‚Mit den Tillergirls hat es begonnen. Diese
Produkte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken sind keine einzelnen Mädchen
mehr, sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische
Demonstrationen sind. Während sie sich in den Revuen zu Figuren verdichten,
ereignen sich auf australischem und indischen Boden, von Amerika zu schweigen,
in immer demselben dichtgefüllten Stadion Darbietungen von gleicher
geometrischer Genauigkeit. Das kleinste Örtchen, in das sie noch gar nicht gedrungen
sind, wird durch die Filmwochenschau über sie unterrichtet. Ein Blick auf die
Leinwand belehrt, dass die Ornamente aus Tausenden von Körpern bestehen,
Körpern in Badehosen ohne Geschlecht. Der Regelmäßigkeit ihrer Muster jubelt
die durch die Tribünen gegliederte Menge zu.‘
Siegfried
Kracauer, Das Ornament der Masse,
Frankfurt am Main 1977, 50-63
Die Europäer der
zwanziger Jahre beschäftigten sich obsessiv mit dem Thema der Massen. Die
intellektuelle Elite hatte Angst vor der Masse, Angst vor der erwarteten
Überbevölkerung. Der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution hatten
vorgeführt, was aggressive Massen bewirken können. Die Kulturbürger suchten
tieferschrocken nach Erklärungen und Rezepten zur Kontrolle der kulturlosen Massen.
Kracauer stellt das
Phänomen des ornamentalen Kollektivkörpers in einen Zusammenhang mit dem
kapitalistischen Produktionsprozess. „Den Beinen der Tillergirls entsprechen
die Hände in der Fabrik.“ Vielleicht konnte es ihm 1927 noch nicht auffallen,
dass alle drei großen Ideologien der zwanziger und dreißiger Jahre in ihren
ästhetischen Produkten die Masse als Ornament vorführten: nicht nur der
amerikanische Kapitalismus, sondern auch der sowjetische Kommunismus und der deutsche
Nationalsozialismus. Und da geht es um Macht: Den Händen in der Fabrik entsprechen die Hände am Gewehr.
Alle drei politisch-ideologischen
Systeme, die in diesen Jahrzehnten miteinander konkurrierten und schließlich
durch den deutschen Faschismus in die Weltkatastrophe gejagt wurden, gebrauchten
Körperbilder und ornamentale Strukturen in Massenszenen, die sich verblüffend
ähneln. Die romantisierte Lebenswelt der amerikanischen Kavalleriesoldaten in
John Fords Western der dreißiger bis fünfziger Jahre präsentiert sich uns in vergleichbaren
Bilder- und Männerwelten wie in Leni Riefenstahls Wehrmachtsfilm von 1935 (Tag der Freiheit – Unsere Wehrmacht).
Ich habe diese Ähnlichkeit nirgendwo in der Literatur thematisiert gesehen. Um sie feststellen zu können, muss man beide Bilderwelten gesehen haben und die Ähnlichkeit zunächst einmal konstatieren. Und wenn man sie nicht akzeptieren will, muss man sich klarmachen, worin Fords Nähe zu Riefenstahl besteht und was bei Riefenstahl so entsetzlich über Ford hinausgeht. Die Augen schließen hilft nicht.
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