren insbesondere die "Situationen" und die in ihnen interagierenden
"Personen": sie stellen schließlich den notwendigen Realisierungsrahmen
von Dialogen dar. Auch zu dieser Thematik gibt es eingehende Überlegungen in
der Sprachlehrforschung (vgl. Gutzat/ Niehaus/Kemme 1983). Neuere sozial- und
persönlichkeitspsychologische Untersuchungen können hier jedoch zur
Systematisierung eines situationsorientierten Fremdsprachenunterrichts
beitragen und uns auch in der didaktischen Anwendung von "dramatischen"
Dialogen unterstützen. Die Dezentrierung des Ich, die wir anhand unseres phänomenologischen
Rahmens in Abschnitt 6.1 angesprochen haben, führte in einer entsprechenden
Entwicklung in der Psychologie weg von der Betrachtung des von seiner Umgebung
isolierten Menschen und hin zur Erklärung des menschlichen Verhaltens und des
"Charakters" aus sozialen Prozessen.
In der modernen Sozialpsychologie spielt der
Situationsbegriff eine zentrale Rolle: "In het algemeen neigt men binnen
de psychologie naar een subjectieve opvatting van het begrip situatie, zodat de
'situatie' niet los te zien is van degene die hem waarneemt. Het is niet
alleen zijn of haar situatie in die zin dat men zich erin bevindt, maar ook in
de zin dat men er een eigen visie op heeft en eigen ideeën kan hebben over in
die situatie passend gedrag. Tezelfderzijd echter wordt de situatie niet
opgevat als zuiver idiosyncratisch. Leden van bepaalde groepen, bezetters van
bepaalde rollen, of bepaalde typen personen worden geacht een min of meer
gedeelde visie, een common sense in de zin van Vico, op de situatie te
hebben" [Im allgemeinen neigt man in der Psychologie zu einer subjektiven
Auffassung des Situationsbegriffs, in dem Sinne, daß die 'Situation' nicht
getrennt von demjenigen gesehen werden kann, der sie wahrnimmt. Es ist nicht nur seine
oder ihre Situation in dem Sinne, daß man sich darin befindet, sondern auch in
dem Sinne, daß man eine eigene Auffassung zur betreffenden Situation und
eigene Vorstellungen zum situationsadäquaten Verhalten haben kann. Zugleich
wird die Situation aber nicht als rein idiosynkratisch verstanden. Man geht
davon aus, daß Mitglieder bestimmter Gruppen, Spieler bestimmter Rollen oder
bestimmte Typen von Personen mehr oder minder über eine gemeinsame
Vorstellung, über einen common sense im Sinne von Vico, in bezug auf die
Situation verfügen] (Van de Sande 1996: 26f.).
Van de Sande referiert kurz die Entwicklung
der sozialpsychologischen und soziologischen Forschung im Hinblick auf den
"common sense" bzw. auf die "gemeinsamen Vorstellungen",
die hier angesprochen sind (49-52). Die in diesem Zusammenhang thematisierten
"sociale representaties" [sozialen Repräsentationen] korrespondieren
deutlich mit unseren in Kapitel 5 und 6 entwickelten alltagsästhetischen Schemata
und Deutungsmustern, die in einer konkreten Situation aktualisiert werden.
Der Begriff "Situation" selber deckt sich in diesem Verständnis
weitgehend mit unserem Begegnungsbegriff.
7.3.6.1 Taxonomie
der Situationen
Van de Sande führt eine Reihe von
sozialpsychologischen Untersuchungen an, deren Ziel eine universelle Taxonomie
der Situationen ist. Auf die erkenntnistheoretischen und methodologischen
Probleme bei der Aufstellung derartiger Taxonomien können wir an dieser Stelle
nicht weiter eingehen (s. dazu Van de Sande 1996: 59-80). Uns interessiert im
Zusammenhang dieses Kapitels, ob sich hier ein Instrument zur Erzeugung von
Situationen und damit von Dialogen anbietet, das für den
Fremdsprachenunterricht im allgemeinen und unsere oben entwickelten Konzepte
im besonderen adaptierbar ist.
Eine Situationstaxonomie kann aufgrund
kategorialer und dimensionaler Einteilungskriterien erstellt werden.
