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Mittwoch, 29. Juni 2022

Meine kleine Ukraine-Bibliothek (5): Vladimir Jabotinskys Odessa-Roman “Die Fünf“

 

Meine kleinen Ausflüge in die ukrainische Literatur standen schnell vor einem Dilemma: Soll ich mich nur um Romane kümmern, die ursprünglich auf Ukrainisch geschrieben sind, oder kann ich auch Werke wählen, die auf dem Territorium der heutigen Ukraine spielen, aber in anderen Sprachen geschrieben sind, zum Beispiel Russisch, Polnisch, Deutsch, und die in dem seit dem 19. Jahrhundert gängigen Modus von Literaturgeschichte der jeweiligen Nationalliteratur zugeschrieben werden?

 

Mit diesem Thema werde ich mich ein anderes Mal noch auseinandersetzen, jedenfalls habe ich mich entschieden, den auf Russisch geschriebenen Roman „Die Fünf“ (Paris, 1936) von Vladimir Jabotinsky (1880-1940) in meine Auswahl aufzunehmen. Jabotinsky ist ein jüdischer Autor, Journalist und Zionist aus Odessa und hat mit seiner autobiografischen Erzählung über fünf Kinder einer Familie seiner Heimatstadt zu Anfang des 20. Jahrhunderts den wahrscheinlich intensivsten, poetischsten und politischsten Roman über Odessa geschrieben.

 

Das Buch bekommt erst in allerletzter Zeit die Aufmerksamkeit, die es verdient. Die erste deutsche Übersetzung kam 2012 in einer sehr schönen Ausgabe in „Die andere Bibliothek“ heraus und ist inzwischen als Taschenbuch für 16 € erhältlich (Aufbau Verlag, 2. Auflage 2022, 288 Seiten). Von einer niederländischen Ausgabe ist noch nichts zu sehen.

 

Die deutschen Rezensionen sind sehr positiv, bleiben aber ziemlich oberflächlich. Das ist halbwegs verständlich, wenn man versucht, sich in die Konstruktion und die Hintergründe von Roman, Autor und Zeitgeschehen hineinzuarbeiten. Von den „Buddenbrooks am Schwarzen Meer“ ist die Rede. Das finde ich nicht einmal übertrieben, nur ist der Jabotinsky von 1935 moderner und damit auch etwas sperriger als die naturalistisch gerundeten und gedehnten und sehr deutschen Buddenbrooks von Thomas Mann aus dem Jahr 1901. Und in all der kosmopolitischen Kultur- und Lebensvielfalt bei Jabotinsky steckt so viel Elend, Gewalt und zukünftiger Polithorror, dass wir die Buddenbrooks ruhig mal in die Ecke stellen können. (Jabotinsky hat zur gleichen Zeit, in der dieses Buch entstand (1935!), umfangreiche Pläne zur freiwilligen Aussiedlung osteuropäischer Juden nach Palästina oder notfalls Madagaskar entwickelt).

 

Vor Anfang des eigentlichen Romans macht der Autor kurz klar, was er vorhat: eine Erzählung aus seiner Jugend 


„mit der Geschichte einer Familie, in der fünf Kinder lebten: Marussja, Marko, Lika, Serjosha und Torik. Ein Teil ihrer Abenteuer spielte sich vor meinen Augen ab; das übrige werde ich, wenn es nötig sein sollte, nach Hörensagen berichten oder nach meinen Vermutungen hinzudichten. Ich verbürge mich nicht dafür, dass ich die Lebensgeschichten der Helden und die Abfolge der allgemeinen Ereignisse in der Stadt oder in Russland, im Rahmen derer all dies geschah, exakt wiedergebe: Die Erinnerung trügt häufig, und für Nachforschungen hatte ich keine Zeit.“

 

Und genau das tut er: In manchen der episodischen Passagen zum Aufwachsen der fünf Jugendlichen vermengt er Erlebtes, Kolportiertes und Vermutetes, auch das Zeitgeschehen wird aus einer Vermengung von erlebten und später reflektierten Ereignissen berichtet. Zwei großartige Kapitel sind dem dramatischen Auftritt des Panzerkreuzers Potemkin gewidmet (Kapitel 18: Der Potjomkin-Tag und Kapitel 19: Die Potjomkin-Nacht). Viele Leser (und wahrscheinlich auch Jabotinsky) werden den Film von Eisenstein „Panzerkreuzer Potemkin“ von 1925 kennen, und natürlich spielt auch die berühmte Treppe von Odessa, die keiner vergisst, der den Film gesehen hat, in diesem Roman eine Rolle.

