Die Stille der Welt nach Hitler
Überlegungen zu Hans Ulrich
Gumbrechts Buch „Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart“[i]
für J.d.H.[ii]
Präludium: Im
Getöse
Im August 1933
wurde der Volksempfänger VE 301 in Deutschland eingeführt, ein preiswertes
Radio, das die Stimme Hitlers bis in den letzten deutschen Haushalt tragen
sollte. In den darauf folgenden sechs Jahren bis zum Kriegsbeginn wurden
mehrere Millionen Exemplare unters Volk gebracht, die für eine weltweit
einzigartige Durchdringung des öffentlichen Raumes und aller privaten Räume des
deutschen Reiches mit den Stimmen der Herrschenden und dem ihnen
entgegengebrachten Jubel sorgte.
Die
Typenbezeichnung VE 301 verweist auf den Tag der Machtergreifung, den 30.
Januar 1933. Das schon bald als „Goebbels‘ Schnauze“ bezeichnete Gerät wurde
zum Instrument der totalen Mobilmachung, bis die grellen Stimmen von Hitler und
Goebbels im Getöse der Bomben, Kanonen und Stalinorgeln untergingen. Am 8. Mai
1945 begann schlagartig die Stille nach Hitler.
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Die Stille der
Welt nach Hitler
Die Generation
der um 1948 in Westeuropa Geborenen erreicht jetzt das Pensionsalter. Der
Zufall will es, dass sie ihre Kindheit in einer Zeit allgemeiner Stille und
Unbestimmtheit verbracht hat und das Ende ihres Arbeitslebens in einer globalen
Phase der Erinnerung und des Rückblicks und wiederum der Unbestimmtheit und der
Krisenhaftigkeit erreicht. Eigenschaften, die eigentlich eher als generelle
Merkmale eines individuellen
Lebenslaufes gelten, sind zufällig gleichzeitig überindividuelle kulturelle
Merkmale der Epoche nach 1945. Die Stille im Lande der Täter in den zwei
Jahrzehnten nach 1945, sie hatte ihr Pendant in den Ländern der Opfer. Die Erinnerungswellen
der letzten zwanzig Jahre: sie vereinen die Nachkommen der Täter mit den
Nachkommen der Opfer unter ein kulturelles Paradigma.
Die Versuchung
liegt nahe, aus der Parallelität des eigenen Lebens mit den Epochenmerkmalen
weitergehende Schlüsse ziehen zu wollen. Diesen Schritt hat jetzt der – 1948
geborene - deutsch-amerikanische Komparatist und Geschichtstheoretiker Hans
Ulrich Gumbrecht getan. In seinem Buch „Nach
1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart“ (Berlin 2012) spricht er von einer
„zurückhaltenden Stimmung in der Mitte des 20. Jahrhunderts“, die „nicht auf
Deutschland, ja nicht einmal – wie man vielleicht meinen könnte – auf die
Kriegsteilnehmerländer beschränkt gewesen“ sei (31-32).
„Ich möchte das
Wort ‚Verdrängung‘ für das, was damals vor sich ging, vermeiden. […] Die
Irritationen der Kriegsjahre wurden nicht ‚verdrängt‘, sie verschwanden
vielmehr als sie Teil einer neuen, ruhigen Welt wurden. […] Und während die
durch die irreversible Zerstörung verursachten Gefühle nachließen, begann sich
rasch ein Gefühl der Latenz durchzusetzen. […] Wenn ich von Latenz spreche
statt von ‚Verdrängung‘ oder ‚Vergessen‘ -, dann meine ich die Art von
Situation, die der niederländische Historiker Eelco Runia ‚Präsenz‘ nennt und
die er mit der Metapher des blinden Passagiers veranschaulicht“ (39).
Im Zeit-Stau
Das latent
Vorhandene ist in seiner Verborgenheit nicht ohne weiteres zu fassen und
offenbar auch nicht mit den traditionellen Methoden des Historikers zu
analysieren. Gumbrecht will dennoch den Formen der Latenz, die seit 1945 global
wirksam seien, auf die Spur kommen. Sie sind für ihn Hinweise auf den gegenüber
den letzten zwei Jahrhunderten völlig veränderten Charakter von ‚Zeit‘ und
‚Geschichte‘, in der wir uns bewegen. Um das beschreiben zu können, bedient er
sich einer Mischung aus autobiografischen Skizzen, historisch erzählenden
Kommentaren und zitierten Quellen, die vornehmlich literarischer Art sind.
Er beginnt in
Bayern mit der Süddeutschen Zeitung
vom 15. Juni 1948, lässt allerlei Berichte aus dem In- und Ausland, die dort
vermeldet werden, Revue passieren, reflektiert sie ein bisschen und geht dann
über auf ein referierendes Erzählen historischer Ereignisse, beschäftigt sich
ein paar Seiten lang mit Heideggers „Brief über den Humanismus“ und landet bei
seiner eigenen Familiengeschichte. Der 15. Juni 1948, er sagt es nicht
explizit, ist natürlich sein Geburtstag.