Kategoriale Kriterien gehen von einer traditionellen Realiensystematik aus,
z.B. Religion, Handel, Freizeit. In handlungsorientierter Formulierung lassen
sich mit ihnen die Situationen der Lebenswelt beschreiben: eine Religion
ausüben, Handel treiben oder Freizeit gestalten. Dimensionale Kriterien betreffen
die Verhaltensmerkmale der in der Situation interagierenden Personen: z.B. ob
wir es mit einer kooperativen oder kompetitiven Situation zu tun haben bzw. ob
die in der Situation agierenden Interaktanten einander freundlich oder
feindlich gesinnt sind (z. B. eine Religion fanatisch und intolerant ausüben,
jemanden im Handel übervorteilen, seine Freizeit agressiv gestalten).
Van de Sande nennt als Beispiel für eine
globale Taxonomie nach kategorialen Kriterien die Untersuchung von Van Heck
(1984), die auf der Grundlage empirischer Forschungen erstellt wurde. Wir geben
hier nur die zehn Hauptkategorien Van Hecks in deutscher Übersetzung wieder
(für die komplette Liste s. Van Heck 1984: 158-161):
1.
Interpersonaler Konflikt, Katastrophen
2.
Zusammenarbeit und Ideenaustausch
3.
Intimität und sexuelle Aktivität, interpersonale Beziehungen
4.
Erholung, Amusement, Feste; formell und informell
5.
Reisen
6.
Religion, Rituale und Begräbnisse
7.
Sport und Wettbewerb
8.
Exzesse: sexuelle, alkoholische und Rauschmittelorgien
9.
Haushalt, Bedienung
10. Kaufen und Verkaufen, Handel treiben
Taxonomien mit universalistischem Anspruch
geraten schnell in Probleme mit der Komplexität der real existierenden
Lebenswelten und sind zur Reduktion gezwungen. Ein Ausweg, der sich anbietet,
ist die Beschränkung auf ein spezielles Segment der sozialen Wirklichkeit
und/oder auf eine Auswahl dimensionaler Faktoren.
Van de Sande selbst schlägt eine
dimensionale Taxonomie vor: einen festen taxonomischen Rahmen mit einer kleinen
Auswahl universalistischer Faktoren, der in Anwendung auf verschiedene Zielgruppen
unterschiedlich gefüllt werden kann. Seine Dimensionen sind (Van de Sande
1996: 96):
-
Gruppengröße: Dyade, Triade und Kleingruppe
-
kooperativ-kompetitiv
-
physisch-verbal
-
freundlich-feindlich
-
formell-informell
Die Kombination dieser Dimensionen erzeugt
einen Rahmen von 48 abstrakten Situationsbeschreibungen, jeweils 16 für die
verschiedenen Gruppengrößen Dyade, Triade und Kleingruppe (Van de Sande 1996:
196f.):
01 dyade koop phys freund form
02
dyade koop phys freund inform
03 dyade koop phys feind form
04 dyade koop phys feind inform
05 dyade koop verb freund form
06 dyade koop verb freund inform
07 dyade koop verb feind form
08 dyade koop verb feind inform
09 dyade komp phys freund form
10 dyade komp phys freund inform
11 dyade komp phys feind form
12 dyade komp phys feind inform
13 dyade komp verb freund form
14 dyade komp verb freund inform
15 dyade komp verb feind form
16 dyade komp verb feind inform
usw.
Van de Sande ordnet diesen abstrakten
Situationsdefinitionen in seinen empirischen Untersuchungen mit
Versuchspersonen konkrete zielgruppenadäquate Situationsbeschreibungen zu.
Wir geben hier in deutscher Übersetzung seine Beispielliste für die Zielgruppe
Studenten wieder:
01
dyade koop phys freund form:
Dein
Vater hat dich in ein Restaurant eingeladen und versucht, dir ein Gericht
aufzudrängen, das du nicht essen möchtest. Er zahlt.
02
dyade koop phys freund inform:
Du
bist bei einem Freund zu Besuch und langweilst dich tödlich.
03
dyade koop phys feind form:
Du
hast einen Ferienjob und mußt zusammen mit einem merkwürdigen Typ schwere
Lasten verladen.