 

Und natürlich gibt es auch eine glücklich-unglückliche und letztlich unerfüllte Liebesgeschichte des Ich-Erzählers (des sich verborgen haltenden Autors) zu Marussja, die wir in zarten, ablehnenden, liebevollen, überhöhten und katastrophalen Phasen miterleben können, wollen und müssen: Wer als Leser am Anfang etwas Probleme mit dem normal-menschlichen Erlebnismodus hat, wird in den poetischen Kapiteln 13, 14 und 15 reichlich entlohnt.

 

Im Kapitel 25 mit dem Titel „Gomarrha“ hält Torik in einer Nacht mit dem Ich-Erzähler eine lange Rede, in der er den Sinn des Kosmopolitismus und Multikulturalismus von Odessa anzweifelt und für eine abgeschiedene kulturelle Kontinuität der einzelnen Kulturen plädiert: 


„In ganz Russland gibt es nirgendwo ein anschaulicheres Bild dieser Unterbrechung der kulturellen Kontinuität als in unserem guten, fröhlichen Odessa. Ich rede nicht nur von den Juden: Das Gleiche geschieht mit den Griechen, mit den Italienern, mit den Polen, sogar mit den Russen – die meisten von ihnen sind eigentlich geborene Ukrainer, sie verkleiden sich nur als Russen; aber am deutlichsten wirkt sich das bei den Juden aus“ (S. 239).

 

Jabotinskys 1935 geschriebener Roman ist eine Mischung aus Nostalgie und späterer Konsequenz. Er hat viel für die Gründung eines jüdischen Staates getan, ein starker Mann! Vieles davon ist auch verwirklicht worden im Staat Israel, den er nicht mehr erleben durfte. Zunächst kam aber der Holocaust, den er nicht mehr erleben musste.





Freitag, 24. Juni 2022

Jochen Schimmangs “Laborschläfer”: ein Lebenspatchwork aus der alten Bundesrepublik





Jochen Schimmang (geboren 1948) hat einen neuen Roman geschrieben: „Laborschläfer“ (Edition Nautilus, Hamburg 2022, 327 S., 24 €). Sein Protagonist Rainer Roloff, geboren und aufgewachsen in Köln, ist zwar studierter Soziologe, hat aber immer nur schlecht bezahlte wechselnde Jobs gehabt. Er bezeichnet sich gern als „Privatgelehrter“. Nun ist er 72, die Rente reicht kaum fürs Nötigste, und so meldet er sich als bezahlter Proband zu einem Projekt des Schlafforschers Dr. Meissner an. Dazu verbringt er ab und zu eine Nacht im Labor und wird für allerlei Messungen „verstöpselt“. 

 

Dr. Meissner geht es nicht um den Schlaf an sich oder die Träume, sondern um die Zusammenhänge zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis und speziell um die Gedanken und Erinnerungen, die seine Probanden zwischen Schlafen und Wachen haben. Die werden am nächsten Morgen immer ausführlich besprochen und notiert.

 

Lesern aus der westdeutschen sozialen Alterskohorte von Rainer Roloff wird viel Erinnerungswertes geboten: die Trümmerlandschaften seiner Kölner Kindheit, der merkwürdige Tod des Politikers Uwe Barschel 1987 und allerlei weitere politisch-historische Figuren und Ereignisse. Die individuellen Gedächtnisräume von Roloff sind gefüllt mit Frauen, Freunden, Eltern, der Schwester, der Stadt Köln, Reisen, viel Musik der siebziger/achtziger Jahre und vor allem viel Literatur.