Die ersten
Quellenbeispiele sind bekannte literarische Texte: Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft und Samuel
Becketts Warten auf Godot,
Theaterstücke, in den es „um die Unmöglichkeit, einen Raum und eine
grundlegende existenzielle Situation zu verlassen“ geht. Oder umgekehrt in
Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür:
Beckmann kommt nicht wieder hinein. Die Beispiele werden im Laufe der Kapitel,
die die verschiedenen Formen der Latenz behandeln, erweitert, auch um Beispiele
aus Ländern, die nicht am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben. Der Zeitrahmen
geht nicht über die fünfziger Jahre hinaus.
Am Ende des
sechsten Kapitels resümiert Gumbrecht als gemeinsame Erfahrung der „Menschheit“
nach 1945, „dass es nicht mehr möglich war, irgendetwas ‚hinter sich‘ (oder ‚in
der Vergangenheit‘) zu lassen. Das daraus entstandene „Labyrinth und der Stau
sind nur eine Dimension der mutmaßlichen Stimmung, die im ersten
Nachkriegsjahrzehnt herrschte. Die andere und mit ihr verbundene Dimension ist
die bereits erwähnte – und selbst aus heutiger Sicht noch überraschende
Leichtigkeit, mit der sich die Menschheit schon bald von der Erfahrung des
Krieges und seiner Traumata zu entfernen schien“ (236).
Doch bleiben wir
bei dem Labyrinth, in dem sich die Dinge stauen beziehungsweise ohne Ausweg im
Kreis bewegen. „Diese zirkuläre Bewegung […] hat meiner Meinung nach die
Möglichkeit einer alternativen (nicht-historistischen) ‚Zeitkonstruktion‘ (oder
eines neuen ‚Chronotopen‘) gut ein halbes Jahrhundert lang eingekapselt, dieser
neue Chronotop war sozusagen ‚im Winterschlaf‘ – und erst heute, zu Anfang des
21. Jahrhunderts, kann er langsam beginnen sich zu zeigen“ (239). Die Latenz
beginnt sich zu entbergen, und so trägt das letzte Kapitel den vielverheißenden
Titel „Entbergung von Latenz? Meine Geschichte mit der Zeit“.
Es nimmt die
verquirlte Darstellungsweise des ersten Kapitels wieder auf und schildert unter
anderem die weitere Familiengeschichte, die intellektuell-wissenschaftliche
Geschichte Gumbrechts und – in wirklich sehr allgemeinen Zügen - die politische
Geschichte bis zur Gegenwart. Literarische Belege finden sich nur noch sehr
sparsam. Jean François Lyotard (La condition humaine, 1979) wird hervorgehoben:
Er „wagte als Erster die Behauptung, dass die historische Zeit zum Ende
gekommen sei“ (307). Gumbrecht meint also nichts weniger konstatieren zu müssen
als das Ende der Geschichtsauffassung, die zwischen der französischen
Revolution und 1945 geherrscht hat. Die Geschichte selbst müsse historisiert
werden.
„Die Frage, die
noch bleibt, ist die nach den Gründen für eine solche chronotopische
Veränderung – doch immer, wenn ich mir diese Frage stelle, fallen mir nur
Antworten ein, die derartig abstrakt und allgemein sind, dass sie beliebig und
banal wirken. Mögliche Gründe, die mir in den Sinn kommen, sind ‚eine
gewachsene äußere und innere Komplexität der Welt‘ oder ‚der durch die
Zerstörungskraft des Zweiten Weltkriegs verursachte Schock‘ – und dann lasse
ich es, ziemlich unbeeindruckt von meinen eigenen Lösungen, sein und überzeuge
mich selbst, dass ich froh sein kann, das Latenzgefühl der Mitte des 20.
Jahrhunderts als ersten Stau in der historischen Zeit beschrieben zu haben –
und dass sich dieser Stau als frühes Symptom der Entstehung eines neuen
Chronotopen erwies“ (307).
Die Radikalität
dieses Schlusses ist für den Leser von Gumbrechts Buch dann doch sehr
überraschend. Während die Passagen zu den fünfziger Jahren, die den Hauptteil
des Buches ausmachen, in ihrer transnationalen Darstellung mit vielen einleuchtenden
Beispielen durchaus mit Erkenntnisgewinn zu lesen sind, wird es im letzten
Kapitel einerseits richtig spannend, andererseits gleich in mehrerer Hinsicht
tief enttäuschend. Die historisch erzählenden Passagen haben wegen ihrer
Allgemeinheit seitenweise den Charakter mittelmäßiger Seminararbeiten, und der
„Beweis“ des neuen Chronotopen fällt dann doch sehr dürftig aus. Gumbrechts
Suche gleicht der nach einem Spuk, seine Funde den schemenhaften Fotos der ghostbusters.