04
dyade koop phys feind inform:
Du
gehst auf der Straße und siehst, daß ein Bekannter, den du nicht besonders
magst, sein Auto nicht in Gang kriegt.
05
dyade koop verb freund form:
Auf
dem Geburtstagsfest deiner Mutter gerätst du mit einer konservativen Tante in
eine Diskussion zum Thema Schwangerschaftsabbruch.
06
dyade koop verb freund inform:
Du
hast ein gutes Gespräch mit einem Bekannten. Er macht plötzlich eine für dich
verletzende Bemerkung.
07
dyade koop verb feind form:
Ein
Polizist behauptet, daß du bei Rot über die Straße gegangen bist. Er will dich
anzeigen.
08
dyade koop verb feind inform:
Du
diskutierst mit deinem Dozenten über die ungenügende Note, die er dir gerade
gegeben hat.
09
dyade komp phys freund form:
Du
arbeitest an einem schwierigen Referat. Bei den Nachbarn spielt jemand seit
einer Stunde so laut und so schlecht Klavier, daß du dich nicht konzentrieren
kannst.
10
dyade komp phys freund inform:
Du
bist früh ins Bett gegangen, aber dein Mitbewohner hat den Fernseher so laut
anstehen, daß du nicht schlafen kannst.
11
dyade komp phys feind form:
In
der Auslage für "Schnäppchen" liegt noch ein Pullover, den sowohl du,
als auch ein für dich Wildfremder haben möchte.
12
dyade komp phys feind inform:
Du
stößt auf der Straße mit einem merkwürdigen Typen zusammen, der danach so
schnell wegläuft, daß du denkst, daß er dir etwas gestohlen hat.
13
dyade komp verb freund form:
Dein
Freund will die Partie Tischtennis, mit der ihr gerade beschäftigt wart, nicht
zuende machen, weil du seiner Meinung nach nichts davon verstehst.
14
dyade komp verb freund inform:
Du
machst mit einer guten Freundin einen Spaziergang durch den Park. An der nächsten
Kreuzung willst du nach rechts, sie aber nach links.
15
dyade komp verb feind form:
Als
du den Supermarkt verläßt, wirst du von jemandem in einem Regenmantel angehalten,
der behauptet, du hättest etwas mitgenommen, ohne zu bezahlen.
16
dyade komp verb feind inform:
Du
willst in die Diskothek. Der Portier behauptet, daß sie voll besetzt ist und
will dich wegschicken. Jemand, der nach dir kommt, gibt ihm fünf Mark und darf
rein.
Jeder der hier beschriebenen Situationen ist
eine dramatische Spannung eigen, die den dramapädagogischen Forderungen
Manfred Schewes genügt. Die Konzeption und Formulierung vergleichbarer
Situationen für die jeweilige Zielgruppe im Fremdsprachenunterricht kann
Bestandteil des Unterrichts sein, als Teilschritt in der Vorbereitung von
Rollenspielen und in der Herstellung von Szenenfolgen.
7.3.6.2 Populäre
Situationsgeneratoren
Das Bedürfnis, die Varietät möglicher
Situationen menschlicher Lebenswelten in einem relativ einfach hantierbaren
System zu erfassen und für bestimmte Zwecke zu operationalisieren, ist nicht
erst in der modernen Sozialpsychologie entstanden, sondern hat Vorbilder in
allen Kulturräumen und -zeiten: es ist universal.
Derartige Systeme dienten in der
Vergangenheit meist eher "magischen" Zwecken: der Herstellung von
Macht über das Schicksal anderer z.B. durch Prophezeiungen und
"Wahrsagen" von Situationen, in denen Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft auf geschickte Weise miteinander verbunden werden. Ein schönes
Beispiel für ein sprachlich und organisatorisch relativ komplexes System ist
das chinesische I Ging, ein Beispiel für ein stärker abstrahiertes System das
Tarot-Spiel.
Wir stellen hier ein dem Tarot verwandtes,
jedoch weniger abstraktes System vor: die "Kipper Wahrsagekarten"
(im Spielzeughandel erhältlich). Es handelt sich um 36 Karten, die nach einem
bestimmten System aufgelegt werden. Die dadurch entstehenden Konstellationen
definieren Situationen, die als Grundlage für das "Wahrsagen" dienen.