 

Rainer Roloff verfügt über ein außerordentliches Gedächtnis und kann sich über Jahrzehnte zurück an alles erinnern, was er an einem bestimmten Tag getan hat. Dieses aus Millionen wichtigen, aber eben auch unwichtigen Details bestehende Gedächtnis behindert ihn allerdings, daraus etwas Ganzes zu machen, seinem Leben rückwirkend Struktur zu geben. Letztlich handelt es sich um eine Trümmerlandschaft, genau wie der Kölner Barbarossaplatz seiner Kindheit in den Jahren nach dem Krieg eine „Schutt- und Brockenkulisse“ gewesen ist. Roloff hält sich deshalb für „biografieunfähig“.

 

Literatur ist ihm, auch in zweiter und dritter Lektüre immer wieder eine Stütze, auch zum Einschlafen. Ein Leitstern für sein Lebenskonzept ist die Erzählung „Bartleby, the scrivener“ (1853) von Herman Melville. Bartleby, der kleine Angestellte, der eines Tages einen Auftrag mit den Worten : „I would prefer not to“ abgelehnt hat und seitdem die gesellschaftsübliche Arbeit verweigert und sich nicht davon abbringen lässt. Bartleby zieht sich quer durch den Roman. Gegen Ende gibt Roloff diesen Namen dem von ihm adoptierten Kater einer überarbeiteten Verlagspressechefin. Das stille Tier begegnet uns noch hundert Seiten lang: „Seine Blickrichtung geht fast immer in die Innenräume“.

 

Die Figuren, denen wir auf der Ebene der Romanhandlung und in Roloffs Erinnerungen begegnen, haben zwar eine berufliche Karriere gemacht, wie es in unserer Gesellschaft erwartet wird, mit Geld, Erfolg und bürgerlichem Lebensstandard (außer Roloff selbst), aber alle sind auf die ein oder andere Weise gescheitert. Das fängt – überdeutlich und dramatisch – mit Uwe Barschel an und trifft am Ende sogar den Schlafforscher Dr. Meissner, der krankheitshalber aus dem Arbeitsprozess herausfällt. Der Autor überhöht das durch einen gemeinsamen Sturz von Meissner und Roloff. Ironischerweise übernimmt Roloff dann eine wissenschaftliche Stelle im Projekt und wird damit Mitarbeiter des geheimnisvoll im Hintergrund gebliebenen Dr. Murnau. (Murnau hieß der Protagonist von Schimmangs Autobiografie „Der schöne Vogel Phönix. Erinnerungen eines Dreißigjährigen“, 1979).

 

Tja, was tut man, wenn man „biografieunfähig“ ist und immer wieder aufgefordert wird, eine Autobiografie zu schreiben? Bartleby würde sagen: „Ich möchte lieber nicht“. Aber vielleicht darf es ja etwas anderes sein: weniger Auto, durchaus Bio und mehr Grafie.


Ein schöner Roman!



Die deutsche Ausgabe von "Bartleby" 
aus der wunderschönen neuen Penguin Edition,
in der der Pinguin etwas größer posieren darf.


Dienstag, 14. Juni 2022

Meine kleine Ukraine-Bibliothek (4): Aktuelles über Serhij Zhadan

 


 Die ukrainische Internetzeitung kyivindependent.com bringt heute ein längeres Gespräch mit Serhij Zhadan (47), einem der wichtigsten Gegenwartsautoren der Ukraine. Er lebt in Charkiw. Hier ist der direkte Zugang zu dem Artikel, den ich sehr empfehle.

