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Donnerstag, 5. Juli 2012

Lesen. Zittern oder: Warum ich einmal die deutsche Literatur links liegen ließ

Letztens fragte D.K. ihre Facebook-Freunde nach ihrem Lieblingsroman von John Updike. Daraufhin wurde von mehreren Lesern und auch von D.K. selbst „Couples“ genannt, der auch bei mir ganz oben steht. Ich verehre Updike, und immer wenn mir die deutschen Romane mal wieder zu abstrakt, zu kopflastig oder schlichtweg zu langweilig werden, greife ich gern, auch zum zweiten oder dritten Mal, nach einem Updike-Roman. So auch in der folgenden, mit etwas ganz anderem beginnenden Geschichte aus dem Jahr 2010, die aus meinem alten und leider nicht mehr zugänglichen Blog stammt:

Gerard ist unser Retter. Gerard war vor zwanzig Jahren ein bekannter niederländischer Schwimmer und sein Körper strahlt noch die athletische Kraft von damals aus. Er hat ein etwas kantiges Gesicht und lacht gerne. Irgendwie wirkt er ein bisschen wie aus einer Phantasiewelt. Er könnte der Darsteller einer Comicfigur sein, eines freundlichen Superhelden. In der belgischen Comicserie Suske und Wiske, die in den Niederlanden einen Riesenerfolg gehabt hat, gibt es die Figur des obelixhaften Jerom, liebevoll auch Jerommeke genannt. Jerom ist zeitweise auch eine eigene Comicserie gewesen, die in Deutschland unter dem Namen Wastl gelaufen ist. Gerard ist wie Jerom.

Gerard, unser Handwerker, ist ein Künstler im Umgang mit Holz und allen anderen Dingen, aus denen ein Haus gemacht ist. Und bei altem, verrottendem Holz ist er ein Arzt und Chirurg, der die kranken Stellen fachkundig erkennt, heilt und restauriert.
Während Gerard-Jerom auf diese Weise unseren alten Balkon behandelte, wurden wir an Himmelfahrt mit einem akuten Leck im Heizungssystem konfrontiert. Da der Meister im Hause war, konnte Schlimmeres vermieden werden. Das Leck befand sich an einer sehr unzugänglichen Stelle. Gerard sägte an zwei Stellen die Wände auf, dadurch eröffneten sich Einblicke in die geheimnisvollen Höllenschlünde unseres alten Hauses mit fauchenden und spritzenden Leitungen, die sich in unergründliche Dunkelheiten zu entziehen versuchten und uns dabei mit stetem Wasserfluss in Panik hielten. Gerard zähmte sie zunächst durch Entzug des Nachschubs. Die Kur traf allerdings auch uns: Eine Nacht und einen Tag lang verharrten wir in der Kälte, die trotz des Maienmonds das Haus umfing und in uns eindrang. Zitternd zogen wir uns unter Decken zurück und griffen zwecks Ablenkung und erhofftem Trost zu Büchern, um lesend dem Ungemach zumindest geistig zu entkommen.

Für mich lag der Roman Der Mann schläft von Sibylle Berg bereit. Der Titel drängte sich mir geradezu auf in einer Situation, in der außer Liegen, Warten, Lesen und Schlafen nicht viel möglich war. Dieses merkwürdige Buch jedoch begann sich nach wenigen Seiten in mich einzufressen, in denen die weibliche Hauptfigur am Vergehen der Zeit, an unendlichen, nicht vorübergehen wollenden Urlaubstagen und an ihrer Beziehungslosigkeit und –oberflächlichkeit zu leiden und immer nur zu leiden hatte. Die weibliche Erfahrung des Alterns wird in gnadenloser sibyllinischer Negativität an den Leser weitergegeben; kein Hauch menschlicher Wärme erleichterte mein lesendes Dasein, Ironie gab es zwar, doch auch sie war von eisiger Kälte. Nach dreißig Seiten konnte ich nicht mehr und legte das Buch zitternd zur Seite.
Ich ging zum Bücherschrank, ließ die deutsche Literatur links liegen und wandte mich den Amerikanern zu. In den letzten Monaten hatte ich zwei der Rabbit-Romane von John Updike wiedergelesen und einige seiner neueren angeschafft, aber mein Blick blieb am Anfang der Reihe hängen: dort stand ein kleines unscheinbares Buch, auf schlechtem Papier gedruckt, vom ehrenwerten DDR-Verlag Volk und Welt: Der Zentaur, (The Centaur) Updikes zweiter Roman aus dem Jahr 1963; ich hatte ihn nie gelesen.

Und so tauchte ich ein in die Welt des Lehrers Cauldwell; schon bald war deutlich, dass es um die letzten drei Tage im Leben der Hauptfigur gehen würde, um Sterben und Tod also, aber wie anders, wie menschlich, wie überaus humorvoll ging es hier zu. Und wie überaus merkwürdig: die Figur Cauldwell changiert zwischen dem amerikanischen Highschool-Lehrer und dem Zentauren Cheiron aus der griechischen Mythologie. Die Erzählung beginnt höchst befremdlich damit, dass dem Lehrer beim Unterricht ein Stahlpfeil in die Ferse geschossen wird, woraufhin er blind vor Schmerz aus dem Klassenzimmer flieht. Der antike Cheiron erlitt die gleiche Verletzung durch einen vergifteten Pfeil und musste seine Heilung mit dem Verlust des ewigen Lebens erkaufen.



Cauldwell ist Cheiron. Solch einen Plot hätte ich für unrealisierbar erklärt, aber der Zaubersprache Updikes gelingen die Übergänge und Verbindungen zwischen amerikanischem Kleinstadtleben und griechischer Mythenwelt auf unerklärliche und faszinierende Weise. Sie ist durchzogen von einer witzigen Menschenfreundlichkeit, einer väterlichen Liebe und wörtergebärenden Vielfalt, die mich in ihren Bann gezogen haben: welch ein Roman, welch ein Schriftsteller!

Cheiron war ein Weiser, Lehrer vieler griechischer Helden. Cauldwell hasst seinen Beruf, obwohl ihn die Schüler lieben; er widmet sich ganz seinem Sohn Peter, dessen Figur autobiographische Züge von John Updike hat. Das Buch erzählt aus beiden Perspektiven; es spielt im Winter, „Frostfarne“ wachsen an den Fensterrändern, Cauldwells Auto versagt nach dem Termin für die todesverkündenden Röntgenaufnahmen, und Vater und Sohn stehen frierend in der pennsylvanischen Nacht, doch der Vater regelt ein Hotelzimmer und eilt wieder davon, um die Dinge zu regeln. Der Sohn steht nackt und allein am Fenster, schaut auf die wirren Lichtreklamen, friert und kriecht zwischen die klammen Laken. Ich zittre mit, vor Kälte – und vor Ehrfurcht.

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