Die Universalität der auf diese Weise generierten Situationen führt bei der
Person, deren Zukunft geweissagt werden soll, sofort zu Eigenassoziationen und
Wiedererkennungseffekten aus selbsterlebten Situationen, gegenwärtigen
Existenzfaktoren und Erwartungshaltungen. Deren Eigendynamik erlaubt es einem
psychologisch einigermaßen versierten "Wahrsager", das Erwartungsmuster
seines Klienten zu bedienen und ein "magisches" Wissen zu dessen
vergangenem und zukünftigem Schicksal aufzubauen. Die 36 Karten weisen neben
einer bildlichen Darstellung eine kurze verbale Klassifizierung auf:
1. Hauptperson (männlich) 19. Todesfall
2. Hauptperson (weiblich) 20. Haus
3. Ehestandskarte 21. Wohnzimmer
4. Zusammenkunft 22. Militärperson
5. Guter Herr 23. Gericht
6. Gute Dame 24.
Diebstahl
7. Angenehmer Brief 25. Hohe Ehre
8. Falsche Person 26. Unerwartetes, großes
Glück
9. Eine Veränderung 27. Unerhofftes Geld
10.
Eine Reise 28. Erwartung
11.
Viel Geld gewinnen 29. Gefängnis
12.
Reiches Mädchen 30.
Gerichtsperson
13.
Reicher, guter Herr 31. Krankheit
14.
Traurige Nachricht 32.
Kummer
15.
Guter Ausgang in der Liebe 33. Trübe Gedanken
16.
Seine Gedanken 34.
Arbeit
17.
Ein Geschenk bekommen 35.
Langer Weg
18.
Ein kleines Kind 36.
Hoffnung
Die Kombination von kategorialen und
dimensionalen Kriterien erhöht den Reiz dieses Systems. Beide Verfahren - die
Taxonomie Van de Sandes und Kippers Wahrsagekarten - können für einen begegnungsorientierten
Fremdsprachenunterricht adaptiert werden. Bei der Verwendung von Karten ist
darauf zu achten, daß das "mystische" Element der angeblichen
Zukunftsdeutung schon bei der Einführung der Unterrichtssequenz
entmystifiziert wird.
7.3.6.3 Taxonomie
der Persönlichkeit
John/Goldberg/Angleitner (1984) haben in
ihren empirischen Untersuchungen aus Tausenden persönlichkeitsbeschreibenden
Adjektiven der englischen, deutschen und niederländischen Sprache eine
"shortlist" der "Bipolar Scales Measuring the 'Big Five'
Personality Factors" herausdestilliert. Wir geben den deutschsprachigen
Teil der Liste[3]
im folgenden ungekürzt wieder (John/Goldberg/Angleitner 1984: 95):
I.
Surgency
passiv
- aktiv
untätig
- tatkräftig
nachgiebig
- dominant
furchtsam
- mutig
abhängig
- unabhängig
bescheiden
- stolz
schüchtern
- durchsetzungsfähig
zurückgezogen
- gesellig
II.
Agreeableness
kalt
- warm
ungefällig
- gefällig
kritisch
- nachsichtig
stur
- flexibel
misstrauisch
- vertrauensvoll
unfair
- fair
selbstsüchtig
- selbstlos
undiplomatisch
- taktvoll
III.
Conscientiousness
unzuverlässig
- zuverlässig
nachlässig
- gewissenhaft
unachtsam
- sorgfältig
unsystematisch
- systematisch
faul
- fleißig
modern
- traditionell
liberal
- konservativ
ungeschickt
- praktisch
IV.
Emotional Stability
unausgeglichen
- beständig
unsicher
- selbstsicher
nervös
- gelassen
angespannt
- entspannt
launisch
- ausgeglichen
reizbar
- ruhig
unzufrieden
- zufrieden
gefühlsbetont
- kühl
V.
Culture
ungebildet
- gebildet
unwissend
- informiert
dumm
- intelligent
beschränkt
- scharfsinnig
einfallslos
- einfallsreich
einfach
- kompliziert
uninteressiert
- wissbegierig
intuitiv
- rational
Diese 40 polaren Eigenschaftspaare können
als Grundwortschatz der Persönlichkeitsbeschreibung der sprachlichen und
inhaltlichen Differenzierung im Rahmen des hier vorgestellten
Unterrichtsmodells dienen.