 

Für meine kleine Bibliothek wähle ich auch ein paar Romane aus der heutigen und der älteren ukrainischen Literatur. Ziemlich aktuell ist Serhij Zhadans Roman „Internat“ (2017, deutsch 2018, 301 S., 22 €), der in einer Stadt im Donbass während der kriegerischen Auseinandersetzungen nach 2014 spielt. Zhadan beschreibt ohne konkrete politische Zuordnungen den Horror und den Terror in einer Stadt, in der sich täglich die Grenzen verschieben und die Leichen auf den Straßen liegen. Der Plot ist schlichtweg, dass Pascha, ein junger Ukrainisch-Lehrer, seinen Neffen aus einem Internat am anderen Ende der Stadt holen will. Hier ist eine Rezension aus dem Deutschlandfunk.



Literarisch interessanter ist „Die Erfindung des Jazz im Donbass“ (2012), ein poetisch-wilder Roman aus der postsozialistischen Ukraine. Er spielt in Luhansk im Donbass, noch vor den kriegerischen Auseinandersetzungen. Zhadan ist auch Lyriker, und das ist in seiner Prosa zu spüren. Hier ist eine Rezension aus der ZEIT.

 

Der Originaltitel des Romans ist „Vorošilovgrad“ (Charkiw 2010), und unter diesem Titel ist auch die niederländische Übersetzung erschienen: „Vorosjylovhrad“ (2018, 376 Seiten, 21,99 €). Bei dieser Stadt handelt es sich um das heutige Luhansk (415.000 Einwohner). Die Transkriptionen aus dem Ukrainischen sind von Sprache zu Sprache verschieden, und auch Städtenamen wechseln von Zeit zu Zeit. Man sollte das bei der Google-Suche berücksichtigen. Der Autor erscheint da als Serhij Schadan (deutsch), Serhi Zjadan (niederländisch) und Serhij Zhadan (englisch). Der Suhrkamp-Verlag hat sich für die englisch/internationale Transkription und einen völlig anderen Titel entschieden.


Zhadan ist nicht nur aktuell, sondern ein sehr begabter Schriftsteller, der bereits ein umfangreiches Gesamtwerk veröffentlicht hat.


 


Donnerstag, 9. Juni 2022

Meine kleine Ukraine-Bibliothek (3): Entlang den Gräben


 

Navid Kermani ist 2016/2017 in vielen Stationen über Land von Schwerin nach Isfahan gefahren und hat davon in dem Buch „Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan“ (2018) berichtet (Taschenbuchausgabe 2020, 445 Seiten, 14,95 €).

 

In Mittel- und Osteuropa führt ihn sein Weg über Breslau, Auschwitz, Krakau, Warschau, Masuren, Kaunas, Vilnius, Minsk, Chatyn, Tschernobyl, Kurapaty, Minsk, Krasnapolle, Kiew, Dnipro, Donbass, Mariupol, Odessa, Simferopol, Sewastopol und die Krimküste entlang.

 

Überall auf dieser gut vorbereiteten Reise trifft er auf kompetente  und durchaus kontroverse Interviewpartner (u.a. Mitglieder des Asow-Regiments), die ihm ein spannendes Bild der ethnisch vielfältigen, zerstrittenen und teils verfeindeten Regionen ermöglichen. Immer wieder geht er auch auf die Vergangenheit mit ihren Massengräbern ein. Der Titel „Entlang den Gräben“ hat also eine doppelte Bedeutung.

 

Die Reisebeschreibung eignet sich hervorragend als Erweiterung und Vertiefung von Schlögels „Entscheidung in Kiew“. Kermanis Reise führt auch in das 2016 aktuelle Kriegsgebiet und auf die besetzte Krim. Das Buch hatte in Deutschland großen Erfolg (7 Auflagen) und erhielt viele positive Rezensionen, zum Beispiel in der FAZ.

 

Da es uns auf absehbare Zeit nicht möglich sein wird, diese Gebiete zu bereisen, suche ich diese und andere Werke aus, um mir ein Bild zu verschaffen. Schon jetzt tut es mir leid, niemals in Kiew, Lemberg oder Odessa gewesen zu sein.


Samstag, 4. Juni 2022

Der kastrierte Freischütz von Amsterdam (Premiere 3. Juni)

Bühnenbild Freischütz: Wo ist der Wald?