Das Ende der
Geschichte?
Hans Ulrich
Gumbrecht gehört zur ersten Generation nach 1945. Das ist auch meine
Generation. Es ist unsere europäische Generation, deren Eltern noch das Getöse
der Bomben in den Knochen hatten. Wir wuchsen in der Stille der Welt nach
Hitler auf. 1968 erlebten wir das trügerische Gefühl, Geschichte machen zu
können. 1989 erfuhren wir verwundert, wie scheinbar aus dem Nichts große
Geschichte geschieht. 2001 nahmen wir schockiert zur Kenntnis, dass es einen
unsichtbaren und ungreifbaren Feind gibt. 2012 fühlen wir uns als hilflose Opfer
einer abstrakten Krise.
Vielleicht ist es
kein Zufall, dass Niklas Luhmann ausgerechnet im Jahr 1968 ein Buch mit dem
Titel „Vertrauen. Ein Mechanismus der
Reduktion sozialer Komplexität“[iii]
veröffentlichte. Es wird damals kaum viele Leser in der 68er Generation
gefunden haben, die ihr Vertrauen in die Institutionen gerade so gründlich
verloren hatte. Wie Gumbrecht nimmt auch Luhmann an einer Stelle das große Wort
von der „Menschheit“ und ihrer Vergangenheit in den Mund:
„Die Menschheit kann das, was sie durchlebt
hat, nicht der Vergangenheit überlassen. Sie muss es in wesentlichen Zügen sich
als ihre Geschichte laufend vergegenwärtigen, weil Geschichte ihr wichtigstes
Mittel der Reduktion von Komplexität ist. Auf diese Weise löst die
Zeitdimension in ihrem Vergangenheitsaspekt ein Problem, das eigentlich in die
Sozialdimension gehört: unerwartetes Handeln auszuschließen“ (Luhmann, Vertrauen,
17).
Sollte die
Geschichte den Historikern unter ihren Händen entglitten sein, ohne dass sie es
bemerkt hätten? Unser Fach hat längst
nicht mehr den Telos des 19. Jahrhunderts. Trotz der gewachsenen äußeren und
inneren Komplexität der Welt, trotz des Zeit-Staus, trotz der Daten-Flut haben
die Historiker das Vertrauen in die Geschichte beziehungsweise in die
Darstellbarkeit von Geschichte nicht verloren, denn dieses Vertrauen ist unter
anderem auf die Art und Funktion von Komplexitätsreduktion gegründet, wie wir
sie bei Luhmann beschrieben finden.
Unsere Gegenwart
ist breiter geworden, der Vorrat an Zukunft schmaler.[iv]
Das Arbeitsfeld des Gegenwartshistorikers ist gewachsen. „Zeitgeschichte“ war
ja in den Jahrzehnten nach 1945 in Westdeutschland nahezu ausschließlich die
Geschichte der Hitlerzeit. Heute geht es um Globalgeschichte, Weltgeschichte,
Umweltgeschichte etc., Konzepte, die in den weltoffenen Niederlanden bereits
viel früher als in Deutschland entwickelt oder angewandt wurden. Die neue
Komplexität hat zu vielerlei Experimenten mit alternativen Formen von
Geschichtsschreibung geführt. In diesem Zusammenhang darf Gumbrechts Buch einen
Vertrauensvorschuss erhalten. Es lässt sich durchaus mit Gewinn lesen. Aber
verdient es unser Vertrauen am Ende auch?„Die Anleitung des Erlebens durch Konstitution von Sinn und Welt zur Erfassung komplexer Daseinsbedingungen ist eine intersubjektive Leistung“ (Luhmann, Vertrauen 15).
Der primadonnenhafte Intellektuelle Gumbrecht führt am Ende seines Buches seitenlang Personen auf, mit denen er über seine Gedanken im Gespräch war, und er charakterisiert kurz ihre Reaktionen. Gerade das weckt jedoch mein Misstrauen. Ein Buch zu schreiben, das die eigene Lebens- und Bildungsgeschichte mit der großen Weltgeschichte verquirlt, ist schon ein beispielloser narzisstischer Akt. Gumbrecht fehlt die Nüchternheit und das Vertrauen des Historikers zur Geschichte.
Viele
Altachtundsechziger haben die Kurve noch gekriegt (und auch ihren Luhmann dann
noch gelesen). Ich kenne ein paar, und wir feiern heute einen von ihnen. Er ist
ein Historiker unseres Vertrauens. Historiker können pensioniert werden, die
Geschichte nicht.
[i] Hans Ulrich Gumbrecht, Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart,
Berlin 2012
[ii] Dieser Artikel wurde für eine
Festschrift anlässlich der Pensionierung eines Kollegen geschrieben.
[iii] Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität,
Stuttgart 1968
[iv] Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010
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