7.3.7 Situationen
für den Unterricht
7.3.7.1 Szenisches
Spiel: "Ein Tag im Leben von..."
Für die erste Phase des Begegnungsspiels
haben wir die Definition der Situationen für Kontaktgespräche den Lernenden
selbst überlassen. Zur Erzeugung einer größeren Variation lebensweltlicher Situationen
mit unterschiedlichen Begegnungsaspekten läßt sich die Taxonomie von Van de
Sande verwenden. Die konkrete Ausfüllung von Situationen aus der Gruppe der im
Abschnitt 7.3.6.1 vorgestellten 48 abstrakten Definitionen wird durch die
Lernenden geleistet: Sie formulieren für ihre erfundene Figur eine Reihe
lebensweltlich adäquater Begegnungsrahmen. Für die adäquate Berücksichtigung
der dimensionalen Kategorien durch die Lernenden muß eine Trainingsphase
eingeschaltet werden. Der Aufbau einer Situation wird durch die Vorgabe von
Beispielen demonstriert und in der Gesamtgruppe eingeübt.
Die didaktische Einbettung in das
Begegnungsspiel ist dramapädagogisch auf verschiedene Weisen zu leisten. Unser
Beispiel ist das Projekt "Ein Tag im Leben von...": Die Lernenden
arbeiten in Kleingruppen von bis zu fünf Personen. Jede Gruppe wählt eine der
erfundenen Figuren als Zentralfigur aus und definiert gemeinsam fünf
Situationen aus deren Lebenswelt, die sich an einem normalen (Arbeits-) Tag abspielen
könnten. Die fünf Situationen sollten sich durch eine möglichst große Unterschiedlichkeit
der dimensionalen Faktoren auszeichnen und - wie bei den oben genannten
Beispielen Van de Sandes - jeweils ein besonderes Spannungsmoment enthalten.
Die Situationen können - müssen aber nicht - einen szenischen Zusammenhang
aufweisen. Je nach dem Zeitrahmen und den Arbeitsbedingungen des Projekts werden
die definierten Situationen vorbereitet, inszeniert und vorgeführt, wobei die
Teilnehmer der einzelnen Gruppen das zur Verfügung stehende Ensemble darstellen,
das die Rollen unter sich verteilt.
7.3.7.2 Sprechfertigkeit:
"Wahrsagen"
Wahrsagekarten wie das oben in Abschnitt
7.4.6.2 vorgestellte Beispiel können leicht von einer Lernergruppe selbst
hergestellt werden. Sie sind aber auch in allerlei Varianten im Buch- und
Spielwarenhandel erhältlich. Der Lehrer teilt ein Merkblatt zur Methode des
Auflegens und der Interpretation der Karten aus, erläutert es und führt ein
Beispiel selbst vor. Die Lernenden führen dann in wechselnden Zweiergruppen
"Wahrsagungen" für die von ihnen erfundenen Figuren aus.
7.3.7.3 Sprechfertigkeit:
Situationen erzählen
Auch für reine Sprechfertigkeitsübungen sind
die oben vorgestellten Verfahren adaptierbar. Hierzu können gleichfalls die
"Wahrsagekarten" verwendet werden. Die Kartenkategorien können aber
auch vom Dozenten nach eigenen Maßstäben variiert und/oder reduziert werden.
Wir geben im folgenden ein Beispiel für ein Kartenset, das wir selbst zur
Erzählstimulierung entwickelt haben. Es handelt sich um drei Stapel Kärtchen
zur Situationsbestimmung:
I Agierende Personen (Hauptperson + ...)
Vater
Mutter
Freund/Verwandter/Bekannter
Freundin/Verwandte/Bekannte
Unbekannte(r)
II
Thema
Tier
Wetter
Krankheit
Reise
Fest
Schule
Arbeit
Geld
Meinungsverschiedenheit/Streit
wichtiger
Gegenstand
III
Emotion
Liebe
Eifersucht
Angst
Gewalt
Freude
Schmerz
Wut
Haß
Mitleid
Von jedem Stapel wird eine Karte gezogen.