Die niederländische Nationaloper hat nie den „Freischütz“ von Carl Maria von Weber (1821)  inszeniert: Deutsche Volks- und Waldromantik und die vielen deutschen Dialoge machen dieses Werk auch für die jetzige Direktorin der Nationale Opera, Sophie de Lint, zu einer „hele lastige opera“.

 

“Alles kan. Alles mag. Voel je vrij”, mit diesen Worten hat Sophie de Lint dem russischen Avantgarderegisseur Kirill Serebrennikov jetzt aber den Weg zum „Freischütz“ im Rahmen des diesjährigen Holland Festivals geebnet. Der Dissident Serebrennikov lebt seit Januar 2022 im Exil am Hamburger Thalia Theater und braucht Beschäftigung. So ist es anhand dieses Projekts zu einem Bündnis von niederländischer Aversion und postmodernem Theater-Wollen gekommen. Das merkwürdige Doppel hat allerdings zu einer Quadratur des Unverständnisses von Webers romantischer Oper geführt. Ein verjüngtes niederländisches Publikum war gestern dennoch bereit, das alles zu bejubeln.

 

Serebrennikov rankt einfach eine völlig andere Geschichte um die Musik und den Gesang des Freischütz. Auf Englisch! Und mit Hilfe einer neu erfundenen Hauptfigur („The Red One“), die als Erzähler und Hüpfebold durch die Oper führt und schon die Musik der Ouvertüre schulmeisterhaft Schritt für Schritt in Videotexten mit der kommenden Story kommentiert (anstatt die Leute die Musik einfach hören zu lassen). So weiß immerhin jeder schon mal über alles Bescheid. Vielleicht hätte man die Aufführung dabei belassen sollen. Aber dann zieht der Regisseur drei Stunden lang sein Patchwork des postmodernen Theaters durch mit allerlei altbekannten und einigen wenigen neuen Gags.

 

Dass es in den vollständig gestrichenen deutschen Dialogen so manche Begründung für die in den Arien ausgeführte perspektivische Verzweiflung zwischen Max, Agathe, Kaspar und Ännchen gab: egal! Das Publikum bekommt nur die Highlights der Oper mit konservativ singenden und am Ende (zu Recht) bejubelten Stars und wird vom roten Hüpfer mit einer Tom-Waits-Zugabe per Akt bei Laune gehalten. Es geht dabei um Auszüge von Tom Waits Freischützadaption „The Black Rider“. Das wäre vertretbar. Aber wer den „Freischütz“ noch nie gesehen hat, wird sich um so mehr fragen, was der Herr Weber wohl gewollt haben mag.

 

Ein Beispiel: dass Kaspar auch um Agathe gebuhlt hat, von ihr abgewiesen wurde und nun auf Rache sinnt („Triumph, die Rache gelingt“) kann der Zuschauer hier bestenfalls erahnen. Und Max wird nicht als naiver Liebender, sondern als dämlicher Bürotrottel gezeigt, bei dem man sich fragt, was Agathe wohl an ihm finden mag.

 

Außer den deutschen Dialogen ist noch etwas ganz Essenzielles verschwunden, die nichtpersonale Hauptfigur dieser Oper: der Wald! Der Gebirgswald der deutschen Romantik mit all seiner Unheimlichkeit, mit seinen Gespenstern und bösen Geistern. Dadurch fällt die Kernszene in der Wolfsschlucht mit Webers sich phänomenal steigernder Musik („Wie? Was? Entsetzen! Dort in der Schreckensschlucht?“), das Treffen mit dem Teufel also, in die Bedeutungslosigkeit, ja in die Lächerlichkeit: sie wird zu einer Art Bubenstreich mit Feuer und Rauch. Der „Freischütz“ wird damit kastriert und seiner Potenzen beraubt.

