Clemens Setz, Indigo (05): Das Wesen der Ferne – Ein trostloses Meisterwerk
Neben den
zahllosen Gesprächen besteht der Roman Indigo
aus vielen zwischendurch eingestreuten kurzen Texten, die reale oder fiktive
Zitate aus literarischen Werken und Sachbüchern sind. Eine Haupt“quelle“ dieser
Texte ist das von Setz erfundene Buch „Das Wesen der Ferne“ der „Kinderpsychologin
und Pädagogin Monika Häusler-Zinnbret“. Gleich im ersten Kapitel besucht der
Protagonist Setz Frau Häusler in ihrer Wohnung in Graz, um mit ihr über die
Indigo-Kinder zu sprechen, ein Gespräch, nach dem der Leser so schlau ist wie
zuvor.
Die Zitate aus „Das
Wesen der Ferne“ betreffen (mit einer Ausnahme) real existierende Dinge, die
auch jeweils mit einem Foto dokumentiert werden: die Leninbüste „auf dem sog.
Südlichen Pol der Unzugänglichkeit, dem geographisch am weitesten von der Küstenlinie
entfernten Punkt der Antarktis“ (62), den einsamsten Baum aller Zeiten in der
Wüste Ténéré (167), die einsamste Telefonzelle aller Zeiten in der Mojave-Wüste (339),
einen der letzten „Tatzelwürmer“ in Österreich (367), die kleine Keramikplatte
mit Werken von sechs Künstlern, die als „Moon Museum“ am Landebein der Mondfähre
von 1969 befestigt ist (443).
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Belka während des
Flugs
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Diese Texte
stehen meist unkommentiert für sich (als Dokumente der beiden „Mappen“),
manchmal wird in den Gesprächen ein Zusammenhang mit den Indigo-Kindern
suggeriert. Dort kommen auch weitere, strukturähnliche kleine Geschichten aus
der Realität vor, zum Beispiel die von den beiden Hunden Belka und Strelka, die
1960 mit dem Sputnik 5 ins All geflogen waren und lebend, aber verstört zur Erde
zurückkehrten (155). An anderer Stelle ist die Rede von einer „Postkarte, die
einen fröhlich lächelnden Hund in einer Raumkapsel zeigt“ (455). Dabei geht es
um Laika, den ersten Hund im Weltraum, der allerdings nicht lebend zurückkam. Gemeinsam
sind all diesen Geschichten der Eindruck von Trostlosigkeit und Angst, der von
ihnen ausgeht – sowie die Vertuschungsversuche, die von allen Seiten
unternommen werden.
Der Zusammenhang
mit den Indigo-Kindern betrifft die Kategorien Einsamkeit und Entfernung. Auf
abstrakter Ebene wird von Anfang des Romans an hierfür das Schema der Quincunx
angeboten, das auf Seite 22 zum ersten Mal erwähnt wird und sogar ein eigenes
Kapitel erhält (189-198). Die Urform der Quincunx ist die Äquidistanz der fünf
Punkte auf dem Spielwürfel. Das Schema lässt sich auf beliebig viele Punkte
ausweiten (Abbildung Seite 196), und es ist die Aufstellung, die die Indigo-Kinder
von Helianau auf dem Schulhof im sogenannten „Zonenspiel“ (211-213) einnehmen.
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Abbildung aus dem Roman |
Kurz gesagt: Die
Indigo-Kinder sind wir. Setz‘ Roman
ist eine postmodern erscheinende Kompilation zum Phänomen der zunehmenden Einsamkeit
des Menschen in der Gegenwart und seiner Entfernung vom Nächsten. Dies betrifft
insbesondere die nach 1990 Geborenen. Ein Zusammenhang mit der gleichzeitig
stattfindenden Kommunikationsrevolution von Internet und Mobiltelefonen liegt
nahe (vgl. die häufig genannten „iBalls“ in Indigo).
Insofern können wir auch vom Versuch einer Theorie der Gegenwart in Form eines
Sprachkunstwerks reden. Von den spielerischen Romanen der Postmoderne
unterscheidet sich Indigo durch seine
Ernsthaftigkeit und Trostlosigkeit.
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