Die drei Karten definieren die Situation, die erzählerisch gestaltet werden
soll: z.B. Mutter-Reise-Schmerz, Kind-Fest-Haß, Freund-wichtiger Gegenstand-Wut.
Nicht jede Kombination wird den
jeweiligen Lernenden in seiner Phantasie anregen; deshalb sollte man auch die
Möglichkeit einbauen, ein oder zweimal zu "passen".
7.3.7.4 Finale:
"Party"
Am Ende einer Unterrichtsreihe oder eines
Projekts "Erfinde eine(n) Deutsche(n)" kann eine "Party"
stehen, auf der die erfundenen Figuren sich als Kommunikationsgemeinschaft
treffen und in einem Reigen von Small-talk-Begegnungen die erworbenen Inhalte
und Formen des Begegnungsspiels austauschen und durch Wiederholung in wechselnden
Kommunikationsmustern festigen. Die Teilnehmer erhalten dadurch die
Gelegenheit, die Figuren, mit denen sie im Laufe des Unterrichts weniger
Kontakt hatten, in kurzen Gesprächen kennenzulernen.
Der Grad der Simulation steht im Ermessen
des verantwortlichen Lehrers. Wir plädieren für eine Party, die so frei und
natürlich ist wie möglich (Getränke, Snacks, Musik) und so geordnet wie nötig:
Die Teilnehmer sollen nicht "aus der Rolle fallen". Eventuelle
Hintergrundmusik sollte der persönlichen Vorliebe der erfundenen Figuren entsprechen
(wenn dies im Projekt thematisiert worden ist), müßte aber aus verständlichen
Gründen relativ leise sein.
7.3.8 Aspekte des
Spracherwerbs im Begegnungsspiel
7.3.8.1 Aufbau
eines begegnungsorientierten Wortschatzes
Taxonomien zu Situations- und
Persönlichkeitsmerkmalen eignen sich zur Adaptierung für eine
lebensweltorientierte Wortschatzarbeit. Zur Sicherung des Wortschatzes ist zu
empfehlen, daß die Lernenden sich ein spezielles Heft, eine kleine Kartei (A 7)
oder eine Datei in einem Textverarbeitungsprogramm bzw. einem Vokabeltrainer
anlegen, worin sie die neuen Wörter und idiomatischen Wendungen eintragen.
Als Gliederungsprinzip schlagen wir das folgende kategoriale Zuordnungsschema
vor, das wir aus verschiedenen Lebenswelttaxonomien übernommen und
weiterentwickelt haben:
Zuordnungsschema für Wortschatzarbeit
Ich und meine Familie
1. Wohnort, Umgebung, Wohnviertel
2. Wohnung, Haus und Garten
3. Familie, Verwandte, Freunde, Haustiere
4. Aussehen, Eigenschaften
5. Haushaltsführung, Haushaltsgerätschaften
Ich und mein Körper
6. Körper, Körperfunktionen
7. Körperpflege
8. Kleidung
9. Kochen, Essen und Trinken
10. Krankheit, Unfall, Verletzung,
Tod
Womit ich mich gern beschäftige
11. Freizeit, Hobbys, Spiele
12. Sport
13. Fernsehen, Kino, Massenmedien
14. Kunst, Musik, Literatur, Theater
15. Computer, Computer- und
Videospiele
Was ich glaube, liebe, hoffe
16. Geschmack, Werte, Normen
17. Glaube, Weltanschauung
18. positive Gefühle, Glück, Liebe,
Sex
19. negative Gefühle, Unglück, Haß,
Streit, Gewalt
20. Diskussion, Meinungsfindung,
Kooperation
Wie ich die Welt erfahre
21. Fahrrad, Auto, öffentliche
Verkehrsmittel
22. Reisen, Urlaub, Ferien
23. Länder und Völker
24. Landschaften, Natur, Umwelt
25. Pflanzen, Tiere
... und die Arbeitswelt
26. Schule, Ausbildung, Fortbildung
27. Berufe, Arbeit, Arbeitslosigkeit
28. Geld, Geldverkehr, Einkaufen
29. Wirtschaft, Warenverkehr
30. Wissenschaft, Technik
Ich und die Gesellschaft
31. Gemeinde, Provinz, Staat, Europa
32. Institutionen, soziale Rechte
und Pflichten
33. Normverstöße, Verbrechen, Strafe
34. Recht
35. Politik, Geschichte, Krieg und
Frieden
Das Schema umfaßt in 35 Kategorien ein
breites Spektrum alltäglichen Lebens und kann ggf. erweitert und differenziert
werden. So könnten z.B. bestimmte spezialistische Bereiche, die sich auf die
Berufsausbildung und -perspektive der jugendlichen Lerner beziehen, als
eigene Kategorie hinzugefügt werden. Je nach der Lernkultur der Unterrichtsinstitution
können die Worteinträge einsprachig deutsch oder zweisprachig und mit bzw.