 

Aber noch eine Hauptsache: die Sprechrolle von Samiel, dem Teufel, die meist aus dem Off gesprochen wird, übernimmt hier - während des Dirigierens - der famose junge österreichische Dirigent, Patrick Hahn. Die neu gestrickten Geschichten des Regisseurs machen nämlich die Opernbühne als solche zum Hauptthema, und sowohl die Stars als auch die niederen Chorchargen dürfen Statements zu ihren Erfahrungen mit Neid, Konkurrenz und Autorität abgeben, und der arme Patrick Hahn, der nebenbei noch ganz ehrlich beteuert, er sei ja gar nicht so, muss den infamen Teufel und absoluten Herrscher des Dirigats geben. Nee, nee, nee, bitte nicht.

 

Ach ja, die Sänger – und die Sängerinnen! Die Südafrikanerin Johanni van Oostrum (Agathe) hat eine wunderbare, etwas altmodisch geführte Stimme, die an die große Elisabeth Grümmer aus den 50er Jahren erinnert. Leider legt sie, wie auch der Chor – der übrigens auch einmal abgestürzt ist - , wenig Wert auf eine verständliche deutsche Aussprache. Die Standards hierfür sind inzwischen international sehr hoch, so dass auch niederländische Häuser sich daran orientieren sollten. Bei der in Shanghai ausgebildeten Ying Fang (Ännchen) geht das viel besser. Sie ist für mich der Star dieser Inszenierung, voll sängerischer und balletöser Leichtfüßigkeit. Bei den Männern sticht der Österreicher Günther Groissböck in den bipolaren Rollen als Kaspar und Eremit mit seinem männlich-bedrohlichen und versöhnlich-vertiefenden Bass hervor. Das war eine gute Entscheidung des Regisseurs.

 

Aber wo bleibt da Carl Maria von Weber? Er ist – ohne ausreichenden Sinn und Verstand -   gefangen im Reservat der sängerischen und fremdumrahmten musikalischen Höhepunkte, und dann muss sein Porträt auch noch die Stelle des Bildes vom Urvater Kuno einnehmen, das zweimal von der Wand gefallen ist, als Max mit seinen Freikugeln unterwegs war. Weber wird hin- und hergezerrt, auf den Kopf gestellt, beschmiert und abgeschafft. Das war’s. 

 

Kirill Serebrennikov hat gesagt, dass er das in Deutschland nicht gewagt hätte. Versuch’s doch mal, Kirill.

Mittwoch, 1. Juni 2022

Der Freischütz (1): Viktoria!

Die Amsterdamer Oper


“Viktoria! Viktoria! Viktoria!”

Viktoria! Die Amsterdamer Oper soll leben!


Ich habe zwei Freikarten für die Premiere des „Freischütz“ am 3. Juni gewonnen, Karten im Wert von 230 €! Ich wollte ja eigentlich gar nicht hin, aber – zum Teufel! - jetzt fahre ich doch. (Als Preisfrage musste ich nur wissen, wie der Teufel im Freischütz heißt.)

 

Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ (1821) ist eine meiner Lieblingsopern. Vor zehn Jahren habe ich auf „Café Deutschland“ bereits einen Beitrag darüber gepostet.

 

De Nationale Opera hat sich als Regisseur den russischen Dissidenten Kirill Serebrennikow geholt, der gerade in Cannes seinen neuesten Film „Tschaikovsky’s Wife“ gezeigt hat. Seit Januar 2022 ist er Artist in Residence am Hamburger Thalia Theater. Dort hat er offenbar von der Regiearbeit Robert Wilsons mit Tom Waits‘ Freischütz-Version „The Black Rider“ erfahren (1990). Nun bringt er seine Version dieser kühn gespannten Kombination nach Amsterdam. 

 

Ich liebe diesen Umgang mit den alten Opern nicht besonders, aber da ich auch noch ein Fan von Tom Waits bin…

 

„Der Freischütz“, das ist: der deutsche Wald, die Welt der Jäger, die Schwarze Romantik. Und natürlich Webers herrliche Musik. Der deutsche Wald und die Jäger fallen bei Serebrennikow schon mal flach: seine Spielfläche ist die Welt der Oper selbst… Nun, auf denn!

 

Ich werde am Samstag davon berichten.