Gerard ist unser Retter. Gerard war vor zwanzig Jahren ein bekannter niederländischer Schwimmer und sein Körper strahlt noch die athletische Kraft von damals aus. Er hat ein etwas kantiges Gesicht und lacht gerne. Irgendwie wirkt er ein bisschen wie aus einer Phantasiewelt. Er könnte der Darsteller einer Comicfigur sein, eines freundlichen Superhelden. In der belgischen Comicserie Suske und Wiske, die in den Niederlanden einen Riesenerfolg gehabt hat, gibt es die Figur des obelixhaften Jerom, liebevoll auch Jerommeke genannt. Jerom ist zeitweise auch eine eigene Comicserie gewesen, die in Deutschland unter dem Namen Wastl gelaufen ist. Gerard ist wie Jerom.
Gerard, unser
Handwerker, ist ein Künstler im Umgang mit Holz und allen anderen Dingen, aus
denen ein Haus gemacht ist. Und bei altem, verrottendem Holz ist er ein Arzt
und Chirurg, der die kranken Stellen fachkundig erkennt, heilt und restauriert.
Während
Gerard-Jerom auf diese Weise unseren alten Balkon behandelte, wurden wir an
Himmelfahrt mit einem akuten Leck im Heizungssystem konfrontiert. Da der
Meister im Hause war, konnte Schlimmeres vermieden werden. Das Leck befand sich
an einer sehr unzugänglichen Stelle. Gerard sägte an zwei Stellen die Wände auf,
dadurch eröffneten sich Einblicke in die geheimnisvollen Höllenschlünde unseres
alten Hauses mit fauchenden und spritzenden Leitungen, die sich in
unergründliche Dunkelheiten zu entziehen versuchten und uns dabei mit stetem
Wasserfluss in Panik hielten. Gerard zähmte sie zunächst durch Entzug des
Nachschubs. Die Kur traf allerdings auch uns: Eine Nacht und einen Tag lang
verharrten wir in der Kälte, die trotz des Maienmonds das Haus umfing und in
uns eindrang. Zitternd zogen wir uns unter Decken zurück und griffen zwecks
Ablenkung und erhofftem Trost zu Büchern, um lesend dem Ungemach zumindest
geistig zu entkommen.
Für mich lag der
Roman Der Mann schläft von Sibylle
Berg bereit. Der Titel drängte sich mir geradezu auf in einer Situation, in der
außer Liegen, Warten, Lesen und Schlafen nicht viel möglich war. Dieses
merkwürdige Buch jedoch begann sich nach wenigen Seiten in mich einzufressen,
in denen die weibliche Hauptfigur am Vergehen der Zeit, an unendlichen, nicht
vorübergehen wollenden Urlaubstagen und an ihrer Beziehungslosigkeit und
–oberflächlichkeit zu leiden und immer nur zu leiden hatte. Die weibliche Erfahrung
des Alterns wird in gnadenloser sibyllinischer Negativität an den Leser
weitergegeben; kein Hauch menschlicher Wärme erleichterte mein lesendes Dasein,
Ironie gab es zwar, doch auch sie war von eisiger Kälte. Nach dreißig Seiten
konnte ich nicht mehr und legte das Buch zitternd zur Seite.
Ich ging zum
Bücherschrank, ließ die deutsche Literatur links liegen und wandte mich den
Amerikanern zu. In den letzten Monaten hatte ich zwei der Rabbit-Romane von
John Updike wiedergelesen und einige seiner neueren angeschafft, aber mein
Blick blieb am Anfang der Reihe hängen: dort stand ein kleines unscheinbares
Buch, auf schlechtem Papier gedruckt, vom ehrenwerten DDR-Verlag Volk und Welt: Der Zentaur, (The Centaur)
Updikes zweiter Roman aus dem Jahr 1963; ich hatte ihn nie gelesen.
Und so tauchte
ich ein in die Welt des Lehrers Cauldwell; schon bald war deutlich, dass es um die
letzten drei Tage im Leben der Hauptfigur gehen würde, um Sterben und Tod also,
aber wie anders, wie menschlich, wie überaus humorvoll ging es hier zu. Und wie
überaus merkwürdig: die Figur Cauldwell changiert zwischen dem amerikanischen
Highschool-Lehrer und dem Zentauren Cheiron aus der griechischen Mythologie.
Die Erzählung beginnt höchst befremdlich damit, dass dem Lehrer beim Unterricht
ein Stahlpfeil in die Ferse geschossen wird, woraufhin er blind vor Schmerz aus
dem Klassenzimmer flieht. Der antike Cheiron erlitt die gleiche Verletzung
durch einen vergifteten Pfeil und musste seine Heilung mit dem Verlust des
ewigen Lebens erkaufen.
Cauldwell ist Cheiron. Solch einen Plot hätte ich für unrealisierbar erklärt, aber der Zaubersprache Updikes gelingen die Übergänge und Verbindungen zwischen amerikanischem Kleinstadtleben und griechischer Mythenwelt auf unerklärliche und faszinierende Weise. Sie ist durchzogen von einer witzigen Menschenfreundlichkeit, einer väterlichen Liebe und wörtergebärenden Vielfalt, die mich in ihren Bann gezogen haben: welch ein Roman, welch ein Schriftsteller!
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