ohne Hinzufügung eines Beispielsatzes vorgenommen werden.
Für dimensionale Aspekte sind die Kategorien
16 - 20 vorgesehen. Das Schema wird hier als ein für den gesamten
Fremdsprachenunterricht sinnvolles Instrument vorgestellt. In der Praxis wird
man feststellen, daß bei der sprachlichen Bewältigung spezieller Bereiche immer
wieder auch Begriffe anderer sachlicher und emotionaler Bereiche eine Rolle
spielen und daß es dementsprechend zu Problemen bei der Zuordnung kommt. Und
natürlich gibt es sehr viele Wörter und idiomatische Wendungen, die nicht in
diesem lebensweltlichen Kategorienschema unterzubringen sind. Hierfür kann
man eine Zusatzkategorie für "Unklassifizierbares" einführen.
Dennoch behält dieses Einteilungsschema seinen Nutzen als Instrument für
eine sinnvolle Wortschatzerweiterung.
Das vorgeschlagene Verfahren für die Arbeit
in Kleingruppen, die verschiedene Situationen simulieren, führt zu
individuell verschiedenen Wortlisten. Die Lernenden haben damit auch die
Möglichkeit, Bereiche, die sie besonders interessieren, ausführlicher aufnehmen
zu können. Damit es bei eventuellen Tests nicht zu ungleichmäßigen Belastungen
kommt, müßten Absprachen bezüglich der Gesamtzahl (und/oder der Mindestzahl pro
Kategorie) der Einträge in die Wortlisten gemacht werden. (Wenn die Lernkultur
einer Schule keine individuellen Wortlisten zuläßt, muß der Lehrer über eine
stärkere Steuerung zu einer einheitlichen Liste kommen.)
7.3.8.2 Zur
Arbeit mit Versandhauskatalogen und Werbeprospekten
Versandhauskataloge sind die billigsten und
umfangreichsten Kompendien der Wirtschafts- und Warenwelt, die den Alltag in
den westlichen Industrieländern bestimmt. Neckermann, Quelle, Otto sind die
größten deutschen Versandhäuser. Der Otto-Katalog z.B. bietet auf rund 1400
Seiten mit Register den ganzen Kosmos des mittelständischen Konsumismus in
Wort und Bild. Er verbindet dabei die Vorzüge eines Bildwörterbuchs mit äußerster
Aktualität. Inzwischen bieten die meisten Versandhäuser ihre Kataloge auch in
einer CD-ROM-Version an, was die Einsatzmöglichkeiten für Unterrichtszwecke
noch vergrössert.
Wir möchten also vorschlagen, die
Wortschätze des wirtschaftlichen Alltags, die in diesen Katalogen zu entdecken
sind, für einen partizipatorischen und situationsorientierten Fremdsprachenunterricht
zu nutzen. Der Inhalt des Otto-Kataloges 1995 z.B. umfaßt folgende Sparten:
Junge
Mode
Aktuelle
Mode
Wäsche
Kindermode
Männermode
Freizeit
& Sport
Heim
& Haus
Wohnen
Haushalt
High
tech
Service
Natürlich ist der Welterfahrungsrahmen der
großen Versandhauskataloge auf die Domäne der
kleinbürgerlich-mittelständischen Welt begrenzt. Für die unmittelbaren Zwecke
eines Unterrichtsprojekts ist das keine störende Beschränkung. Wer mehr
Variation und Exotik in das Projekt bringen möchte, kann das mit Hilfe
speziellerer Kataloge zu den verschiedensten Bereichen der Lebenswelt tun.
Neben den Katalogen bietet sich natürlich
auch die unübersehbare Fülle der Werbeprospekte an. (Wenn eine Gruppe auf
Klassenreise nach Deutschland geht, kann man sie bergeweise mitnehmen.) Aber
solche Entscheidungen muß man auch von der Zielgruppe abhängig machen.
Die Beschreibungen der einzelnen Artikel im
Warenkatalog enthalten viel spezielles Vokabular, dessen Erlernung für die
Schüler nicht sinnvoll ist und das auch bei den meisten Muttersprachlern
nicht zum aktiven Wortschatz gehört. Der passive verstehende Umgang mit derartigem
Sprachmaterial muß jedoch geübt werden. Die Wirtschafts- und Warenwelt ist
schließlich voll davon!
Die erste Aufgabe bei der Arbeit mit einer
Artikelbeschreibung ist, das Kernwort bzw. die Kernwörter zu finden, die in der
Alltagssprache den abgebildeten Artikel bzw. seine Bestandteile bezeichnen.
Diese Kernwörter verbergen sich oft in einem ungewöhnlichen Kompositum und
müssen von "überflüssigen" Bestandteilen befreit werden. Wir
betrachten diese Problematik einmal an einem Beispieltext:
Trilobalanzug
für Sie & Ihn. Oberteil:
Stehkragen
mit Reißverschluß, 2 Reißver-
schlußtaschen.
Kordel mit Kordelstoppern
am
Taillenbund. Ärmel mit Bündchen und
GO
FOR IT-Stickerei. Großer Rückendruck
und
Label vorne. Hinten länger. Kontrast-
nähte.
Netzfutter. Hose: Kordelboxerbund,
Beinabschluß
mit Bündchen und Reißverschluß.
Kontrastfarbige
Nähte. 2-Seiten-Reißver-
schlußtaschen.
Label vorne. Gefüttert.
100%
Polyamid. Futter Jacke: 100% Polyester.
Hose:
65% Polyester, 35% Baumwolle.
blau/schwarz
767518 1
rot/schwarz 767273
6
Gr
S(3), M(4/5) 99.-
Gr
L(6/7), XL(8) 115.- XXL(9) 132.-
(Quelle:
Otto-Katalog Frühjahr/Sommer 1995, S. 762)
Die Syntax eines solchen Textes bereitet
keine Probleme, da sie auf ein Mindestmaß reduziert ist. Dagegen behindern
ungewöhnliche und komplizierte Komposita wie "Trilobalanzug",
"Kordelstopper" oder "Kordelboxerbund" das Verständnis.
Die Schüler müssen auf die Suche nach den einfachen Begriffen gehen, die den
beschriebenen Artikel in der Alltagssprache bezeichnen. Dabei hilft die
Abbildung, die im Katalog zu jedem Artikel vorhanden ist.
Die Oberbegriffe in diesem Text sind
"Anzug", "Oberteil" ("Jacke") und
"Hose". Frequente Begriffe, die Bestandteile und Verarbeitungsaspekte
des Anzugs bezeichnen, sind: "Kragen", "Reißverschluß",
"Bund", "Stickerei", "Naht", "Futter"/"gefüttert",
"Tasche" und "Baumwolle".
Diese Wörter eignen sich zum Eintrag in die
Liste, wobei jeweils der korrekte Artikel und die Pluralform hinzugefügt werden
sollten. Das heißt: Wörterbucharbeit. Da die Lernenden in Kleingruppen arbeiten,
können sie arbeitsteilig vorgehen: während der eine die Wörter aussucht,
schlägt der andere nach. Nur müssen diese Funktionen auch einmal ausgetauscht
werden.
[1]
Bei der Darstellung des
Unterrichtsmodells "Erfinde eine(n) Deutsche(n) handelt es sich um eine
überarbeitete und erweiterte Fassung eines früher von mir veröffentlichten
Artikels (vgl. Groenewold 1989).
[2] Das
niederländische Verb "verwekken" bedeutet "zeugen".
[3] Die
Überschriften zu den fünf Adjektivgruppen stehen bei John/Goldberg/Angleitner
in englischer Sprache.
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